Schweigen über Köln. Maren Friedlaender

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Schweigen über Köln - Maren Friedlaender


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vor dem Einsetzen des Beifalls keifte die Musikliebhaberin aus der Reihe neun: »Unverschämtheit, das Konzert mit Ihrem Herumgespiele am Handy zu stören.«

      Tante Clarissa, die Theresas Notsituation kannte, drehte sich empört um und donnerte der Kritikerin entgegen: »Sie ist bei der Mordkommission, und eines verspreche ich Ihnen, wenn Ihr Mann Sie demnächst umbringt, wird meine Nichte nicht auftauchen.«

      »Das kann mir dann ja egal sein«, murrte die Alte und fiel danach in den Applaus ein.

      Theresa setzte Tante Clarissa ins Taxi, gab dem Fahrer die Anweisung, die alte Dame bis zu ihrer Haustür zu begleiten, und fuhr danach direkt zum Tatort. Es war kurz nach 21.30 Uhr und kaum Verkehr auf den Straßen. Sie brauchte von der Philharmonie 15 Minuten hinaus nach Lindenthal.

      Erinnerungen werden wach

      »Schick!«, kommentierte Marco Bär und deutete auf die schwarze Pashmina, die die Kollegin zum blauen Hosenanzug trug.

      »Für Beethoven«, lächelte die Kommissarin. »Auch Schumann, glaube ich.«

      »Ach – wieder mal im Konzert geschnarcht?«, grinste Bär, der die Schlafprobleme seiner Kollegin kannte.

      »Ja, dafür topfit für unseren Toten – oder ist es eine Tote?«

      »Ein Toter – er sitzt dort im Wagen.« Bär zeigte auf einen dunkelroten Renault Megane am Straßenrand.

      »Wo ist die Kollegin Burrenscheidt?«

      »Grippe.«

      »Gerade erst bei uns angetreten und gleich mal krank?«

      »Karneval!«

      »Ich kann’s nicht mehr hören. Karneval – ist das eine Krankheit?« Rosenthal war wütend. Erst feierten die Leute tagelang, und danach kam der Arzt.

      Der eher gemütliche, aber sehr akribisch arbeitende Kollege Oliver Korte hatte sie verlassen. Er war nach Bielefeld gegangen. Bielefeld – gab es die Stadt überhaupt? Rosenthal kannte sie nur als Autobahnabfahrt.

      »Ich vermisse Korte«, sagte die Kommissarin. »Was macht der bloß in Bielefeld?«

      »Ich vermisse Korte auch, aber ich glaube, die Eva ist okay.«

      »Eva ist die Burrenscheidt, oder was?«

      »Ja. Sie hörte sich gestern wirklich total erkältet am Telefon an, will aber morgen trotzdem kommen.«

      »Viren verteilen?«

      »Theresa!«, ermahnte Marco Bär. »Gib ihr eine Chance.«

      Rosenthal schaute sich am Tatort um. Durch den hektischen Aufbruch nach dem Konzert und die Verfrachtung von Tante Clarissa in ein Taxi kam sie erst jetzt zu sich. Ein ungutes Gefühl beschlich die Kommissarin. Die Szenerie. Der Tatort. Zufall?

      »Was ist los?« Bär schaute seine Kollegin prüfend an.

      »Wieso?«

      »Du siehst gerade aus, als sei dir ein Gespenst begegnet«, erklärte Marco Bär besorgt.

      »Nein, nein. Alles bestens.« Die Kommissarin beschloss, vorerst zu schweigen. Es war wichtig, dass das Team sich unvoreingenommen an die Arbeit machte. Sie ging hinüber zu dem Auto, das am Straßenrand, auf der Seite zum Stadtwald hin, parkte.

      »Kopfschuss«, erklärte der junge Gerichtsmediziner, dem sie das erste Mal begegnete. Er hatte Schnupfen und verbrauchte ein Papiertaschentuch nach dem anderen.

      »Ach was«, sagte Rosenthal trocken und begutachtete die Einschussstelle an der Schläfe eines Mannes mittleren Alters, vielleicht 50, der mit nach vorn gefallenem Kopf zusammengesackt und nach rechts gegen die Scheibe geneigt auf dem Beifahrersitz saß. Auf dem Schoß hielt der Mann eine Pistole. Sie zielte in Richtung Fahrersitz. Anscheinend war der Fahrer nicht getötet worden. Offensichtlich hatte er seine Waffe schneller gezogen.

      »Wo ist Herr Bellutt?«, fragte sie den jungen Rechtsmediziner. Sie arbeitete gern mit dem alten Kollegen zusammen. Bellutt war nicht nur Pathologe, er war nach 30 Jahren Tätigkeit in der Rechtsmedizin auch zum Philosophen mutiert, berufsbedingt.

      »Und Sie?« Rosenthal schaute den jungen Mann fragend an.

      »Markus Czerny, ich bin neu in der Abteilung von Dr. Bellutt.«

      »Rosenthal, willkommen. – Identität?«, wollte die Kommissarin wissen.

      »Ich hab’ meinen Ausweis nicht …«, stotterte der junge Rechtsmediziner.

      »Nicht Ihre Identität, die des Toten.« Theresa wusste selbst nicht, warum sie so ungeduldig reagierte. Irgendetwas saß ihr quer.

      »Nichts. Keine Papiere. Mal sehen, was die Fingerabdrücke uns verraten«, meldete sich Bär zu Wort.

      »Und der Wagen, belgisches Kennzeichen, oder?«

      »Ja, genau. Die Nummer habe ich an die Zentrale gegeben. Die recherchieren.«

      »Toll, dass überhaupt jemand zum Recherchieren da ist. In den letzten Tagen war ich allein auf weiter Flur. – Da der Tote sich wohl kaum nach dem Kopfschuss auf den Beifahrersitz rübergeschoben hat, suchen wir nach einem Fahrer, richtig?«

      »Richtig. Aber ich wäre dankbar, wenn wir wenigstens wüssten, wer der Tote ist«, nörgelte Bär. Er sah Arbeit auf die Abteilung zukommen. Unbekannte Tote machten erfahrungsgemäß mehr Umstände als die identifizierten. Manche der Unbekannten verschwanden in den Archiven auf nimmer Wiedersehen, andere Untote tauchten Jahre später wieder auf, konnten plötzlich zugeordnet werden. Hoffentlich machte das Opfer vom Stadtwald weniger Ärger.

      Auf der Stelle treten

      Sie tappten im Dunkeln – seit Tagen. Sie hatten nichts, fast nichts. Den Halter des Wagens konnten sie schnell identifizieren. Ein Mitarbeiter des Belgischen Rundfunks in Eupen, Robert Cremer. Rosenthal hatte die junge Kollegin Burrenscheidt zu dem Redakteur geschickt.

      Eva Burrenscheidt war ein üppiges Vollweib mit blonden schulterlangen Haaren und verschmitzten blauen Augen. Die Jeans saß knackig, die Bluse auch. Sie war in Marco Bärs Alter, Mitte 30. Die männlichen Kollegen legten in ihrer Gegenwart eine Überbietungshaltung an den Tag. Theresa Rosenthal mochte die neue Mitarbeiterin, fand es aber besser, sie sporadisch zu Außenrecherchen zu schicken, damit die Herren mal wieder an die Arbeit gingen und sich nicht wie die Gockel produzierten.

      Der Redakteur in Eupen hatte der jungen Kommissarin willig Auskunft gegeben. Cremer hatte seinen Wagen eine Woche vor dem Wiederauftauchen am Kölner Stadtwald als gestohlen gemeldet. Für die Tatzeit in Sachen Mord legte er ein wasserdichtes Alibi vor. Während der Unbekannte am Stadtwald erschossen wurde, saß Cremer im Rundfunk vor dem Mikrofon. Er berichtete live über das Thema Lebensmittelverschwendung: Jeder belgische Haushalt entsorge im Jahr Lebensmittel im Wert von 174 Euro in die Abfalltonne. »In der Wallonie werfen wir in diesem Jahr wieder Essbares im Wert von 1,4 Milliarden Euro effektiv weg. Jeder von uns muss sich darüber Gedanken machen, sein eigenes Gewissen erforschen«, forderte Cremer gerade in dem Moment, als sich das Drama am Kölner Stadtwald in seinem dunkelroten Renault abspielte. Die vollgestopften Plastiktüten hatten sich im wiederentdeckten Wagen übrigens nicht angefunden, was Robert Cremer zusätzlich verärgerte. Eine Lebensmittelverschwendung, die ihn schuldlos traf. Um sich aufzumuntern, lud er die Kommissarin Burrenscheidt zum Mittagessen ein. Ein kleiner Flirt – musste seine Ehefrau nicht erfahren. Eva lehnte freundlich ab. War vielleicht besser für Robert. Eupen war klein, und ein Geheimnis ließ sich dort schlecht hüten.

      »Warum macht sich jemand die Mühe, ein Auto in Belgien zu klauen, um darin in Köln einen Mann umzubringen?«, überlegte Bär daheim im Kommissariat. »Fälscht nicht einmal das Kennzeichen.«

      »Frag mich was Leichteres«, maulte Rosenthal. »Vielleicht hat er einen Hass auf Renaults.« Sie war genervt, weil sie in dem Fall kein Stück vorwärtskamen. In solchen Situationen gab es kräftig Druck von oben. »Mein erster Wagen war übrigens ein alter Renault 4, mittelblau, kastenförmig, mit so einer komischen Knüppelschaltung


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