Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle

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Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete - Albrecht Gralle


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Terrassentür öffnete sich. Luther schaute hoch. „Wie wär’s mit einem Tee und einem Stück Kuchen oder Gebäck?“

      Sonnhüter trug ein Tablett und stellte es auf den Tisch. Luther wunderte sich, dass keine Knechte und Mägde da waren, aber das war ja bei ihm zu Hause auch nicht anders gewesen. Sie waren alle ausgeflogen, und deshalb hatte er ja diese Kirschen selbst pflücken müssen.

      Andreas verteilte Tassen und Teller, stellte Zucker und eine Schale mit kleinen gebogenen Teilen hin.

      „Du kennst doch Tee, oder?“

      „Oh ja. Meine Käthe bereitet ein Haufen Sorten zu: Hagebutten, Zitronenmelisse, Lindenblüten …“

      „Das hier ist Tee aus Indien.“

      „Das muss gar kostspielig sein.“

      „Nein, ganz und gar nicht. Die Welt ist kleiner geworden. Du kannst mit einer fliegenden Autokutsche in einem Tag dort sein.“

      „Was? Ihr könnet machen, dass eine Kutsch tut fliegen?“

      „Nicht nur das. Wir können durch einen kleinen Apparat mit Menschen aus Indien reden.“

      „Ich erinner mich. Die Magd in der … in jenem Schloss hat so einen Stein an ihr Ohr g’halten und geredt!“

      Sonnhüter goss ein. „Bedien dich, wenn du Zucker haben willst …“

      „Zuckra?“

      „So etwas wie Honigpulver, ist ziemlich süß.“

      „Ja, hab davon gehört. Ist aber nur was für die reich Leut. Mein Käthe hat den Honig verwendt aus ihren eigen Bienenstöck.“

      Luther steckte den Zeigefinger in die Zuckerdose und probierte. Dann nickte er und ließ drei gehäufte Löffel in seinem Tee verschwinden.

      Er rührte mit dem Löffel gedankenvoll herum und fragte: „Wie heißt eigentlich der Kaiser, der jetzt regieret?“

      Sonnhüter trank einen Schluck und zögerte. „Wir haben in Deutschland keinen Kaiser mehr. Der letzte hat uns vor hundert Jahren einen furchtbaren Krieg beschert. Die Regierung wird vom Volk gewählt oder von den Volksvertretern. Das nennt man eine Demokratie …“

      „Und … es gibt keinen obersten Fürsten oder König?“

      „Doch, den gibt es, aber er hat nicht mehr die Macht, die ein Kaiser hatte. Wir nennen ihn Bundeskanzler. Und zurzeit ist es eine Frau, die …“

      Luther blickte den Pfarrer mit erschrockenen Augen an. „Eine Frau, die an der Stelle des Kaisers regieret?“

      „Ja, ja, mein Lieber, da staunst du, was? Aber es gab auch schon früher Königinnen, sogar vor deiner Zeit. Die Frauen, sage ich dir, sind jetzt auf dem Vormarsch. Sie müssen ihre Männer nicht mehr um Erlaubnis fragen, wenn sie Handel treiben. Und sie tragen Hosen wie wir …“

      „… und ausnehmend kurze Röck“, fügte Luther hinzu.

      „Genau“, sagte Sonnhüter. „Und weißt du was? Das fällt mir inzwischen gar nicht mehr auf. Ich hab mich daran gewöhnt.“

      „Und tragen kein Gebind und Kopftuch mehr“, fuhr er fort. „Lasset ihr Haar grad frei und frank herunterhängen. Nur wenig Weiber han ein Kopftuch. Ein seltsam Zeitalter …“ Er schüttelte den Kopf und gähnte gleich danach.

      „Ich denke“, sagte der Pfarrer, „du legst dich noch eine Weile auf die Couch und ruhst dich aus. Das ist ja alles ein bisschen viel. Und dann fahren wir in die Stadt, und ich kann dir ein paar Sachen zeigen. Wir haben hier sogar eine Martin-Luther-Schule.“

      Luther schüttelte verwundert den Kopf.

      „Ja, du bist berühmt geworden, mein Lieber. Nach über fünfhundert Jahren kennen die Leute deinen Namen. Ich denke, wir beginnen mit der Kirche. Das ist etwas Vertrautes.“

      Eine Stunde später stiegen Sonnhüter und Luther aus dem Golf, nachdem sie neben der lutherischen Kirche geparkt hatten.

      „Die Straßen sind so rein“, sagte Luther, nachdem er sich aus dem Golf gequält hatte, „als ob sie jeden Morgen gefegt werden. Kein Rossapfel oder faulig Gemüs, dem man ausweichen müsst.“

      „Ja, wir sammeln alles in große Tonnen, die von der Stadt abgeholt werden.“

      „Das nenn ich: Anbruch einer neu Zeit. Das Stinkende ist vergangen, siehe: ein neu Geruch ist geworden.“

      Unter der riesigen Schillereiche, die den Kirchvorplatz in Licht und Schatten tauchte, kamen sie zum Kirchenportal. Der Pfarrer öffnete die schwere Tür.

      Luther staunte: „Der Eingang geht durch den Turm …“

      „Ja“, sagte Sonnhüter, „das ist eine Besonderheit von St. Sixti. Die Turmhalle ist der älteste Teil und stand schon hier im 13. Jahrhundert.“

      Luther berührte ehrfürchtig die Steine und murmelte: „Ihr alten Stein, ihr stammet all noch vor meiner Geburt und habt die Zeiten überdauert.“

      Als sie die Schwingtüren passierten, ging der Blick von ganz alleine nach oben in das gotische Gewölbe. Luther bekreuzigte sich und blieb stehen.

      „Über vierzehn Meter hoch“, sagte der Pfarrer, und seine Stimme hallte durch den Raum. „Meter? Was sind Meter?“

      „Oh!“, Sonnhüter lächelte. „Natürlich, die kannst du noch nicht kennen. Wir haben uns von den alten Maßen verabschiedet. Ich schätze mal, das sind ungefähr vierzig Fuß bis zur Decke. Übrigens“, er schmunzelte, „eine lutherische Kirche. Es gibt kein Weihwasserbecken. Hast du nicht die ganzen Zauberdinge abgeschafft? Natürlich haben wir auch eine römisch-katholische Kirche am Ort.“

      „Also haben die Römischen auch die Zeiten überlebt“, kommentierte der Zeitreisende.

      „Und die Täufer gibt es auch noch. Nennen sich Baptisten. Aber seit Thomas Münzer sind sie ganz brav geworden.“

      „Soso“, murmelte Luther.

      „Und die Juden“, führte Sonnhüter den Gedanken fort, „die sind auch noch da. Obwohl die Synagoge in Northeim nicht mehr benutzt wird. Die jüdische Gemeinde gibt es seit fast achtzig Jahren nicht mehr.“

      „Die Jüden“, brummte Luther, „halsstarrig Gesellen!“

      „Vorsicht, Luther!“, Sonnhüters Ton wurde etwas schärfer. „Keine Beschimpfungen über die Juden. Das dulde ich nicht! Es ist Schlimmes in Deutschland passiert. Aber davon später.“

      Während sie langsam nach vorne gingen, blickte ihnen eine junge Frau nach, die auf einer Bank am äußersten Rand saß und von den beiden Männern übersehen worden war.

      Neugierig geworden über den merkwürdigen Wortwechsel, stand sie leise auf und schlich hinter den beiden Männern her. Als sie vor dem Altarraum standen, versteckte sie sich hinter einer Säule.

      Sonnhüter griff zu einem Gesangbuch, das in einer der Bankreihen steckte, und blätterte darin. Dann reichte er es seinem Begleiter.

      „Hier, lies mal!“

      Luther nahm das Buch und bewegte die Lippen: „Vom Himmel hoch, da komm ich her … Aber das sind meine Wort, die ich vor etlich Jahr han niederg’schrieben.“

      Sonnhüter nickte. „Steht auch da. Text: Martin Luther 1535, Melodie: Martin Luther 1539.“

      „Und meine Gesäng und Lieder stehn all in dem Buch?“

      „Ja, und noch viele andere.“

      Luther lachte: „Wenn ich dran denk, wie alle wild g’worden sind, dass ich han die lateinisch Mess abgschafft, damit die Leut mit ihrem Maul sollen auf Deutsch singen. Ehr sei Gott in der Höh statt Gloria in excelsis Deo. Und die Lieder, han sie gesagt, sollt man in der Stub singen und nit in der Kirch!“

      „Oh, es werden noch ganz andere Lieder heutzutage in der Kirche


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