Weltordnungskrieg. Robert Kurz
Читать онлайн книгу.allgemeineren gesellschaftlichen Zustands. Auf jeden mörderischen und selbstmörderischen Exekutor kommen Tausende und Millionen, die ähnlich empfinden, diese Empfindung aber (noch) nicht zur Tat werden lassen, sondern in der Phantasie damit spielen oder sich mit einschlägigen medialen Produkten abreagieren (allein dass solche Produkte, sogenannte Gewaltvideos und zahlreiche andere Ausdrucksformen medialer Gewaltverherrlichung, in profitabler Massenproduktion hergestellt werden können, spricht für den gesellschaftlichen Tiefgang des Problems).
Zum zweiten sind es eben nicht nur die manifesten Verlierer wie in der Banlieu oder in Mogadischu, die aufeinander schießen oder sich bewusst selber den Lebensfaden abschneiden. Der molekulare Bürgerkrieg findet auch und gerade unter der Jugend der abgeschotteten Scheinnormalität, der Besserverdienenden, Krisengewinnler und Fanatiker der Wohlanständigkeit statt, deren seelische Unbehaustheit und Selbstverlorenheit derjenigen der jugendlichen Killer aus den Slums in nichts nachsteht. Der Kult von Mord und Vergewaltigung als Sport ebenso wie der Kult des inszenierten Selbstmords grassiert auch in den Villenvierteln von Rio de Janeiro, New York oder Tokio. Der sprichwörtlich gewordene Amoklauf mit anschließender Selbsthinrichtung an den High Schools der USA entspringt der Imagination von Sprösslingen der betuchten Mittelklassen. Und auch die Selbstmord-Attentäter in Palästina oder Sri Lanka kommen in aller Regel aus „besseren Kreisen“.
Schließlich sind es auch nicht ältere Schichten vormoderner Kultur, die etwa in Gestalt des in der moslemischen Welt grassierenden Islamismus bei den „Herausgefallenen“ unter der Oberfläche kapitalistischer Modernität und globalistischer Universalität hervorbrechen würden. Zwar ist das eine, universelle, weltumspannend-realmetaphysische System des Kapitals in den verschiedenen Weltregionen kulturell unterschiedlich eingefärbt, je nach dem Muster älterer Traditionen, religiöser Vorstellungen, sozialer und ästhetischer Verhaltensweisen usw. Aber diese Farbe, diese kulturelle Differenz bildet nicht das Eigentliche, das tiefgehende Innere, im Verhältnis zu dem die kapitalistische Verfasstheit und Eingebundenheit in den Weltmarkt bloß eine Art äußerlicher Firnis wäre. Es verhält sich genau umgekehrt. Nach Jahrhunderten kapitalistischer Zurichtungsgeschichte und nach der Durchsetzung des Kapitalverhältnisses als unmittelbares Weltverhältnis ist es die eine, universelle, das überall identische metaphysische Vakuum des Werts „verkörpernde“ Subjektform, die das innere Selbst der Individuen als vollkommen farbloses, ja überhaupt qualitätsloses Wesen konstituiert, während die kulturelle Differenz nur noch eine äußerliche, quasi folkloristische Bemalung darstellt.
Deshalb sind die „lebenden Bomben“ (Enzensberger, a.a.O., 36), die durch die Welt des globalisierten Kapitals irren, auch die ureigensten Produkte dieser Welt: identische Subjekte derselben Realmetaphysik, in denen der Todestrieb dieser negativen Vergesellschaftung manifest geworden ist. Die Amokläufer an den US-High-Schools und die islamistischen Selbstmordattentäter sind mehr durch ihre Subjektform und damit in ihren Taten geeint als durch ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergrund getrennt.
Was bei den Amokläufern augenfällig ist, gilt auch für die scheinbar mehr ideologisch gesteuerten Selbstmordattentäter: Auch bei ihnen hat, wie es Hannah Arendt bereits für die verlorene Generation der Zwischenkriegszeit erkannte, die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, „nicht das geringste mit dem zu tun, was wir gewöhnlich unter Idealismus verstehen“. Die religiösen Motive, wie sie nicht zufällig die eigentlichen modernen Ideologien abgelöst haben, sind Ausdruck jener universellen Selbstverlorenheit, die in die „leidenschaftliche Vorliebe“ der Verlorenen mündet, „ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten“ und es endlich wegzuwerfen wie ein gebrauchtes Papiertaschentuch.
Der weltweit grassierende religiöse Wahn, wie er ja auch im Westen eine Unzahl von Sekten (und eben auch dezidierten „Selbstmordsekten“) hervorgebracht hat, besitzt keinerlei Kohärenz mehr; er mischt sich synkretistisch aus allen möglichen religiösen Versatzstücken und reichert sich mit den Verwesungsprodukten vergangener Ideologien an, von der Hitlerverehrung bis zur „Schwarzen Messe“. Der absurde Kult des Bösen korrespondiert mit dem Todestrieb im freigesetzten leeren Zentrum der aufklärerischen Vernunft.
In der Weltkriegsepoche hatte dieser Zersetzungsprozess bereits begonnen, lediglich unterbrochen durch den letzten fordistischen Entwicklungsschub des Kapitalismus nach 1945. Tatsächlich kann die Nazi-Ideologie als eine Art Vorläufer oder Prototyp des giftigen ideellen Gebräus verstanden werden, wie es heute weltweit in verschiedenen Mixturen zirkuliert. Auch die Nazis mischten sich ihre wahnhafte „Weltanschauung“ aus disparaten pseudoreligiösen Motiven, synthetischen archaischen Mythen, modernen Ideologien und Abfallprodukten des mit dem kapitalistischen Aufstieg verbundenen naturwissenschaftlichen Denkens. Auch die Nazis waren bestimmt vom Kult der spezifisch modernen gewaltsamen „Männlichkeit“ und ihrer Codes. Und auch schon den Nazis ging es nicht oder zumindest nicht nur um imperiale Interessen, sondern auch um eine selbstzweckhafte Vernichtungswut, die in einer Orgie der Selbstvernichtung und Selbstopferung gipfelte.
Heute wird derselbe Motivzusammenhang aber nicht mehr national und spezifisch deutsch freigesetzt, sondern global und universell; der mörderische Wahn organisiert sich nicht mehr als nationalimperiales „Reich“, sondern im Kontext des „ideellen Gesamtimperialismus“ und in der molekularen Zerstreuung über den gesamten Globus.
Die Überbetonung äußerer kultischer Akte bei den westlichen Sekten wie bei den Islamisten verweist auf die identische Leere des Inhalts. Hatten die alten Religionen stets den reproduktiven Hintergrund agrarischer Zivilisationen, so ist nichts dergleichen mehr für die Zombie-Ideen der neuen, diesmal globalen „verlorenen Generationen“ festzustellen, für die es in ihrer kapitalistischen Verfasstheit keine Zukunft geben kann. Andererseits kann der „Interessenhintergrund“ der früheren modernen Ideologien aus der Aufstiegsgeschichte des Kapitalismus keine ideelle Kohärenz mehr stiften: Das „Interesse“ selber verwildert und zerfällt, und mit ihm die Ideologie, die ebenso jedes kohärenten Inhalts beraubt wird.
Die Gier nach dem Markt-Erfolg bei den Sprößlingen der minoritären Globalisierungsgewinnler und die plünderungsökonomische Gier nach „westlichen Waren“ in den Zusammenbruchsregionen schlägt unvermittelt in die leere totale Interesselosigkeit des männlich-jugendlichen Amok- und Selbstmordsubjekts um. McDonald’s und Dschihad bilden tatsächlich die beiden Seiten derselben Medaille, noch weit furchtbarer, als es Benjamin Barber in seinem Buch „Coca-Cola und Heiliger Krieg“ (Barber 1996) dargestellt hat. Das „Dürsten nach dem Tod“ ist kein spezifisch islamisches Motiv, sondern der universelle Verzweiflungsschrei einer sich in ihrer kapitalistischen Weltform selbst hinrichtenden Menschheit. Und die Täter sind zu 90 oder fast 100 Prozent konkurrierende Gewaltmänner, am Ende nicht weniger als am Anfang dieser wunderbaren „Zivilisation“.
DIE POSTMODERNE WELTPOLIZEI
Bei dem neuen „Feind“ der bombenden Hightech-Weltdemokraten handelt es sich nicht mehr um einen imperialen Gegner auf derselben Ebene von Machtstruktur und politisch-ökonomischen Kriterien. Das geht schon aus der Art der militärischen Zurüstungen hervor. Auf den ersten Blick könnte man sogar versucht sein, die seit dem Ende des Kalten Krieges laufenden Umgruppierungen der Militärapparate tatsächlich mit einer Abrüstung zu verwechseln. Denn überall wird die Quantität der Armeen vermindert und die klassische „schwere“ Rüstungsindustrie teilweise abgebaut, sehr zum Jammer aller daran hängenden Interessen-Lobbys. In der BRD zeigt sich die Bundeswehr hart getroffen vom „Sparkurs“ der rot-grünen Regierung, in der Presse wird über die „gefährdete Einsatzfähigkeit“ der Panzertruppen schwadroniert, und die Bürgermeister jener nicht weniger als 59 Gemeinden, in denen die Armee-„Standorte“ geschlossen werden sollen, haben sich aus ökonomischen Gründen zu einer tränenreichen Standort-Verteidigungsgemeinschaft zusammengeschlossen. Ähnliche Militärreformen stehen in allen NATO-Ländern auf der politischen Agenda, je mehr die Ära des Kalten Kriegs entrückt.
Neue Militärdoktrin und neue Kriegsökonomie
Es handelt sich dabei aber keineswegs um eine Abrüstung, sondern vielmehr um eine Umrüstung für andere Aufgaben. Die