Tübinger Fieberwahn. Maria Stich
Читать онлайн книгу.»T. Trost / airbnb«, las er die fetten Druckbuchstaben auf dem nächsten Schild. Wilde rümpfte die Nase. Von dieser Nachbarschaft war er nicht begeistert. Er hatte da schon zu viel von randalierenden und laut feiernden Touristen gelesen.
»Saskia Klaschke«, entzifferte er die verschnörkelten Lettern auf einem pergamentartigen Papier im Schilderhalter daneben. Die Buchstaben waren so ineinander verschlungen, dass Wilde Mühe hatte, sie zu lesen. Die Dame hatte er noch nicht kennengelernt.
»Rowena und Holger Kostka (Gartengestaltung)«, stand auf dem grüngestreiften Papier. Die Kostkas hatten einfach ihre Visitenkarte gefaltet und hinter das Plexiglas des Namensschildes geschoben.
Der nächste Briefkasten war unbeschriftet. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Wilde realisierte, dass da sein eigener Name fehlte.
Etwas verwirrt beschloss er, es den Kostkas gleichzutun. Er holte eine Visitenkarte aus dem Geldbeutel, knickte den Zusatz »Hauptkommissar« ab und schob das Kärtchen hinter das Glas. Schön sah es nicht aus, aber fürs Erste würde es genügen.
»Ambrosius Ackermann«, stand auf dem letzten Namensschild, in fetten Goldlettern auf schwarzes Papier gedruckt. Wotan kam sich plötzlich klein und schäbig vor. Das schien ein Mann mit großem Ego zu sein.
»Chef, wir könnten jetzt loslegen.« Die Treggelidis Brüder standen, mit dunkelgrauen Arbeitsmänteln bekleidet, im Flur.
Wilde warf einen Blick ins Freie. Es regnete nicht mehr und die Sonne probierte es wieder mit einigen freundlichen Sonnenstrahlen. Ben, der Rastaman, trug ein rotes T-Shirt über den Jeans. Er hatte sich zwei lange Pakete unter die Arme geklemmt und versuchte, auf den Knopf am Aufzug zu drücken.
»Bitte vorsichtig mit meinen Unikaten!«, ermahnte Wilde ängstlich. Er nahm ihm die beiden Stücke ab und betrat damit die Aufzugkabine. Die Wände waren für die Dauer der Einzüge mit braunem Packpapier abgeklebt worden. Wilde überlegte für einen kurzen Moment, welche Farbe die Kabinenwände darunter wohl hatten. Er wünschte sich jetzt einfach mal ein kräftiges Orange.
Frohsinn verbreitet der Eingangsbereich nicht gerade, dachte Wilde.
Die Brüder Treggelidis schoben jetzt die ersten Umzugskisten auf Rollwagen in den Lift und stiegen dann zu.
Nach drei Stunden Schlepparbeit lagen im Laderaum des Transporters nur noch Packdecken und Transportriemen.
Die Treggelidis Brüder standen auf der Terrasse im vierten Stock und rauchten eine Abschlusszigarette.
Die hatten sie sich verdient. Der Schlafzimmerschrank, die Regale im Wohnzimmer und die Garderobe waren aufgebaut. Sie hatten den massiven Eichentisch für die Küche durchs Treppenhaus gehievt. Der wuchtige Lehnsessel war nicht zerlegbar gewesen und musste in Millimeterarbeit auf demselben Weg nach oben.
Jetzt herrschte in der Wohnung ein großes Durcheinander. Obwohl er alles beschriftet hatte, schienen sich die Leute der Umzugsfirma nur bedingt daran gehalten zu haben und hatten die Kisten irgendwohin gestellt.
Die Wohnung war geräumig und sehr schön aufgeteilt. Obwohl er nie Zeit gehabt hatte, sich um das Wohnungsprojekt zu kümmern, gefiel sie ihm. Gleich an die Eingangstür schloss sich ein geräumiger Flur an. Von dort ging es rechts ins Schlafzimmer, das auch Zugang zum Balkon hatte. Eine weitere Tür links führte ins Bad mit Tageslicht. Daneben lag das Gästeklo und gegenüber die Tür zu seinem geplanten Arbeitszimmer.
Dann öffnete sich der Flur in den großen Raum, das kombinierte Wohnzimmer mit der Küche. Vor der Einbauküche stand sein Eichentisch mit acht Stühlen und die weiße Couch an der Wand. Die raumhohe Fensterfront gab den Blick auf den Balkon und auf das Nachbarhaus frei. Dort waren alle Rollos geschlossen.
Auf dem aufblasbaren Gästebett im Schlafzimmer, Siegrun hatte das Boxspringbett mitgenommen, lagen Berge von Kissen und Decken, Stühle waren übereinandergestapelt, Teppichrollen und mehrere lange Kartons waren gegen die Wand gelehnt und überall standen Umzugskisten.
Ben saß auf einem der Eichenstühle am Tisch und hatte den Essbereich in Besitz genommen. Vor ihm standen vier Flaschen Tannenzäpfle, die er gerade aus dem Kasten neben dem Kühlschrank geholt hatte. An Getränke hatte Wotan gedacht und auch noch einen Kasten Mineralwasser am Tag vor dem Umzug besorgt.
Ben strich sich mit dem Handrücken die Locken aus dem Gesicht. Dann zog er einen Zollstock aus der Hosentasche. Routiniert öffnete er mit vierfachem Plopp die Kronkorken.
Jetzt gab es erst mal die Pizzen, die man essen sollte, solange sie nicht völlig ausgekühlt waren.
Wilde stapelte die Kartons der Pizzeria »Da Giovanni« auf den Küchentisch. Gerade war er von dort zurückgekehrt. Ein Regenschauer hatte ihn erwischt, als er die Bestellung abholte.
»Nach 15.00 Uhr keine Lieferungen mehr, nur noch Selbstabholung!«, hatte ihn Giovanni aufgeklärt. Manchmal wäre so ein Auto schon praktisch, hatte Wotan gedacht. Aber er war bekennender Radfahrer.
Den grasgrünen Fiat Punto fuhr nur seine Frau beziehungsweise ehemalige Frau. Ob sie den Wagen wohl im Container nach Südafrika schippern ließ? Eigentlich war ihm das total egal. Den Tiefgaragenstellplatz in seinem neuen Wohnhaus würde er vermieten.
Der Kommissar rubbelte sich seine Haare mit einem Geschirrtuch trocken, das er wie durch ein Wunder zuoberst in einem Umzugskarton gefunden hatte.
»Chef, das Ding schließt aber nicht richtig«, bemerkte Aristos. Panagiotis und er hatten die Zigarettenpause auf dem Balkon beendet und machten sich an der raumhohen Drehkipptür zu schaffen.
Ächzend ließ Wotan sich auf einem Stuhl nieder und öffnete den obersten Pizzakarton. Wilde fühlte sich für einen Augenblick sehr erschöpft. So ein Umzugstag war anstrengend. Er fühlte ein Kribbeln in der Nase. Hoffentlich hatte er sich keine Erkältung geholt.
Genüsslich sog er den kräftigen Käsegeruch der Pizza Quattro Formaggio ein. Sein Magen knurrte wie der eines hungrigen Löwen.
Wilde nahm ein Stück, biss hinein, kaute mit geschlossenen Augen, genoss den Geschmack der italienischen Kräuter in der Tomatensoße. Er schluckte und biss wieder mit Heißhunger in das Pizzastück.
»Steht ganz oben auf der Mängelliste!«, antwortete Wilde undeutlich und wäre fast an einem Champignon erstickt. Er würgte und hustete. Ben reichte ihm eine Serviette.
Die Brüder schoben Kissen und Decken beiseite und setzten sich auf die verbliebenen Stühle an den Eichentisch. Ben reichte ihnen je ein Bier. Die vier Männer prosteten sich zu und jeder tat einen tiefen Schluck.
Kurze Zeit später saßen sie einträchtig kauend neben den Umzugskartons im Chaos.
»Chef, was ist eigentlich in den heiligen Kisten, die da an der Wand lehnen?«, wollte Ben wissen, nachdem er die Hälfte einer Pizza mit Meeresfrüchten verspeist hatte.
Wotan Wildes Augen begannen zu leuchten. Er erhob sich ganz langsam, fast feierlich. Die drei Männer beobachteten ihn erwartungsvoll.
3. Der Absturz
»Brauche dich dringend für meinen Bilderzyklus ›Vollmond‹ auf der Burg Hohenneuffen! Um 22.00 Uhr an der Baustelle! A.«
Auf einer Vernissage von Ackermanns Fotozyklus »Licht und Schatten« im Tübinger Schloss war ihm die Idee für seinen teuflischen Plan gekommen. Die SMS war der erste Teil davon.
Werner Wüst würde A. mit dem Namen Ambrosius Ackermann gleichsetzen. Da der Hobbyfotograf zu außergewöhnlichen Zeiten an außergewöhnlichen Orten fotografierte, verwunderte ihn nichts.
Die SMS war aber nicht von Ambrosius Ackermann, obwohl seine Nummer angezeigt wurde. Sie war von ihm! Man würde das aber nicht zurückverfolgen können. Zacharias, ein Mitglied des Chaos Computer Klubs und der Sohn seines Freundes Dieter, hatte das für ihn erledigt.
Dazu kam, dass er bei einem Ausflug Wüsts Namen auf dem Baustellenschild gelesen hatte, das am Eingang zum Burghof von Hohenneuffen stand. Hier war Werner Wüst noch als technischer Bauberater