Hinter hessischen Gittern. Esther Copia

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Hinter hessischen Gittern - Esther Copia


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hatte die Situation erfasst.

      »Das ist Scheiße, Saletti. Wenn kommen deine Kollegen, ich mach dich tot.« Mit diesen Worten drückte er die Rasierklinge noch fester an Marias Hals, doch noch ehe er weitermachen konnte, hörten sie hinter sich die Stimme von Jan Gerber. Der Sicherheitsdienstleiter muss sich in der Nähe der Station aufgehalten haben, als der Alarm ausgelöst wurde.

      »Jetzt, Maria!«

      Das war der Startschuss zur Befreiung. Gerber schlug mit einem Schlagstock exakt auf den Nacken von Supulev. Gleichzeitig konnte Maria ihren rechten Ellenbogen in Supulevs Rippen schlagen und gekonnt nach unten wegtauchen. Sie war der Umklammerung entkommen. Jan ergriff blitzschnell Supulevs rechten Arm, drehte ihn auf den Rücken und drückte ihn nach oben. Supulev schrie vor Schmerz auf, ließ die Zahnbürste fallen, zeigte aber keinerlei Gegenwehr. Maria atmete auf. Die Anspannung wich langsam aus ihrem Körper. Wie konnte das passieren? Wieso war er nicht beim Sport? Hatte er sich beim Ausrücken zur Sporthalle irgendwo versteckt? Das würde sie klären müssen, damit so etwas nie wieder vorkam. Sie hatte das Gefühl, als wiche all ihre Kraft aus ihrem Körper. Schnell hielt sie sich am Stuhl in der Zelle fest. Sekunden später waren im Stationsflur etwa zehn Kollegen aus der Schicht versammelt. Die Schmerzensschreie nutzten Supulev nichts. Gerber und zwei weitere Beamte nahmen ihn in die Mitte und drückten ihn zu Boden. Er wurde peinlich genau abgetastet, und erst nachdem sichergestellt war, dass er nicht noch weitere gefährliche Gegenstände bei sich trug, sagte Jan Gerber:

      »Ab mit ihm in die B-Zelle. Und ruft sofort einen Notarzt, die Kollegin ist verletzt.«

      Erst da bemerkte Maria, dass ihr Diensthemd blutverschmiert war. Sie stellte sich vor den Spiegel in der Zelle. Aus einer kleinen Wunde an ihrem Hals sickerte Blut. Sofort kam Panik in ihr auf. Wenn die Klinge schmutzig war, hatte sie zwar den Angriff überstanden, aber sich vielleicht mit einer todbringenden Krankheit angesteckt.

Ein Jahr später Dienstag, 4. September

      1

      Irgendetwas störte sie. Ein Geräusch, das nicht in die Ereignisse passte. Maria driftete langsam in die Wirklichkeit. Gerade eben noch war sie in der Zelle des Geiselnehmers, sie spürte noch den feuchten, ekelhaften Atem an ihrem Hals. Diese Angst, die sie fast lähmte. Sie versuchte, Luft zu bekommen, aber sie atmete so schwer, als würde etwas auf ihrem Brustkorb liegen. Wieder und wieder vernahm sie das sonore Brummen des Weckers. Sie hatte nur geträumt, Gott sei Dank. Sie zwang sich, ihre Augen zu öffnen und nahm die letzten Gedanken des Traums mit in die Wirklichkeit. Ihre Hand ertastete den leeren Platz neben sich im Bett. Da war sie sofort wieder, die Traurigkeit und Leere, wenn sie an ihren Ex-Freund David dachte. Mühsam richtete sie sich auf. Bleiplatten schienen auf ihren Schultern zu lasten. Er hatte ihr nach dem Angriff im Gefängnis unmissverständlich klargemacht, dass er mit ihr nur zusammenbleiben konnte, wenn sie diese Arbeit aufgab. Er sagte, er könne die Angst, die er täglich hatte, wenn sie in der JVA war, nicht länger ertragen. Maria liebte David, sie konnte seine Befürchtungen auch verstehen, aber sie wollte ihre Arbeit nicht aufgeben. Nicht, dass sie die Arbeit in der JVA besonders liebte. Sie hatte schon einige brenzlige Situationen erlebt und empfand bei manchen Gefangenen echte Abscheu, aber sie hatte so für diese Arbeit gekämpft und war auch ein wenig stolz, dass sie es als Tochter von italienischen Einwanderern geschafft hatte, Beamtin zu werden. Diese Anstellung machte sie finanziell unabhängig, eine Tatsache, die für Maria sehr wichtig war. Sie hatte erlebt, wie sehr ihre Mutter nach der Trennung von ihrem Vater hatte kämpfen müssen. Keinesfalls wollte sie jemals von einem Mann abhängig sein. Beamtin zu sein, war für sie der Inbegriff der finanziellen Sicherheit, außerdem hätte sie umschulen müssen. Welchen neuen Beruf wollte sie denn erlernen? Nein, eine berufliche Veränderung kam für sie nicht infrage. So hatten sie die Beziehung nach fast sechs Jahren, in denen sie mehr oder weniger glücklich miteinander gewesen waren, beendet.

      Wie sehr sie diese Trennung schmerzen würde, hatte Maria unterschätzt. Es verging keine Stunde, in der sie nicht an David dachte. Ihre gemeinsamen Abende, an denen sie gekocht und von einer glücklichen Zukunft mit Kindern geträumt hatten, fehlten ihr sehr. Sie vermisste ihn mehr, als sie vor sich selbst zugeben wollte. Erschwerend kam hinzu, dass sie nicht wusste, wo sie einen anderen Mann kennenlernen sollte. Im Knast ganz sicher nicht. Sie war schüchtern und hatte es schon früher nicht geschafft, einen Mann anzusprechen. Online Dating war für sie nichts, da sie befürchtete, an einen ehemaligen Gefangenen zu geraten. Alleine ihr Profilbild in solchen Dating Portalen konnte ihr im Job das Leben schwer machen.

      Sie zwang sich, die Gedanken zu verscheuchen. Energisch schlug sie die Decke zurück.

      Seit einem Jahr musste sie wieder und wieder die furchtbare Situation in der Gefängniszelle durchleben. Eine posttraumatische Belastungsstörung löste sich nicht so schnell auf. Ihr Psychologe, den sie seit dem Angriff alle zwei Wochen aufsuchte, war zuversichtlich, dass es mit der Zeit besser würde.

      Fröhliches Vogelgezwitscher drang an ihr Ohr, und die Kirchturmuhr mahnte sie zur Eile. Sie schlüpfte aus dem Bett. Das Morgenrot kündigte die aufgehende Sonne an.

      Mit ihren Gedanken war sie schon in der Anstalt. Die letzten Monate hatten sie sehr angestrengt. Sie arbeitete in der JVA Dieburg, einem Männergefängnis, welches sich inmitten der Altstadt von Dieburg befand. Ein Job, der sie jeden Tag vor neue Herausforderungen stellte. Die unterschiedlichen Gefangenen machten die Arbeit spannend. Da gab es die Betrüger, die täglich bewiesen, dass sie studierten Psychologen in nichts nachstanden. Sie erkannten die Schwachstellen der Beamten sofort und verhielten sich bei jedem ein wenig anders, gerade so, wie es die Situation erforderte. Oder auch die gewaltbereiten Gefangenen, die, wenn ihnen die Worte fehlten, einfach zuschlugen. Da gab es diejenigen, die aufgrund ihrer Drogensucht und der damit verbundenen Beschaffungskriminalität einsaßen, und deren Gedanken den ganzen Tag nur um Drogen kreisten und wie sie diese in den Knast schaffen konnten. Und natürlich waren da die Unschuldigen, die aufgrund eines fürchterlichen Justizirrtums verurteilt waren. Viele Knackis erzählten dies so überzeugend, dass Maria manchmal wirklich an den Urteilen zweifelte. Bei genauerem Lesen der Akten erkannte sie jedoch schnell, dass viele Täter die Tat nur vor sich selbst verdrängten, weil sie so schlimm war, dass sie ihr eigenes Handeln nicht begreifen konnten. Dass nicht sein durfte, was nicht sein konnte.

      Maria drehte den Wasserhahn auf und trat unter die Dusche, wie immer morgens, ein Wettlauf gegen die Zeit. Nach 20 Minuten war sie soweit. Noch ein kurzer Blick in den Spiegel. In der Uniform gefiel sie sich ganz gut. Die dunkelblaue Hose in Kombination mit der taillierten weißen Bluse brachte ihren durchtrainierten Körper zur Geltung. Sie war schlank, obwohl sie von ihrer Mutter immer noch mit Pasta verwöhnt wurde. Das wöchentliche Karatetraining und auch das tägliche Treppenlaufen in der JVA mit ihren fünf Stockwerken hielten die Figur in Form.

      Als sie vor die Haustür trat, lugte gerade die Sonne über die Dächer der Kleinstadt. Sie liebte es, früh aufzustehen und so den Tag zu beginnen. Die Luft war frisch, und die Stadt war noch in ein warmes Licht getaucht. In wenigen Stunden würde es wieder sehr heiß sein, aber um die Uhrzeit war es noch angenehm kühl. Sie hörte die Amseln, die ihr Morgenlied anstimmten, als wollte der eine oder andere Vogel ihr einen schönen Tag wünschen. Den Rucksack gefüllt mit einem Thunfischsandwich und einer großen Flasche Wasser, lief sie die Straße zur JVA entlang. Sie ging mit großen Schritten, denn sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Sie stoppte. Von Weitem sah sie eine schwarze Katze, die von links nach rechts über die Straße schlich, als Maria die Groß-Umstädter-Straße entlang ging. Oh nein, nun durfte sie auf keinen Fall weiterlaufen. Pech konnte sie in ihrem Beruf nicht gebrauchen. Sie wartete einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen. Endlich fuhr ein Auto an ihr vorbei und nahm den Unglücksfluch mit sich.

      Als sie die Anstalt betrat, blickte sie in übernächtigte Gesichter. Die Kollegen der Nachtschicht waren bereits in der Pforte versammelt und warteten auf sie und die anderen Kollegen der Frühschicht. Sie durften erst nach Hause gehen, wenn ein Großteil der neuen Schicht anwesend war.

      Vor ihrem Schlüsselfach stand Markus Müller, der sie müde ansah und ihr einige Infos gab.

      »Guten Morgen, Maria, du hast wieder auf der II5 Dienst. Der Hattinger geht ab heute in die Schule, er darf um 6.30 Uhr die Anstalt verlassen, damit er


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