Wirtschaft im Kontext. Oliver Schlaudt
Читать онлайн книгу.werden kann, dass es einer Gesellschaft besser geht, wenn sie reicher ist, auch wenn der Reichtum ungleicher verteilt ist. Aber dies ist eine Annahme über das kollektive Wohl, welche zu begründen wäre, als unbegründete aber ein Werturteil der Ökonomen kaschiert.
Es ist der Mühe wert, diesen Punkt in technischen Begriffen herauszuarbeiten. Bereits 1941 zeigte der ungarische Ökonom Tibor de Scitovsky, dass das Kaldor-Hicks-Kriterium zu widersprüchlichen Resultaten führen kann, da es Situationen zulässt, in welchen der Übergang von einem Zustand X zu einem anderen Zustand Y ebenso wünschenswert ist wie der umgekehrte Übergang.36 Dieses Paradox kann man auch am Beispiel der Korngesetze aufzeigen, also am Streit um den Freihandel. Abbildung 2 zeigt die sogenannte Nutzenmöglichkeitsgrenze, welche den je höchstmöglichen Nutzen eines Akteurs als Funktion desjenigen der anderen Akteure zeigt. Es handelt sich also um alle Pareto-optimalen Kombinationen von Nutzenwerten. Wir betrachten ein System, in welchem sich ein Konsument und ein Produzent gegenüberstehen, und welches den Punkt X einnimmt. Ein Übergang vom Freihandel zur Protektion des fraglichen Produktionszweiges würde das System an den Punkt Y verschieben, dem eine veränderte Nutzenmöglichkeitsgrenze zugeordnet ist. Der Produzent würde sich verbessern, der Konsument verschlechtern. Gleichwohl wäre diese politische Reform nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium wünschenswert, da auch nach Entschädigung des Konsumenten, d. h. Übergang auf der Nutzenmöglichkeitsgrenze von Y zu Y ′, der Produzent noch einen Gewinn davonträgt. Allerdings gilt auch das Umgekehrte: Steht das System an Punkt Y, stellt der Übergang zum Freihandel eine potentielle Paretoverbesserung dar, da nach Entschädigung des Produzenten (X zu X ′) der Konsument nach wie vor besser dasteht.
Abb. 2: Das Paradox von de Scitovsky: Sowohl der Übergang von X zu Y als auch seine Umkehrung stellen eine potentielle Paretoverbesserung dar.
Die Wurzel dieses Problems liegt darin, dass die Entschädigung nicht tatsächlich vorgenommen werden muss. Muss sie dies doch, ändert sich die Situation nämlich grundlegend. Denn nun gilt: Wenn eine Gesellschaft am Punkt X angesiedelt ist, ist ein Übergang zum Protektionismus inklusive Entschädigung des Konsumenten, d. h. zu Punkt X ′, eine Pareto-Verbesserung; umgekehrt, wenn sie durch den Punkt Y beschrieben wird, stellt ein Übergang zum Freihandel mit Entschädigung des Produzenten eine Pareto-Verbesserung dar. Das Paradox verschwindet. Zugleich sieht man aber deutlich am hervorgehobenen Wenn-Teil der ausgesprochenen Empfehlungen, dass man es nunmehr mit einer bedingten Empfehlung zu tun hat. Gegenstand der Bedingung ist aber die bestehende Einkommensverteilung. Dies bedeutet jedoch, dass sich Fragen der Effizienz und der Verteilung mitnichten voneinander trennen lassen. Die Diskussion in technischeren Begriffen zeigt mithin sehr präzise die Fragwürdigkeit der Objektivität wirtschaftspolitischer Empfehlungen, die auf dem angeblich wertfreien Effizienzkriterium gegründet sind.37 Auf dieser Grundlage können auch renommierte Ökonomen wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz ihrem Fach vorwerfen, sich von einer wissenschaftlichen Disziplin zu einem cheerleader des laissez-faire-Kapitalismus gewandelt zu haben.38
2.2.8 Spieltheorie
Der Rationalitätsbegriff der Neoklassik hat keine Tiefe. Er beschreibt lediglich die Präferenzstruktur des als Nutzenmaximierer aufgefassten Akteurs. Es ermangelt der Neoklassik einer Theorie, welche Wege zum Optimum es gibt und welchen davon das Individuum einschlägt. 1944 präsentierten die beiden amerikanischen Emigranten John von Neumann und Oskar Morgenstern in dem heute klassischen Buch Theory of Games and Economic Behavior einen Ansatz, diese Lücke zu füllen – und zwar in Form eines mathematischen Formalismus, wo die Neoklassik nur einige qualitative Hinweise bereithielt. Von Neumann und Morgenstern wollten insbesondere der Wechselwirkung der Akteure Rechnung tragen, wodurch ein schwieriges Problem gestellt ist:
[Der Teilnehmer einer sozialen Tauschökonomie] versucht ein optimales Ergebnis zu erzielen. Um dies zu erreichen, muss er jedoch in Austauschbeziehungen zu anderen treten. Wenn zwei oder mehr Personen untereinander Güter tauschen, wird für jeden das Ergebnis im Allgemeinen nicht bloß von den eigenen Handlungen, sondern ebenfalls von denen der anderen abhängen. Jeder Teilnehmer sucht also eine Funktion zu maximieren, deren Variablen er nicht sämtliche kontrolliert. Dies ist offenkundig kein Maximierungsproblem mehr, sondern ein irritierendes Gemenge konfligierender Maximierungsprobleme. Jeder Teilnehmer wird durch ein anderes Prinzip angeleitet und keines bestimmt alle ihn tangierenden Variablen. – Für ein solches Problem hält die klassische Mathematik keine Theorie bereit.39
Diese Analyse teilt den reduktionistischen Individualismus der Gleichgewichtstheorie, dem die beiden Autoren ausdrücklich beipflichten. Sie ergänzen diese Theorie hingegen um einen wichtigen Aspekt, der in ihr nicht vorgesehen war: Der homo œconomicus ist stumm und teilnahmslos. Insbesondere unterscheidet er nicht zwischen Variablen, die die unveränderliche Umwelt beschreiben, und solchen, die vom Willen der anderen Akteure abhängen, von »Motiven, die ihrer Natur nach den seinigen identisch sind«. Diese Unterscheidung ändert sein Verhalten tiefgreifend, da er eine Erwartung über das Verhalten anderer ausbilden wird und weiß, dass dieses umgekehrt ihre Erwartungen über sein Verhalten widerspiegelt.40 Mit einem Wort: sein Verhalten wird strategisch.
Die mathematische Theorie, die hier beispringt, ist die Spieltheorie oder Theorie der Strategiespiele, welche von Neumann schon in den 1920er Jahren ausgearbeitet hatte.41 Das Marktgeschehen stellt dabei das ›Spiel‹ dar, nämlich einfach ein regelgeleitetes Geschehen. Wo die Akteure Wahlmöglichkeiten haben, machen sie ›Spielzüge‹. Die festen Muster und Prinzipien ihrer Züge bilden ihre ›Strategie‹. Wie auch schon für den Begriff des rationalen Verhaltens gilt für den Begriff der Strategie, dass seine Anwendung nicht auf bewusst geplante Handlungen eingeschränkt ist. Auch das Verhalten eines seinem Instinkt oder seinen Affekten folgenden Akteurs wird als Strategie beschrieben. Dies ist insbesondere für die Anwendung spieltheoretischer Methoden in der evolutionären Forschung von Bedeutung.
Das bekannteste Fallbeispiel einer spieltheoretischen Analyse stellt sicherlich das sogenannte Gefangenendilemma dar. Es ist zugleich aber auch ein problematischer Fall, der die Grenzen des individualistischen Ansatzes spürbar werden lässt, weshalb er von besonderem Interesse für uns ist. Das Gefangenendilemma wird uns insbesondere in der Frage des Umgangs mit öffentlichen Gütern wieder begegnen. Betrachten wir es hier schon näher.
Das Gefangenendilemma handelt von zwei Verbrechern A und B, die sich von der Polizei haben schnappen lassen und nun – getrennt voneinander – verhört werden. Ihr Verhalten – Gestehen oder Leugnen – wird Konsequenzen für die zu erwartende Länge der Haftstrafe haben. Allerdings hängt der Urteilsspruch von beider Verhalten ab, womit die von von Neumann und Morgenstern beschriebene Situation prototypisch realisiert ist: jeder einzelne hat es mit einem Maximierungsproblem zu tun, über dessen Variablen er nur partiell Kontrolle ausübt, partiell aber auch andere Akteure (Maximierung des Nutzens heißt hier natürlich Minimierung der Haftzeit). Das konkrete Szenario ist folgendes: Es drohen jedem sechs Jahre Haft. ›Kooperieren‹ sie und schweigen beide, werden sie aufgrund der dünnen Beweislage jeweils zu drei Jahren Haft verurteilt. ›Defektiert‹ einer von beiden und gesteht, kommt er mit einem Jahr davon, während der andere die vollen sechs Jahre absitzen muss. Gestehen beide, müssen sie infolge immerhin nur vier Jahre einsitzen.
Das Gefangenendilemma: | |||
A | |||
gesteht | schweigt | ||
B | gesteht | je 4 Jahre | 6 Jahre für A 1 Jahr für B |
schweigt |