Der Schattendoktor. Adrian Plass

Читать онлайн книгу.

Der Schattendoktor - Adrian Plass


Скачать книгу
Als ich das sagte, wandte er den Kopf langsam in meine Richtung. Obwohl ich keine Einzelheiten in seinem Gesicht erkennen konnte, begann meine Furcht von diesem Moment an zu verfliegen. Keine Ahnung, warum. Ich weiß nur, dass der Haarkranz um seinen Kopf … eine gute Form hatte. Ich weiß, jetzt lachst du mich bestimmt aus, Jack. Lach nur, aber es war so. Er hatte eine ausgesprochen gute Form.

       »Überhaupt nicht«, sagte er. »Es ist ein Vergnügen, etwas Gesellschaft zu haben. Es tut immer gut, einen anständigen Sturm mit anderen zu teilen.«

       Seine Stimme, Jack. Voll, warm, beruhigend. Die Stimme eines gereiften Mannes, schätzte ich. Vielleicht Mitte sechzig. Ich hatte es ja schon immer mit Stimmen. William hatte eine wunderschöne Stimme, es sei denn, er war sauer und brüllte. Die Stimme dieses Mannes lud mich ein, dazuzugehören. Sie deutete an, dass ich bereits dazugehörte. Wir waren eine Gemeinschaft. Hört sich das lachhaft an? Ist es auch. Aber es war so. Wie schafft man das mit ein paar Worten? Ich seufze, während ich dies schreibe.

       »Sind Sie von hier?«, fragte ich.

       »Eigentlich nicht«, erwiderte er. »Ich habe das Glück, ein kleines Landhäuschen zu besitzen, ein paar Meilen von Wadhurst entfernt, ungefähr zwischen Hastings und Tunbridge Wells. Und Sie?

       »Also, ich – ach, wissen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich etwas näher rücke, damit ich nicht so brüllen muss?«

       »Warten Sie, ich rücke hinüber.«

       Das hätte ein bisschen beunruhigend sein können, nicht wahr, Jack? War es aber nicht. Er rutschte ein paar Handbreit näher, lehnte sich auf der Bank zurück und streckte seine Beine vor sich aus.

       »Besser?«

       »Viel besser, danke. Ich habe eine Wohnung drüben auf der anderen Straßenseite, nur ein kleines Stück von hier. Eine sogenannte Gartenwohnung. Ein winziger Garten. Keine Treppen. Ich kann ein paar Schritte gehen. Es war ziemlich anstrengend für mich, jetzt hier herunterzuhumpeln. Aber Treppensteigen ist nichts mehr für mich.«

       Er nickte langsam, sagte aber nichts mehr. Also beschloss ich weiterzureden:

       »Dann sind Sie geschäftlich in Eastbourne? Oder besuchen Sie jemanden?«

       »Weder noch. Ich mache hier Urlaub.« Er deutete mit einer Hand über seine Schulter nach hinten. »Eine Woche im Sheldon am Burlington Place. Sehr schönes Frühstück. Die bereiten es dort so zu, als wollten sie es selbst essen. Und das Wichtigste, der Kaffee ist gut.«

       Ich überlegte.

       »Sie machen im Januar in Eastbourne Urlaub? Haben Sie Familie oder Freunde hier?«

       Er schmunzelte.

       »Nein, auch das nicht – außer Ihnen, hoffe ich. Sie scheinen sehr nett zu sein. Ich war noch nie in Eastbourne. Und was den Urlaub im Januar angeht – nun ja. Ich habe wohl eine Schwäche für trübes Wetter. Hat wahrscheinlich damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin. Wir alle vermissen hin und wieder auch das Trostlose. Ist das Nostalgie? Nein, nicht nur. Eine Rückkehr zu den Wurzeln vielleicht? Was auch immer, im Winter am Meer zu sein ist in einem solchen Fall genau das Richtige, finden Sie nicht? Wobei ich zugegebenermaßen ein erbärmlicher Schummler bin. Ich stehe nur zeitweise auf trübes Wetter. Im Sheldon ist es gemütlich warm, und die Handtücher sind dick und flauschig. Jede Menge brühheißes Wasser. Da lohnt sich ein Spaziergang im Sturm allein für das Vergnügen, wieder zurückzukommen.«

       »Dann fiel Ihre Wahl rein zufällig auf Eastbourne?«

       »Zufällig? Nein, überhaupt nicht. Ein Freund hat es mir empfohlen. Mein Freund George. Er kommt öfter hierher.«

       Einen Moment lang kam es mir so vor, als ob er in der Dunkelheit mein Gesicht musterte.

       »Erzählen Sie mir etwas von sich. Sie haben völlig recht. Es ist ein bisschen seltsam, im Winter Urlaub am Meer zu machen. Aber nicht so seltsam wie das, was Sie gerade getan haben. Was war so wichtig, dass Sie sich durch dieses scheußliche Wetter bis hierher durchgekämpft haben? Auf diesen mörderischen Stufen da oben hätten Sie leicht Schiffbruch erleiden können. Und niemand hätte es gemerkt. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Es ist ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Aber für diese Expedition muss es doch bestimmt einen sehr guten Grund gegeben haben.«

       Da habe ich ein bisschen die Nerven verloren, Jack. Ich war völlig baff, oder wie auch immer man das heutzutage ausdrückt. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Also flunkerte ich. Ich sagte das, wovon ich mir wünschte, dass es die Wahrheit wäre.

       »Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich habe den ganzen Tag über drinnen gehockt. Da wollte ich mich vor dem Abendessen noch ein bisschen durchpusten lassen und habe es meinem Mann überlassen, das Essen fertig zu machen, und bin einfach – herausgekommen. Er sagte zwar, ich solle lieber nicht gehen, aber ich fürchte, ich bin ein ziemlicher Sturkopf. Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie scheußlich es hier draußen ist. Als ich dann beim Musikpavillon ankam, beschloss ich, mich hier erst einmal ein paar Minuten lang unterzustellen, bevor ich mich auf den Rückweg durch Regen und Wind mache. Und wo wir gerade davon sprechen …« Ich hob mein linkes Handgelenk und starrte lächerlicherweise in die Richtung meiner nicht vorhandenen Armbanduhr. »Ich muss dann mal los. William wundert sich bestimmt schon, wo ich bleibe.«

       »William.«

       »William ist mein Mann.«

       »Ich glaube, der Wind hat sich ein bisschen gelegt. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten und ein bisschen helfen, wieder hinauf auf die Straße zu kommen?«

       »Oh! Oh. Ja. Vielen Dank. Ja. Ich bedanke mich herzlich …«

       »Verraten Sie mir Ihren Namen?«

       »Ich heiße Alice. Und Sie?«

       »Doc. Sie können mich Doc nennen.«

      Jack legte das A4-Blatt neben seine Kaffeetasse auf den Tisch und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Er brauchte ein paar Augenblicke, um seine Empfindungen über das, was er erfahren hatte, zu sortieren. Alices Versuch, ihre Haltung zu seinem Glauben zu erklären, hatte ihn erschüttert. Wie hatte sie noch geschrieben?

      »Du bist ein Schatz, was immer Du auch glaubst …«

      Was sollte das heißen? Was für einen Reim sollte er sich darauf machen?

      Doch vor allem die Nachricht, dass seine Großmutter ihrem Leben ein Ende hatte machen wollen und aus irgendeinem Grund bei ihm keine Hilfe gesucht hatte, traf ihn tief und erschreckte ihn auf einer sehr elementaren Ebene. Jack hatte sich nie mit der wortlosen, unausweichlichen Botschaft dieses Aktes auseinandersetzen müssen. Nun jedoch konnte er sie spüren.

      »Ihr Leute, denen etwas an uns liegt. Ihr Angehörigen und Freunde und Liebhaber, die ihr uns ins Herz geschlossen habt. Ihr seid nicht genug. Wärt ihr genug, so würden wir bleiben. Wir gehen, und ihr werdet nur durch Zufall herausfinden, dass wir gegangen sind.«

      Es war eine harte Logik.

      »Ach, Oma!«, flüsterte Jack in seine Hände hinein. »Ich glaube, dir ist nie klar gewesen, wie sehr ich es brauchte, dass du mich brauchtest. Ich hätte es dir sagen sollen. Und du hättest es mir sagen sollen. Du hättest es mir wirklich sagen sollen …«

      Er schaute wieder auf das Blatt, das vor ihm lag. Offensichtlich war die ganze Sache mit dem Suizid vorbeigegangen. Oma war eines natürlichen Todes gestorben. Das wusste er. Aber was hatte es mit diesem Vielleicht-würdest-du-es-Glauben-nennen-Erlebnis auf sich und mit diesem fremden Mann, dem sie mitten in einem Unwetter begegnet war? Und was, so fragte er sich, als er wieder zu Alices Brief griff, wollte sie ihm vorschlagen, das er vielleicht tun


Скачать книгу