Tübinger Fieberwahn. Maria Stich

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Tübinger Fieberwahn - Maria Stich


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verfrühte Panik! Da müssen wir gar nicht hoch! Jedenfalls nicht gleich jetzt! Wir müssen runter zum Bach.« Sie deutete den steilen Abhang hinunter, der mit Gebüsch, kleinen Bäumen und bemoosten Steinen bedeckt war. Ein schmaler Pfad schlängelte sich in einen Tobel. Unten plätscherte ein Bächlein. Wilde zog seine Jacke enger um sich. Ein kalter Ostwind blies an diesem Morgen.

      Er blickte auf seine blank gewichsten Halbschuhe. Das war hier nicht das geeignete Schuhwerk, stellte er fest und beneidete Bernadette um ihre Gummistiefel. Sie hätte aber auch ein Wort sagen können, obwohl er nicht aus dem Stand gewusst hätte, in welchem Karton seine Stiefel waren.

      »Du hättest mich auch vorwarnen können, dann hätte ich meine Gummistiefel mitgenommen!«, Wotan konnte sich die Spitze nicht verkneifen.

      »Frisch ans Werk!«, rief seine Assistentin, die schon den halben Weg nach unten bewältigt hatte.

      »Merde!«, fluchte Wilde laut. Er hangelte sich an den Bäumchen entlang nach unten und versuchte, nicht auf die Schnauze zu fallen. Immer wieder rutschte er mit seinen glatten Sohlen weg.

      »Dass ihr auch schon da seid!«, begrüßte sie Wolfgang Schickenrieder. Er nieste mehrmals und schnäuzte sich ausgiebig in ein kariertes Taschentuch.

      »Hier gibt es jede Menge von dem Birkenzeugs«, beschwerte er sich und zog den Wollschal enger um den Hals.

      »Dann nimm halt dein Nasenspray gegen die Allergie«, empfahl Wilde automatisch. Er betrachtete neidisch die Gummistiefel seines Kollegen.

      Der Tatort war mit einem rot-weiß gestreiften Flatterband abgesperrt. Vier Polizisten in Uniform standen um den Tatort und sicherten ihn. Sie wirkten übernächtigt und durchgefroren.

      »Heute nur kleine Besetzung?«, fragte Wilde einen Polizisten.

      »Penny Schönblick von der KTU und weitere Beamte sind seit Mitternacht in der Kunsthalle«, sagte der.

      »Wertvolles Gemälde vom Dingsda, ich komm jetzt nicht drauf, ist weg«, mischte sich Wolfgang ein, »bin kein Kunstkenner.« Er rieb sich seine geröteten Augen und nieste wieder.

      Armer Kerl, dachte Wilde und fragte: »Wer hat ihn gefunden?«

      Wolfgang Schickenrieder zog einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche, blätterte darin herum und las: »Ein Oliver Grimm hat um 4.00 Uhr auf der Dienststelle angerufen. Er war hier joggen. Er hat mit seinem Bruder Eugen für den Zugspitz Ultra Trail im Juni trainiert. Sie haben die Leiche hier unten liegen sehen. Waren beide total durch den Wind.« Wolfgang ging um den Toten herum.

      »Und?«, fragte Wilde, hielt sich an Wolfgang fest und putzte mit einem Papiertaschentuch den Matsch vom linken Schuh.

      »Wir haben den beiden ein Taxi bestellt und sie nach Hause geschickt. Sie kommen morgen aufs Revier«, sagte Wolfgang. Wilde nickte.

      Der Pathologe Julius Burmeister, in einen weißen Ganzkörperanzug gekleidet, streifte gerade seine Kapuze ab und klappte einen silberfarbenen Metallkoffer zu. Wilde balancierte über die Steine, um näher an das Opfer heranzukommen.

      Der Mann lag seltsam verkrümmt mitten im Bachbett. Wilde sah zunächst nur die nackten Füße, die unter einem Gewirr aus Balken und Bauschutt herausragten. Die Hosenbeine waren bis zu den Kniekehlen hochgeschoben.

      Die Leiche lag auf dem Bauch, den Kopf nach links gewandt. Das Wasser des Baches suchte sich einen Weg zwischen dem Balkenchaos und abgerissenen Ästen. Wilde konnte erkennen, dass der Mann eine gelbe Regenjacke trug. Der Hinterkopf wies eine tiefe Wunde auf und die Haare waren vom Blut verklebt.

      Das Gesicht lag im Wasser. Die Hände hatten sich in den schlammigen Boden gekrallt. Daneben lag eine schwarze Stretchtaschenlampe. Wie durch ein Wunder war sie unversehrt geblieben und leuchtete immer noch vor sich hin.

      »Ist der vom Himmel gefallen?«, fragte Wotan Julius Burmeister. Beide sahen zur Burgruine hinauf. Bernadette stand auf der anderen Seite des Baches.

      »Das glaube ich nicht!«, sie beugte sich über den Toten und versuchte, das Gesicht zu erkennen. Unter den dunklen Haaren sah man nur leichenblasse Haut. Wolfgang hockte auf einem Stein und starrte Burmeister erwartungsvoll an.

      »Sturz aus großer Höhe.« Der Pathologe deutete zur Burgmauer empor, die teilweise von einem Baugerüst verdeckt wurde. »Todeszeitpunkt kann ich dank diesem kalten Rinnsal nicht genau sagen. Vielleicht so um Mitternacht. Todesursache, na ja, ihr seht ja die Mauersteine und massiven Balken. Die Wunde am Hinterkopf ist natürlich auch auffällig. Mehr nach der Obduktion. Dann frohes Schaffen, meine Herren! Die Dame!«

      Er zog einen nicht vorhandenen Hut und bog vergnügt pfeifend in einen gepflasterten Weg mit gelber Beschilderung ein.

      Wilde sah Julius erleichtert hinterher. Es gab also auch einen begehbaren Weg nach oben, der nicht nur für Bergziegen geeignet war. Ihm war klar, dass sie der Burg wohl oder übel einen Besuch abstatten mussten.

      »Da ist er runtergekommen.« Wolfgang deutete nach oben. Aus der maroden Burgmauer hatten sich Steine gelöst und einen Teil des Gerüsts mit sich gerissen.

      »Dann mal hinauf in luftige Höhen!«, flachste Bernadette. Nach zehn Minuten standen die drei schwer atmend im Burghof.

      Unterwegs hatten sie die Angestellten des Bestattungsunternehmens mit einem Metallsarg getroffen. Die armen Schweine mussten den schweren Leichnam den Berg hochschleppen. Sie taten Wilde leid.

      Weiter hinten im Hof lagen Baumaterial, Zementsäcke und Pflastersteine. Neben einem Bauwagen lehnte ein blaues Dixi-Klo. Ein Schild am Eingang zum Burghof verkündete: »Betreten der Baustelle strengstens verboten!«

      Bernadette löste sich aus der Gruppe und begann, den Bauwagen zu umrunden. Wilde schritt zügig auf das Dixi-Klo zu und verschwand darin. Schickenrieder schnäuzte sich lautstark. Dann zog er sein Smartphone heraus und fotografierte die weißen Sneaker, die neben dem herausgebrochenen Mauerstück standen. Blaugestreifte Armanisocken lagen sorgfältig gefaltet daneben.

      »Ob die wohl unserem Toten gehört haben?«, fragte Bernadette in die Runde.

      »Das werden wir sehen!« Sie zog einen Plastikbeutel aus ihrer Jackentasche. Schickenrieder streifte sich dünne Plastikhandschuhe über und steckte Schuhe und Socken in das Behältnis. Der kalte Wind hatte etwas nachgelassen. Er wehte weiße Blütenblätter und süßen Fliederduft über den gepflasterten Hof.

      Wilde setzte sich auf die Bierbank neben dem Bauwagen. Bernadette und Wolfgang gesellten sich dazu. Wolfgang holte ein Fläschchen Nasentropfen aus der Hosentasche, legte seinen Kopf in den Nacken und tröpfelte zwei Tropfen in jedes Nasenloch. Im Frühling, sobald die ersten Weidenkätzchen blühten, kämpfte der Ärmste jedes Jahr mit seiner Pollenallergie. Er schniefte. Dann schwiegen die drei in stiller Übereinkunft und ließen den mutmaßlichen Tatort auf sich wirken.

      Es herrschte idyllische Ruhe. Vögel zwitscherten, ein Kuckuck rief. Plötzlich ertönte ein silberheller Gongschlag und dann setzte leise fernöstliche Musik ein.

      Hinter dem Burgfried trat eine schmächtige Frau hervor. Ihre dunklen Haare hatte sie im Nacken zusammengebunden. Sie trug eine schwarze Yogahose und eine graue Vliesjacke mit Kapuze.

      Sie legte einen Gegenstand auf den Boden und stellte eine Thermoskanne und einen Becher daneben. Ihre Füße waren hüftbreit aufgestellt, ihren Rücken hielt sie gerade wie eine Statue. Dann hob sie langsam den Kopf und blickte der aufgehenden Sonne entgegen, die sich durch die grauen Wolken quälte. Jetzt begann sie sich in fließenden Bewegungen wie in Zeitlupe zu bewegen.

      Sie streckte die Arme aus, fing einen imaginären Ball, drehte den Kopf ganz sacht, strich sich über den Bauch. Dabei blickte sie wie in Trance über die Burgmauer hinweg weit ins Land hinaus, über blühende Obstwiesen, Weinberge, Hügel, Straßen und Wälder. Überall stiegen leichte Nebelschwaden auf.

      »Qigong«, flüsterte Bernadette, »die acht Brokatübungen-Baduanjin.«

      Wilde sah sie fragend an.

      »Die Kultivierung des Qi durch Atmung und Vorstellungskraft«,


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