Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle

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Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete - Albrecht Gralle


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Sorge, das ist mein … Bruder. Ist schon leicht dement. Tut mir leid!“

      Er hakte Luther unter und schleppte ihn zum Auto. So schnell wie möglich bugsierte er ihn wieder auf seinen Sitz und ließ sich neben ihm nieder. Im Wegfahren sah er, wie die Frau inzwischen eine Gießkanne besorgt hatte und Luthers Urin begoss.

      „Ach, Sonnhüter“, beruhigte ihn Luther, als sie wieder auf der Straße waren, „du machst dir viel Sorg und Müh. Hat nicht unser Herr gesagt: Nicht das macht unrein, was von außen an den Menschen kömmt, sondern was von innen herauskömmt? Im Herzen herrscht Betrug und böse Herrschaft, Hass und Neid und Frömmelei. Was soll das bisschen Pisse der Kirche schon anhaben, es ist ja doch nur ein äußerlich Geschäft? Man sollt viel mehr beten als sich über so Ding aufregen. Wie oft betest du am Tag?“

      Der Pfarrer blickte Luther ratlos an.

      „Ja, ich … weiß nicht genau“, stammelte er, „ich zähl es nicht nach.“

      „Frisch gebetet, an Gottes Tür geklopft und dagegengetreten ist mehr wert als tausend gelehrte Wort! Aber eins schenkt mir groß Zuversicht.“

      „Was denn?“

      „Dass es immer noch die Bibel gibt. Verba Dei cessare possunt.“

      „Ja“, nickte Sonnhüter, „da scheint etwas dran zu sein, dass Gottes Worte nicht vergehen können. Ist schon eigenartig. Ich versteh’s im Grunde nicht.“

       2. 7. 2017

       Allmählich dämmert es mir, was ich mir da aufgeladen habe. Ein Mensch, noch halb aus dem Mittelalter und halb aus der Renaissancezeit, fährt mit mir durch das 21. Jahrhundert. So scheint es jedenfalls. Oder ein Mensch, der sich ganz auf Luther eingeschossen hat. Und alle seine Urteile und Vorurteile hat er im Rucksack dabei und packt sie ungeniert aus. Manchmal bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich ihn von der Seite betrachte. Er ist einfach so ungeschminkt und derb. Man denkt, er ist nicht ganz dicht, und dann spüre ich, wenn ich mir seine Zeit vorstelle, was er geleistet haben muss: sich als Einziger gegen diese riesige, mächtige Kirche zu stellen. Er hat Widerstand geleistet gegen Gewohnheiten, die scheinbar von Gott verordnet und über tausend Jahre alt waren. So kam es ja den Leuten vor. Sie hatten Angst vor der Kirche und gleichzeitig Angst, aus dem Gefängnis befreit zu werden, das ihnen Sicherheit gab. Wahrscheinlich kann ich mir nicht vorstellen, was es bedeutete, damals gelebt zu haben.

       Und wie dieser Mann seine Meinung zum Besten gibt, ohne einen Hauch von Verunsicherung. Und fragt mich auch noch nach meinem Gebetsleben aus. Ich ahne, dass mich der Luther mit meinem Atheismus noch mal in die Zange nehmen wird. Aber ich lass mich durch so einen mittelalterlichen Gesellen nicht umstimmen. Das wäre ja noch schöner!

       Der Luther muss aber auch Depressionen gehabt haben, als er dieses Projekt Reformation stemmte. Nicht umsonst erzählt er immer wieder, wie er gegen den Teufel angehen musste.

       Aber sein Antivaterunser gegen den Papst, das war schon harter Tobak. Der Papst hat wohl all das repräsentiert, wogegen er kämpfte.

       Da kann ich mich noch auf einige Überraschungen gefasst machen!

       Und dann ist es mir, als ob ein Stromstoß durch meinen Körper geht, wenn ich daran denke, dass ich mit einem Mann zusammenwohne, der 500 Jahre einfach übersprungen hat.

       Aber nein, das kann einfach nicht sein! Gert hat recht. Zwei, drei Jahre könnte man vielleicht durch Weltraumreisen überspringen, aber nicht fünfhundert. Entweder der Mann ist ein genialer Schauspieler, oder er kommt aus einem Paralleluniversum, oder er hat eine Persönlichkeitsstörung. Vielleicht hat er sich so mit Luther identifiziert, dass er denkt, er sei tatsächlich Luther.

       Wenn ich mir vorstelle, was er bei der Konferenz sagen wird, wenn er alle die Pfarrer sieht. Es kann sein, dass er dann so vom Leder zieht, dass uns Hören und Sehen vergeht. Apropos Hören. Ein besonderes Erlebnis waren die Kopfhörer, die ich Luther aufgesetzt habe, mit Renaissancemusik. Er war hin und weg von dem Stereoklang. Wie ein Kind, vor dem eine Fee steht!

       Ich habe keine Ahnung, wie das alles weitergehen soll.

       Mein Gott, worauf hab ich mich da eingelassen!

       War das ein Gebet?

       Die Gewohnheiten sitzen tiefer als mein Unglaube.

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