Kreuzberger Leichen. Dieter Hombach

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Kreuzberger Leichen - Dieter Hombach


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rufst du mich an?«, will er wissen.

      »Weil es nicht nur um eine Person geht, die abgängig ist.«

      »Um was geht es denn sonst?«

      »Der Hund des Mannes, dessen Frau nicht mehr da ist, hat eine Leiche aus dem Schnee gebuddelt.«

      Hartenfels reibt sich die Augen. Erst geschieht nichts, dann alles auf einmal.

      »Wo in Kreuzberg?«, hakt er nach.

      »Im Viktoriapark«, antwortet der Beamte.

      Hartenfels sieht den kleinen Berg vor sich, dessen Wiesen im Sommer voller Menschen sind. Wenn er sich richtig erinnert, gibt es sogar einen Wasserfall, den man an- und ausschalten kann.

      Je nach Wetterlage, denkt er, im Augenblick ist das Ding bestimmt außer Betrieb.

      Ein Blick in den Himmel reicht, um sich da sicher zu sein. Fette Flocken treiben auf ihn zu, er muss blinzeln, um überhaupt etwas zu sehen.

      »Und wie passt das zusammen?«, fragt Hartenfels weiter.

      »Was?«

      »Die vermisste Person und die Leiche.«

      »Ich verstehe nicht.«

      »Hat der Mann, der angerufen hat, gesagt, in welcher Reihenfolge das passiert ist?«

      »Das weiß ich nicht.« Sein Kollege scheint mit Papieren zu rascheln, Hartenfels hört ihn kaum mehr, vielleicht ist auch die Verbindung gestört.

      »Hat er zuerst seine Frau vermisst und dann die Leiche gefunden?«

      »Du kannst Fragen stellen.«

      »Oder haben er und seine Frau die Leiche gemeinsam entdeckt und danach ist sie weg?«

      »Also die Leiche ist noch da.«

      »Ich meine die Frau.«

      »Hm«, ist alles, was Hartenfels als Antwort erhält.

      »Vielleicht hat der Typ die Leiche ja nur gefunden, weil er seine Frau gesucht hat«, unternimmt er einen letzten Versuch.

      »Sein Hund ist auf die Leiche gestoßen«, lautet die Antwort.

      O Gott, denkt Hartenfels, so kommt er nicht weiter.

      Es hilft nichts, er muss selber zum Tatort. Es ist schließlich Hartenfels’ Job, Mordfälle aufzuklären. Natürlich steht bislang nicht fest, ob es sich bei der Leiche um ein Mordopfer handelt, aber das wird er herausfinden.

      Hartenfels beendet das Gespräch und überlegt, wer aus seinem Team frei ist, um mit ihm zu fahren. Hoffentlich sind wenigstens die Hauptstraßen geräumt, Schneefall kommt jedes Mal völlig überraschend.

      Wie Weihnachten, denkt er.

      2. Kapitel

      Hartenfels hat Reschke beauftragt, ihn zu begleiten, seine Spezialistin für Tatortfotografie. Reschke ist halb so groß wie er und schlank. Ihre Haare trägt sie etwa streichholzlang, was dazu führt, dass sie nicht wie bei einem Igel abstehen, sondern sanft in alle Richtungen kippen. Reschke findet es besser, wenn sich ihre Haare weich anfühlen. Sie streicht sich den Pony gefühlte hundert Mal am Tag aus dem Gesicht und genießt es, wenn er ihr zurück in die Stirn fällt. Reschke hat rote Haare, nicht feuerrot, sondern eher fahlrot, manche Sonnenaufgänge haben diese Farbe, Sonnenuntergänge nicht, die sind zu kräftig. Jeden Morgen tuscht sie sich ihre Wimpern, damit man sie überhaupt wahrnimmt. Sobald sie ihre Wimpern tuscht, werden sie zu einem echten Blickfang, weil sie sehr lang sind.

      Reschke ist durchtrainiert, Hartenfels, neben ihr auf dem Beifahrersitz, flößt ihr allein aufgrund seiner Körpermasse Unbehagen ein. Sie kann kaum hinsehen, wenn er im Sommer nur Hose und Hemd trägt. Sie versteht einfach nicht, wie ein Gürtel derart tief ins Fleisch schneiden kann, ohne dass es wehtut. Sollte sie sich einen Gürtel auf diese Weise umschnallen, bliebe ihr sofort die Luft weg. Hartenfels’ Körper muss schon mehr als üppig gepolstert sein, damit sein Gürtel keine lebenswichtigen Organe abklemmt.

      Andererseits, und das ist vielleicht noch erstaunlicher, ist Hartenfels schnell und gewandt, kein bisschen behäbig oder gar plump, was in absolutem Kontrast zu seiner Masse steht. Ihm in die Quere zu kommen, ist allein deswegen nicht ratsam. Im Gegensatz zu ihr braucht Hartenfels nicht zu trainieren, um gefährlich zu werden. Er wirft sich auf seine Gegner, das reicht. Unter Hartenfels begraben zu sein, ist das Ende.

      Reschke linst zur Seite, ohne den Blick wirklich von der Straße zu nehmen. Heute ist der Verkehr so unberechenbar, dass sie sich keine Ablenkung leisten kann. Trotzdem erkennt sie, dass Hartenfels’ Kleidung völlig aufgeweicht aussieht. Es ist oft der Fall, dass er unpassend angezogen ist. Wie soll ihn eine Lederjacke vor Schneefall schützen? Und dann die Schuhe! Als wollte Hartenfels auf dem Kudamm flanieren. Reschke hofft, dass er damit im Viktoriapark, zu dem sie fahren, den Kreuzberg überhaupt hinaufkommt.

      Hartenfels wollte wissen, ob sie sich dort auskenne.

      »Und ob ich mich da auskenne«, hat sie geantwortet. Reschke hat nicht umsonst jahrelang auf dem kleinen Berg Silvester gefeiert. Die Aussicht ist wirklich spektakulär. Vor allem wenn man sich ganz oben an dem kleinen Türmchen aufhält, das von Weitem wirkt, als wäre es mindestens die Spitze einer Kathedrale. Seit sie zum ersten Mal auf ihm herumgeklettert ist, um möglichst viel vom Feuerwerk zu sehen, weiß Reschke, dass es sich um ein Denkmal handelt. Natürlich von Schinkel, wir sind ja in Berlin. All das hat sie Hartenfels ziemlich überschwänglich erzählt, was eigentlich nicht ihre Art ist. Irgendwie sind die Erinnerungen an die Nacht der Nächte, die sie noch nie allein verbracht hat, mit ihr durchgegangen. Falls Hartenfels sich gewundert hat, hat er sich nichts anmerken lassen. Er kann überhaupt sehr schweigsam sein, etwas, das Reschke an ihm mag. Normalerweise hält sie selbst lieber die Klappe.

      Reschke hat die Großbeerenstraße, die direkt zum Denkmal und dem Wasserfall führt, fast erreicht, muss aber bremsen, weil ein LKW stur neben ihr fährt, weshalb sie keine Chance hat, rechts abzubiegen. Dabei blinkt sie schon eine halbe Ewigkeit.

      »So ein Arsch«, zischt Reschke, die Augen im Außenspiegel und halb damit rechnend, dass ihr Hintermann sie rammt. Weil Reschke es nicht toleriert, dass jemand sie blockiert, statt am Reißverschlusssystem teilzunehmen, nutzt sie eine Lücke vor sich aus und beschleunigt, um noch vor dem LKW abzubiegen.

      Und jetzt Powerslide, denkt sie, belässt es angesichts der Straßenverhältnisse jedoch lieber bei einem gewagten Schwenk.

      Sie ist ja nicht lebensmüde.

      Hinter ihr ertönt die Sirene eines Kreuzfahrtschiffs. Der LKW-Fahrer hupt so laut, dass es Reschke regelrecht nach vorn schiebt, Hartenfels stützt sich am Handschuhfach ab. So ist das eben, wenn man ein Zivilfahrzeug fährt. Reschke ist dankbar, dass Hartenfels weiterhin den Mund hält. Er legt die Hand, mit der er sich festgehalten hat, betont beiläufig in seinen Schoß. Das schätzt Reschke an ihrem Chef. Obwohl er selber defensiv und wie eine Schnecke fährt, lässt er sie machen, was sie will. Hartenfels hat ihren Fahrstil noch nie kritisiert, ihre Arbeit genauso wenig.

      Reschke wirft einen Blick nach hinten und vergewissert sich, dass ihre Fotoausrüstung bei dem holprigen und regelwidrigen Überholmanöver nicht vom Sitz gefallen ist – alles in Ordnung. Reschke liebt ihre fette Nikon und steht nicht nur beruflich auf Fotografie. Tatortfotografie ist für sie auch Fotokunst. Es vergeht keine Veranstaltung von C/O Berlin, dem Ausstellungshaus für Fotografie direkt am Bahnhof Zoo, die sie nicht besucht. Zwar fand sie es besser, als C/O Berlin noch im Postfuhramt in der Oranienburger Straße beheimatet war, aber das ist Geschichte. Reschke hat die unterirdischen Katakomben und verwinkelten Gänge gemocht, in denen die Ausstellungen damals untergebracht waren. Überall blätterte der Putz ab, fanden sich Wasserflecken und undefinierbare Verfärbungen, was einen irren Gesamteindruck ergab. Farbreste und verwischte Schriftzeichen rankten sich um die Fotos, rohes Neonlicht verlieh ihnen eine martialische Präsenz. Man hätte aus jeder Ausstellung eine weitere Ausstellung machen können, indem man die Fotos samt dem Raum, in dem sie hingen, noch einmal fotografierte. Die Räumlichkeiten des neuen C/O Berlin hingegen sind glatt und geleckt.


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