Der grüne Pfad hat nie ein Ende. Gerhard Böttger

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Der grüne Pfad hat nie ein Ende - Gerhard Böttger


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trotzdem eher zurückhaltender Jäger, der weniger die Treibjagd als die einsame Pirsch liebt und deswegen unter den ihn sonst durchaus schätzenden Weidgenossen ein wenig als elegischer Sonderling gilt. Simon stört das nicht, so viele unendlich kostbare Stunden hat ihm die Elbregion und das Revier seines Onkels schon geschenkt. Dieser hatte wenig Zeit, hielt die Pacht auch mehr aus Geltungssucht denn aus Passion und sah es nicht ungern, wenn sein Neffe einen Großteil des Rehwild-Abschusses „erledigte“, allein aus diesem ihm geläufigen und immer wieder gebrauchten Ausdruck war sein Verhältnis zum Wild schon abzulesen.

      Wieder einmal wanderte Simon auf dem Elbdeich zwischen Tespe und Marschacht stromabwärts. Ein dunkler Punkt in der Luft, ein größerer Vogel strich heran. Im hochgenommenen Fernglas wurde er schnell größer und größer. Welch eine Flügelspannweite! Der gelbe, mächtige Schnabel fiel schon von weitem auf, dann der keilförmige helle Stoß. Ein ausgewachsener Seeadler, wann sieht man ihn schon mal so nah und kann ihn in allen Einzelheiten beobachten! Fasziniert folgte er dem majestätischen Aar mit den Blicken und freute sich über die positive Entwicklung seines Vorkommens.

      Simon hielt die Augen weiter auf, in der Elbmarsch ist nicht jede Ente eine Stockente, nicht jeder Greif ein Mäusebussard, nicht jeder Piepmatz eine Amsel oder eine Kohlmeise, wobei er gegen diese häufigen Arten absolut nichts hatte und sich an ihrem Dasein erfreute.

      Er wanderte ein Stückchen in die Feldmark hinein, wo es immer etwas zu beobachten gab. Besonders gute Einblicke bekam er in das Leben und Treiben des Neuntöters, der in dem Stückchen Weißdornhecke, das einen großen Rapsschlag begrenzte, den Mittelpunkt seines Territoriums hatte. Sowohl das schön gezeichnete Männchen mit dem kastanienbraunen Rücken, blaugrauen Scheitel und Bürzel und dem schwarzen Gesichtsstreifen als auch das oberseits matt rotbraune, unten gelbbräunlich gefärbte Weibchen mit der gebänderten Brust bekam er dort regelmäßig in Anblick. Allzu lange konnten sie aus ihrem afrikanischen oder südasiatischen Winterquartier noch nicht zurück sein, vielleicht erst vier Wochen. Jetzt war es Ende Mai, und die beiden waren erkennbar beim Nestbau, immer wieder sah er sie mit einem Halm, einem kleinen Zweig, einer Wurzel oder einem Stückchen Moos im größten Dornenbusch verschwinden.

      Dabei fielen ihm die Weißstörche ein, die er im April bei den Ausbesserungsarbeiten an ihrem großvolumigen Horst beobachtet hatte. Jetzt fütterten sie schon ihre ewig hungrigen Jungen!

      Im Landkreis Harburg wurden im Jahr 2017 die meisten Weißstörche seit Jahrzehnten gezählt: Aus 37 Nestern, fünf davon waren Neuansiedlungen, klapperten die Brutpaare in die weite Landschaft und zogen insgesamt 77 Junge auf.

      „Wir wollen hoffen, dass Meister Adebar sich weiterhin wohl fühlt bei uns und dass nicht noch mehr Grünland dem Maisanbau zum Opfer fällt“, dachte Simon und beschloss, eine kleine Pause einzulegen. Gerade sinnierte er herum, sich jetzt „eine Weile von innen zu betrachten“, da hörte er den sausenden Schwingenschlag eines Trupps Höckerschwäne, die nahe über seinen Kopf hinwegstrichen. „Die Augenpflege muss ich verschieben“, seufzte er dann, das laute Spektakeln der Kanadagänse vom Kanal, hörte nicht auf und ließ sowieso keine Ruhe aufkommen.

      Ein Abschiedsblick zum rüttelnden Rotrückigen Würger, und dann setzte er seinen Weg fort.

      „Moin, moin“, erwiderte er den lachenden Gruß eines Fahrradfahrers, der sein um den Hals hängendes Fernglas anlupfte, um sich als Beobachter zu solidarisieren.

      Vierzehn Tage später zeigte sich das Neuntöter-Weibchen nicht mehr. Wahrscheinlich war das mit Haaren ausgepolsterte Nest fertig und es bebrütete bereits die drei bis sieben rosafarbenen, braun gefleckten Eier. Das Männchen ließ dort seinen Reviergesang, ein anhaltendes Zwitschern mit eingestreuten Imitationen anderer Vogelstimmen erschallen.

      Simon streifte dann noch durch den Niedermarschachter Werder, es schien ein Tag zu sein, an dem die Elbmarsch ihren Artenreichtum in der Vogelwelt auch präsentieren wollte. Er freute sich über den Anblick von Fischreihern, mehreren Silberreihern und Weißstörchen, über das im Tiefflug das Schilfgebiet absuchende silbergraue Kornweihenmännchen, über Tafel-, Krick- und Löffelenten, Grau- und Kanadagänse sowie den aus den Buschinseln zu hörenden Gesang von Nachtigall, Mönchsgrasmücke und Zaunkönig.

      An den Bracks kamen Ringeltauben und ein Pärchen Türkentauben zur Tränke, Mehl-, Rauch- und auch Uferschwalben nahmen hier gern ein Bad, Bachstelzen widmeten sich am Ufer dem Insektenfang, Stockenten liebten die Sonneneinstrahlung am schräg aufsteigenden Ufer, und eine Reiherente behütete ihre wohl gerade erst geschlüpfte Jungenschar.

      Eine Erlenanpflanzung zeigte sich noch niedrig, aber dicht und grün in satten Farben, als Simon sich vorsichtig näherte, um mit dem Fernglas nach gefiederten Besuchern zu spähen.

      Ein gelber, unruhiger Fleck am kahlen Gewässerrand – eine Schafstelze diesmal und nicht die oft anzutreffende schwarzweiße Verwandte, der Wippsteert (der plattdeutsche Ausdruck für Bachstelze). Aber rechts hinten war noch mehr Bewegung. Ständige Bewegung! Vier nur starengroße, auf den ersten Blick als Wasser- und Strandläufer anzusprechende Federbälle trippelten dort emsig hin und her, wippten unentwegt mit Schwanz und Kopf, stießen gedankenschnell mit dem spitzen Schnabel nach einem Insekt, einer Schnecke oder einem Wurm am Ufer, einer Kaulquappe, Insektenlarve oder einem Rückenschwimmer im seichten Wasser und eilten schon wieder hurtig weiter, wobei die schneeweiße Unterseite aufblitzte. Die undeutliche Fleckung an den Brustseiten und die dunkelbraune Oberseite war klar im Glas zu beobachten. Diese unruhigen Geister hätten noch eher als die Bachstelze den Namen Wippsteert verdient! Simon wusste längst, wen er vor sich hatte – Flussuferläufer, die, wenn man sie überrascht, so schnell weg sind, dass der Unkundige sich fragt, was da wohl eben so blitzschnell abgestrichen ist.

      Die Bekassine, nicht umsonst nennt man sie auch Himmelsziege, ließ ihr Meckern hören, Simon hatte nichts zu meckern, er hatte wunderbare Beobachtungen gemacht.

      Der Frühsommer lag mit hohen Wärmegraden über der Elbregion, vereinzelt suchten mutige Badende schon Abkühlung in den Elbefluten, als Simon sich mal wieder mit dem Fahrrad zwischen Elbstorf und Drage der dortigen Kleientnahmestelle mit ihren Flachwasserbiotopen näherte.

      Als er einmal zu den Hausdächern von Drennhausen hinüberschaute, fielen ihm zwei kreisende Greife auf, die unmittelbar darauf hinter einem Weidendickicht zu Boden gingen.

      Der Vogelkenner hatte schon eine Vermutung, aber er wollte sich vergewissern und trat entschlossen in die Pedale. Ja, es waren zwei rostfarbene Rotmilane mit ihrem tief gegabelten Schwanz, die sich dort von einer Mahlzeit erhoben: Im Graben neben dem Weg lagen die Reste eines Marderhundes, wer weiß, wie er zu Tode gekommen war. Der Neubürger erobert sich kontinuierlich neue, zusagende Lebensräume.

      Die beiden Milane legten eine Ehrenrunde ein, während Simon weiterfuhr und sich wieder anderen Beobachtungen widmete. Sein Rad stellte er bald darauf an der Straße ab und pirschte vorsichtig los. Eine bestimmte Hoffnung kreiste in seinen Gedanken, eine Hoffnung, die bisher noch niemals erfüllt worden war …

      So hielt er seine Augen offen und achtete besonders auf die Kleinvogelwelt in den verstreuten Buschgruppen rings um die von vielen Vogelarten belebten Gewässer.

      Eine weiße Feder schwebte mit dem Westwind heran und blieb an einem skurrilen Baumstumpf hängen, dessen Ähnlichkeit mit einem Altmännergesicht Simon staunend und lächelnd bewunderte. Die Natur ist ein Künstler! Als er seine Blicke wieder erhob, fiel ihm eine Bewegung in den dahinter wuchernden Weißdornbüschen auf. Schnell nahm er das Glas an die Augen, und die Optik fing einen kleinen Singvogel ein, der gerade zu Boden flatterte, um sich sofort wieder, wenn auch nur für Sekunden, auf einem freien Ast zu präsentieren. Simon verschlug es fast den Atem! Nach dieser Art hatte er seit zwei Jahren „gefahndet“ und gehofft, sie hier zu sehen! Welch ein bunter, prächtiger Anblick, dieses Blaukehlchen! Der leuchtende Kehlfleck war durch ein schwarzes und rotbraunes Band vom hellen Bauchgefieder abgesetzt. Auch den weißen Fleck in dem wunderbaren Blau der Kehle sah Simon genau. Es war ein Weißsterniges Blaukehlchen, und als ihm der Name durch den Kopf ging, dachte er glücklich: „Jetzt habe ich meinen Stern gefunden, den Stern der Elbmarsch!“

      Fast eine Stunde blieb er am Boden auf dem trockenen Altgras hocken und konnte sich noch mehrere Male an dem schönen, seltenen Anblick


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