Weltordnungskrieg. Robert Kurz

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Weltordnungskrieg - Robert Kurz


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hatte. Aber die Analogie ist nur eine sehr oberflächliche. Kautsky schrieb 1914 in der „Neuen Zeit“: „Eine ökonomische Notwendigkeit für eine Fortsetzung des Wettrüstens nach dem Weltkrieg liegt nicht vor, auch nicht vom Standpunkt der Kapitalistenklasse selbst, sondern höchstens vom Standpunkt einiger Rüstungsinteressen. Umgekehrt wird gerade die kapitalistische Wirtschaft durch die Gegensätze ihrer Staaten aufs äußerste bedroht. Jeder weitersehende Kapitalist muss heute seinen Genossen zurufen: Kapitalisten aller Länder, vereinigt euch!… Natürlich, wäre die jetzige Politik des Imperialismus unerlässlich zur Fortführung der kapitalistischen Produktionsweise, dann vermöchten die eben erwähnten Faktoren keinen nachhaltigen Eindruck auf die herrschenden Klassen zu machen und sie nicht zu veranlassen, ihren imperialistischen Tendenzen eine andere Richtung zu geben. Wohl aber ist dies möglich dann, wenn der Imperialismus, das Streben jedes kapitalistischen Großstaates nach Ausdehnung des eigenen Kolonialreiches im Gegensatz zu den anderen Reichen dieser Art, nur eines unter verschiedenen Mitteln darstellt, die Ausdehnung des Kapitalismus zu fördern… Die wütende Konkurrenz der Riesenbetriebe, Riesenbanken und Milliardäre erzeugte den Kartellgedanken der großen Finanzmächte, die die kleinen schluckten. So kann auch jetzt aus dem Weltkrieg der imperialistischen Großmächte ein Zusammenschluss der stärksten unter ihnen hervorgehen, der ihrem Wettrüsten ein Ende macht. Vom rein ökonomischen Standpunkt ist es also nicht ausgeschlossen, dass der Kapitalismus noch eine neue Phase erlebt, die Übertragung der Kartellpolitik auf die äußere Politik, eine Phase des Ultraimperialismus, den wir natürlich ebenso energisch bekämpfen müssten wie den Imperialismus, dessen Gefahren aber in anderer Richtung lägen, nicht in der des Wettrüstens und der Gefährdung des Weltfriedens“ (Kautsky 1914, 920 f.).

      Es ist offenkundig, dass Kautskys Argumentation zu seiner Zeit (und noch auf Jahrzehnte hinaus) völlig unzutreffend war, weil die Epoche der nationalimperialen Expansion sich damals keineswegs erschöpft hatte. Aber Kautsky ist bei näherem Hinsehen auch kein guter Prophet einer noch weit entfernten Zukunft. Zwar hat er (ähnlich wie bei Lenin abgelöst von jeder begrifflichen Durchdringung der übergreifenden kapitalistischen Gesellschaftsformen) die abstrakte Möglichkeit einer anderen, gesamtimperialen Konstellation durchaus richtig gesehen, aber eben gerade nicht unter dem Aspekt eines globalen gesellschaftlichen Zerfalls an den inneren Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise, sondern nur als „andere Mittel, die Ausdehnung des Kapitalismus zu fördern“. Denn Kautskys Position wird ganz und gar bestimmt durch den sozialdemokratischen Diskurs an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der offiziell die Krisen- und Zusammenbruchstheorie ad acta gelegt hatte und seine Hoffnungen auf eine weitere kapitalistische Entwicklungsfähigkeit setzte, die von der Arbeiterbewegung durch einen friedlich-parlamentarischen Übergang zum Staatssozialismus gekrönt werden sollte.

      Wie bei Lenin ist auch bei Kautsky das Thema nicht die (damals „undenkbare“) Krise und Kritik der klassenübergreifenden gesellschaftlichen Formen, sondern der bloß soziologisch fundierte und politisch in Erscheinung tretende „Klassenwille“ zur „Ausbeutung“ einerseits und zu deren Überwindung andererseits. Im Gegensatz zu Lenin entwickelt er diese verkürzte Analyse aber nicht auf dem Boden der historisch aktuellen Tatsachen, also der wirklichen Konkurrenz nationalimperialer Ausdehnungsmächte, sondern als blamabel opportunistische Phantasmagorie. Es gehört schon eine Mischung aus Augenwischerei und Selbstbetrug dazu, ausgerechnet im Kanonendonner des beginnenden industriellen Weltkriegs eine friedliche Allianz des Gesamt- oder Ultraimperialismus zwecks gemeinsamer „Ausbeutung der Welt“ für die Zeit nach dem Weltkrieg zu postulieren, als gäbe es dessen Realität gar nicht oder diese wäre schon Geschichte geworden (eine typische Manier des demokratisch-reformistischen Räsonnements zu „gefährlichen“ Fragen bis heute).

      Aber eben deshalb trifft Kautskys „Nostradamus-Vision“ eines demokratischen Sesselfurzers für den heutigen tatsächlichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO erst recht nicht zu. Denn erstens geht es dabei gar nicht mehr um eine gemütliche „gemeinsame Ausbeutung“ bislang noch kapitalistisch unerschlossener Weltregionen, sondern vielmehr um das Problem einer sich voranfressenden Weltkrise, die gerade dadurch bestimmt ist, dass der Kapitalismus des Zentrums auf der erreichten Höhe seines eigenen Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards zunehmend „ausbeutungsunfähig“ wird und der Weltmarkt wachsende Zonen einer ökonomisch „verbrannten Erde“ zurücklässt, die ihre kapitalistische Erschließungsfähigkeit schon hinter sich haben.

      Und zweitens ist gerade deswegen die NATO auch eine ganz und gar unfriedliche Allianz des Gesamtimperialismus, weil sie alle Hände voll zu tun hat, auf die politisch-militärischen, barbarisierenden Folgen der unbewältigbaren Krise einzudreschen. So entspricht es zwar den Tatsachen, dass es 80 Jahre nach Kautskys These keinen innerimperialistischen Konflikt nach dem Muster des Ersten Weltkriegs mehr gibt, aber der widersprüchliche supranationale Charakter der NATO fußt auf ganz anderen Entwicklungen, als sie Kautsky vorgeschwebt hatten; und so handelt es sich eben nicht um eine parlamentarisch transformationsfähige kapitalistische Friedensära, sondern um einen barbarischen Weltordnungskrieg ohne jede zivilisatorische Perspektive. Die Analogie von Kautskys Konstrukt des „Ultraimperialismus“ und des wirklichen „ideellen Gesamtimperialismus“ der NATO ist eine ganz äußerliche und unwahre.

      Dass es im 21. Jahrhundert keine Neuauflage der früheren nationalimperialen territorialen Einflusskämpfe um die Welthegemonie geben wird, dafür sprechen allerdings nicht nur die ökonomischen und politisch-militärischen Fakten im Kontext von Pax Americana und Globalisierung. Auch die kulturelle und ideologische Entwicklung lässt nicht im geringsten erkennen, dass die alten Mächte der Weltkriegsepoche demnächst zur dritten Runde antreten werden und die NATO bloß eine vorübergehende Erscheinung in der Epoche des kalten Krieges gewesen sein könnte.

      Bei einer weltpolitischen Konfliktkonstellation müssen die beteiligten Gesellschaften ja nicht nur politisch-ökonomisch und militärisch, sondern auch kulturell und ideologisch formiert und vorbereitet werden. Man muss sich nur einmal ansehen, mit welch ungeheurem Aufwand und historisch weitem Ausgreifen die jeweiligen Feindbilder sowohl in der Weltkriegsepoche zwischen 1870 und 1945 als auch in der bipolaren Nachkriegskonstellation zwischen 1945 und 1989 aufgebaut und kultiviert wurden. Das „perfide Albion“, der französische „Erbfeind“ und umgekehrt die deutschen „Hunnen“ usw. oder später das „totalitäre Reich des Bösen“ im Osten erfuhren eine nicht bloß propagandistische, sondern auch künstlerische, volks- und popkulturelle Pflege und Ausmalung bis in den Alltag hinein. Dafür wurden alle medialen Register gezogen, vom akademischen Disput bis zum Kinderbuch, von der Denkmalpflege bis zur patriotischen Lyrik. Nichts dergleichen lässt sich heute über einen systematischen Aufbau von neuen und wechselseitigen innerimperialistischen Feindbildern sagen. Sogar der traditionelle europäische Antiamerikanismus ist nicht nur marginal, sondern selber schon „amerikanisiert“.

      Das heißt keineswegs, dass nicht nationalistische, antisemitische, „volksgemeinschaftliche“, rassistische usw. kulturelle und ideologische Muster wiederkehren und in den Krisenprozessen der Globalisierung verstärkt abgerufen würden. Aber im Unterschied zur Weltkriegsepoche stehen diese Muster nicht im Kontext einer nationalimperialen Formierung für den Vernichtungskampf der kapitalistischen Großmächte untereinander um „geostrategische Großräume“. Schon das Feindbild des sowjetischen „Reichs des Bösen“ war auf einer anderen Ebene herausgebildet worden; es reflektierte nicht mehr die Konkurrenz der nationalimperialen Staaten des westlichen industriekapitalistischen Zentrums untereinander, sondern die Konkurrenz des Zentrums als Ganzem mit den historischen Nachzüglern der Peripherie und deren innerkapitalistischem „Gegensystem“.

      Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Kriegs kehren nicht die vorherigen alten Feindbilder zurück, sondern es wird ein neues, wesentlich diffuseres Feindbild aufgebaut, das überhaupt nicht mehr in erster Linie von irgendeiner in imperiale Politik verlängerten Konkurrenz innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt ist (dies galt nur für deren historischen Aufstiegsprozess), sondern unmittelbar von den Zerfallserscheinungen in der kapitalistischen Weltkrise: Diese sollen ideologisch veräußerlicht und personifiziert werden, um den Charakter der Krisenerscheinungen im Dunkeln zu lassen und ihre Ursachen zu verschleiern.

       DIE REALEN GESPENSTER


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