Der Schattendoktor. Adrian Plass

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Der Schattendoktor - Adrian Plass


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frühen Abendessen in mein Lieblings-Thai-Restaurant am neuen Jachthafen ausgeführt. Ich weiß nicht mehr genau, was wir bestellt haben, nur noch, dass ich auf jeden Fall diese köstlichen Schmetterlings-Garnelen hatte, die dort immer so lecker sind. Mir läuft schon beim Schreiben das Wasser im Mund zusammen.

       Was haben wir außer essen in dem Restaurant gemacht? Ach ja. Wir sind einem unserer Lieblingshobbys nachgegangen. Wir haben versucht, die Serienmörder unter den anderen Gästen zu erkennen, stimmt’s? Es gab da einen oder zwei vielversprechende Kandidaten, meine ich mich zu erinnern, besonders diesen Mann, der ganz allein am übernächsten Tisch saß. Er hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl, den Unterkiefer nach vorn geschoben, und schwenkte mit finsterer, räuberischer Miene seinen großen Kopf hin und her wie eine Rübe auf einem Stecken. Er kundschaftete wohl potenzielle Opfer aus, vermuteten wir. Doch dann kamen seine hübsche Frau und seine beiden fröhlichen Kinder herein und verdarben uns alles, indem sie ihn wie durch Zauberei in einen sympathischen, heiteren, freundlichen Menschen verwandelten, der schlechte Witze erzählte und offensichtlich von seiner Familie sehr geliebt wurde. Was für eine Enttäuschung! Dass die uns auch so den Spaß verderben mussten. Manche Leute nehmen einfach keine Rücksicht auf andere, nicht wahr? Wenn man schon wie ein Serienmörder aussieht, dann sollte man gefälligst auch einer sein. Oder aber sich mehr Mühe geben, eine positive Ausstrahlung zu haben. Das ist meine Meinung.

       Wir hatten einen herrlichen Abend, Jack. Du wolltest unbedingt die Rechnung übernehmen, und ich bin natürlich eine sehr angenehme Gesellschaft. So waren wir beide zufrieden.

       Es gab nur einen Moment, der ein bisschen querlief. Weißt Du noch, wie wir mit thailändischem Bier auf Deine Mutter und Deinen Vater angestoßen haben? Das war kein Problem, aber dann sagte ich etwas Unbedachtes:

       »Hoffen wir, dass sie glücklich sind, wo immer sie jetzt sein mögen.«

       Oder so etwas Ähnliches. Darauf trat ein klammes, furchtbares Schweigen ein, und es wurde sehr unbehaglich. Natürlich wusste ich, warum. Weder Du noch ich werden wohl je diesen abgrundtief scheußlichen Moment vergessen, als Du mich fragtest, warum ich mich offenbar nie sonderlich für das interessiere, woran Du glaubst – für Deine Hingabe ans Christentum.

       Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass mir an jenem Tag der Mut fehlte, Jack. Meine Antwort auf Deine Frage war jämmerlich und nur zur Hälfte wahr. Ich glaube, ich sagte etwas in dem Sinn, ich fände keine Substanz in dem, was Du darüber sagtest oder wie Du darüber redetest, oder so etwas Ähnliches. Seither haben wir, wie Du weißt, den Kopf eingezogen, wann immer das Gespräch auch nur annähernd auf dieses Thema kam. Vielleicht war es nur ein ganz kleiner Elefant, aber er versteckte sich immer irgendwo im Zimmer. Und wahrscheinlich hast Du auch gemerkt, dass solche Viecher paradoxerweise immer größer werden, je weniger man sie füttert. Ich glaube, in dem Thai-Restaurant damals haben wir beide das Stampfen schwerer Füße gehört. Mich hat das sehr traurig gemacht.

       Ich fürchte, das hier wird ein ziemlich langer Brief, aber ich muss ihn Dir aus zwei Gründen schreiben. Erstens will ich versuchen, es wiedergutzumachen, dass ich so wenig hilfreich und so feige war. Ich will Dir endlich erklären, was ich mit meiner völlig unzulänglichen Antwort damals gemeint habe. Und den zweiten Grund wirst Du vielleicht sehr seltsam und verschroben finden. Er hat mit etwas zu tun, was mir passiert ist, mit einem Erlebnis, das ich nie erwartet hätte. Ich kann mit Etiketten nicht viel anfangen und finde wirklich keine Worte, um zu erklären, wovon ich gerade spreche, also lasse ich es lieber. Sagen wir einfach, es hatte mit der Geburt (ein besseres Wort fällt mir nicht ein) von etwas Neuem zu tun. Vielleicht würdest Du es Glauben nennen. Nahegebracht hat es mir der Mann, von dem ich Dir in diesem Brief erzählen will. Im Zusammenhang mit ihm möchte ich Dir etwas vorschlagen, was Du vielleicht tun solltest.

       Also, zuerst: Was habe ich Dir über die Art und Weise, wie Du zu mir von Deinem Glauben gesprochen hast, sagen wollen? Ach je, das ist nicht einfach. Ich muss es wohl einfach denken, fühlen und dann zu Papier bringen. Geh nicht weg.

       Okay, ich bin wieder da. Ich habe nachgedacht und nachgefühlt, und jetzt bleibt nur noch eins zu tun. Also los. Ich hatte, wenn Du in meine Richtung über den Glauben gesprochen hast, immer das deutliche Gefühl, dass ich an dem Gespräch eigentlich gar nicht beteiligt war. Mir kam es so vor, als ob Du nur mit Dir selbst redetest statt mit mir. Mich wolltest Du nur an Bord haben, damit ich Dir irgendwie bei der Hauptaufgabe helfe, nämlich Dich selbst davon zu überzeugen, dass Du an das glaubst, was Du da sagst. Das hat mich nicht nur verwirrt. Es hat mich auch traurig gemacht. Wie warst Du nur in diese enge Gefängniszelle aus Furcht und Verwirrung geraten, in der Du immerzu hin und her tigern und laut von der tollen Freiheit erzählen musstest, die Du gefunden hattest und die alle anderen auch brauchten? Das ergab alles keinen Sinn, aber mit angstgetriebener Leidenschaft lässt sich nicht streiten. Also kniff ich. Ich hätte mich ja auch dahinterklemmen und richtig darüber nachdenken und es versuchen können. Aber das habe ich nicht, und das tut mir leid. Ich wollte es einfach nicht aufs Spiel setzen, das mit uns. Ich wollte, dass wir beide so weitermachen wie immer. Ich hoffe, lieber Jack, Du hast wie ich das Gefühl, dass uns das im Großen und Ganzen gelungen ist. Aber ich weiß natürlich genau, dass der Schatten immer da war. Bis jetzt, hoffe ich. Es tut mir wirklich leid, Jack. Bitte vergib mir.

       Und mit dem Stichwort Schatten komme ich zu dem zweiten Grund, warum ich diesen Brief schreibe. Ich möchte Dir von etwas erzählen, was mir letztes Jahr passiert ist. Ein paar Dinge in dieser Geschichte sind merkwürdig und für mich einigermaßen peinlich. Du bist erst der zweite Mensch, der von meinem schrecklichen Geheimnis erfährt. Ich fürchte, Du wirst auch ein bisschen bestürzt darüber sein. Oh ja. Ich glaube, ich höre jetzt lieber auf und setze mich morgen früh wieder dran.

       Da bin ich wieder. Das Frühstück ist abgeräumt, die Sonne strahlt immer noch, und ich habe keine Ausrede, es vor mir herzuschieben. Also los.

       Es war Januar. Du weißt ja, wie es einem im Januar manchmal gehen kann, Jack. Das ist wie so ein Langstreckenflug. Ich habe das nur einmal gemacht, als ich mit William seinen älteren Bruder in Australien besucht habe. Ich weiß noch, wie wir am Flughafen Gatwick in die Qantas-Maschine stiegen und die Kante des Vordersitzes ganz leicht mein Knie berührte. Überhaupt nicht unangenehm, weißt Du. Nur ein ganz leichter Druck. Aber als wir auf dem Flughafen Changi in Singapur zu unserer vierstündigen »Pause« zwischenlandeten, hatte sich diese harmlose Sitzkante in einen rotglühenden Metallspieß verwandelt, der sich in mein Bein bohrte, als wollte er nach Öl suchen. Ich weiß nichts mehr von Changi, außer, wie riesig der Flughafen war und was für ein herrliches Gefühl es war, von dieser gewaltsamen Attacke auf meinen eingepferchten Körper befreit zu sein. Für William war es natürlich noch schlimmer. Er war ja viel größer und dicker als ich. Aber er beklagte sich kaum. So ein Flegel, mir das ganze Jammern allein zu überlassen. Der alte Egoist.

       Jedenfalls empfinde ich den Monat Januar genauso, und ganz besonders diesen Januar im letzten Jahr. Du weißt ja, wie sehr ich Deinen Großvater geliebt habe und wie schwer es mir fiel, mich einer Zukunft ohne ihn zu stellen oder sie mir auch nur vorzustellen. Trauer ist etwas Furchtbares, Jack. Du hast es ja selbst erlebt und weißt, wovon ich rede. Ich glaube, wir haben unsere Trauer über den Tod Deines Vaters jeder auf seine Weise durchlebt, aber wir kamen gut miteinander aus, mit unserem Schweigen wie auch mit dem, was wir sagten. Es war für uns beide die richtige Art und Weise, und es funktionierte. Irgendwie haben wir es überlebt, oder?

       Aber weißt Du, Trauer geht nie ganz weg. Wir lernen wohl, unser Leben ein bisschen besser zu steuern, einfach über die Runden zu kommen, einfach in den Laden an der Ecke zu gehen und eine Dose Bohnen und einen Laib Brot zu kaufen. Aber das riesige Ungeheuer mit den scharfen Zähnen lauert immerzu irgendwo hinter einem Baum oder hinter der nächsten Ecke, um uns anzuspringen und zu packen und uns daran zu erinnern, dass tief im Innern der Schmerz in Wirklichkeit nie weniger geworden ist.

       Trotzdem war ich Ende Dezember sehr zufrieden mit mir. Statt über Weihnachten zu Hause zu sitzen und niedergeschlagen zu sein, hatte ich alle möglichen konstruktiven Pläne für Besuche bei und von Leuten gemacht, die ich


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