Tübinger Fieberwahn. Maria Stich
Читать онлайн книгу.sich die Truppe auf die Fotos an der Tafel.
»Was wissen wir schon von dem Toten von Hohenneuffen?« Robert Altmann nahm den Becher mit dem Tee, öffnete den Deckel und schnupperte.
»Warum hast du keinen Rooibos Orange genommen?«, fragte der Teekenner anklagend.
»War aus! Vanille wird dich nicht umbringen!«, antwortete Wolfgang gleichmütig und biss in seine Butterbrezel.
»Also Schluss jetzt mit den Essensgesprächen!«, fuhr Wilde dazwischen. »Welche Infos gibt es zur Identität der Barfußleiche?«
Bernadette stand auf und ging zur Tafel. Mit weißem Filzer schrieb sie unter das vergrößerte Passfoto »Werner Wüst«. Sie malte ein Kreuz vor seinen Namen.
»Der Tote war ein gewisser Werner Wüst«, sagte sie ergänzend. »Geboren am 2.8.1957 in Tübingen. Er wohnte hier in der Meisenstraße drei. Ein Schickimicki-Viertel, wenn ihr mich fragt. Er fuhr einen Porsche Chayenne, laut Kraftfahrzeugschein. Außerdem waren in seinem Geldbeutel noch Karten von einem Fitnesstempel, obwohl er nicht so aussah, als wäre er einmal dort gewesen, die Eintrittskarte zur Spielbank im SI-Centrum in Stuttgart, ein Organspenderausweis, diverse Kreditkarten, ein Foto von einem sehr gut aussehenden dunkelhäutigen Mann und etwa 200 Euro in bar. Wir haben seinen Wohnungs-, nicht aber seinen Autoschlüssel gefunden.«
»Hat man seinen Wagen an der Burg entdeckt?«, fragte Wilde.
»Nein, da sind wir noch dran«, antwortete Bernadette.
Jetzt meldete sich Robert Altmann zu Wort: »In seiner Hosentasche war ein iPhone, das neueste Modell von Apple. Leider hat es durch das Wasser und den Aufprall Schaden genommen. Unsere Techniker sind aber dran und versuchen, zumindest den Speicherchip zu retten.«
»Hat ihn noch niemand vermisst?« Wilde legte die angebissene Butterbrezel auf eine Serviette und rührte den Kaffee um.
»Robert, du schaust mal in der Meisenstraße vorbei. Wir kennen seinen Familienstatus nicht. Du bist doch der Einfühlsamste von uns!«, schmeichelte Bernadette.
Der zog eine Grimasse und schob seine Lesebrille auf die Stirn. Außendienst war nicht so sein Ding. Er widmete sich lieber Computerproblemen. Bernadette knabberte dem Croissant eine Ecke ab und wischte sich die Brösel von ihrer Jeans.
»Was sagt eigentlich unser allseits geschätzter Pathologe Herr Burmeister? Gibt es schon Fakten von der Obduktion oder soll ich mal anrufen?«, fragte Wolfgang dazwischen.
»Ich fahr nachher mal bei ihm in der Pathologie vorbei«, beeilte sich Bernadette zu versichern. Wenn man genau hinsah, konnte man das Leuchten in ihren Augen bemerken.
Robert machte hinter ihrem Rücken einen Kussmund und Wotan klimperte mit den Wimpern und zog seine gespitzten Lippen mit einem imaginären Lippenstift nach. Jeder hier wusste, dass Bernadette einen Narren an dem smarten Kollegen gefressen hatte.
»Ich fasse zusammen«, Wilde wandte sich wieder seinem Laptop zu, »der gute Mann heißt Werner Wüst, hat ein teures Auto, wohnt in einer teuren Wohngegend in Stuttgart, geht ins Spielcasino, geistert nachts mit einer Stablampe über den Burghof von Hohenneuffen. Wie er dorthin kam, ist rätselhaft. Er macht schließlich einen Kopfsprung von der Burgmauer. Wir warten mal ab, was der Doc sagt.«
»Das Seltsamste ist aber, dass er vor seinem Sprung in den Abgrund seine Schuhe und Socken auszieht und sie fein säuberlich abstellt.« Bernadette zeigte auf das Foto mit den ordentlich abgestellten Mokassins.
Ratloses Schweigen machte sich breit. Alle starrten auf die Schuhe und ein Foto von den nackten Füßen des Opfers. Wotan zuckte die Schultern.
»Das Problem werden wir wohl jetzt nicht lösen!«, meinte er. »Robert und Wolfgang, ihr stattet der Wohnung von Wüst einen Besuch ab, Bernadette, du schaust beim Doc vorbei! Und ich versuche, noch mehr über den Toten zu erfahren!«
Wotan stand auf und steuerte auf seinen Schreibtisch zu. Auch die anderen brachen auf.
»Nehmt ihr den Dienstwagen! Ich fahre mit meinem gelben Flitzer!«, meinte Bernadette und warf Wolfgang den Autoschlüssel für den BMW zu.
6. Der seltsame Geruch
»Leopold! Hier, nimm die Mütze mit! Es ist kalt!«, rief Saskia Klaschke ihrem Sohn vom Balkon aus zu und hielt die graue Wollmütze in die Höhe.
»Lass gut sein, Mütterchen! Ich bin schon groß!«, rief Leopold, und sag nicht immer Leopold zu mir. Das macht mich alt, setzte er in Gedanken hinzu und grinste innerlich.
Der hochgewachsene junge Mann auf dem Gehweg winkte seiner Mutter kurz zu, zog sich die Kapuze über den Lockenkopf und rannte durch den Nieselregen in Richtung Blaue Brücke und zu seinem Unigebäude. Sein Donnerstagseminar bei Professor Horneber begann in 20 Minuten. Da musste er sich beeilen.
Saskia Klaschke schloss die Balkontür und warf die Mütze über einen Garderobenhaken.
»Und sag nicht immer Mütterchen zu mir. Das macht mich alt«, murmelte sie vor sich hin und lächelte. Er war schon ein guter Junge, der Leo. Sie hatte ihn sehr vermisst, als er nach dem Abi mehrere Monate als Backpacker durch Asien, Australien und Neuseeland gereist war.
»Weißt du, Ma, ich brauch erst mal ’ne Auszeit. Ich hab noch keine Ahnung, was ich studieren soll«, hatte er erklärt. Sie hatte ihm verschwiegen, dass sie seine Reisen im Internet akribisch mitverfolgt und sich über Land, Leute, Speisen und Klima informiert hatte. Nach seiner Rückkehr schrieb er sich an der Uni Tübingen für Computational Linguistics ein. Sie hätte eher einen Studiengang erwartet, der sich mit Sprachen oder Geschichte beschäftigte.
»Weißt du, Ma«, hatte er ihr erklärt, »IT-Spezialisten sind gefragt, das hat Zukunft.«
Im Studentenwohnheim in Dehrendingen stand er auf der Warteliste. Jetzt bewohnte er vorübergehend ein Zimmer im Hotel Mama: Neubau, Südseite mit Blick auf den Kinderspielplatz, Gästebad, Frühstücks- und Wäscheservice.
Saskia machte einen Schritt in Leos Zimmer. Der Computertisch mit den beiden 16 Zoll Bildschirmen und dem Kabelgewirr drum herum erschien ihr wie die Kommandozentrale für ein Raumschiff.
Auf dem hellen Parkett lagen aufgeschlagene Aktenordner und Lehrbücher. Saskia bückte sich und streckte die Hand aus, um die Wäschestücke auf dem Boden und dem zerwühlten Bett einzusammeln.
Sie hielt inne und schnupperte. Es roch irgendwie seltsam hier. Saskia warf einen Blick in den Papierkorb, der jedoch nur eine leere Chipstüte enthielt.
Sie stutzte einen Moment, machte dann auf dem Absatz kehrt und schloss energisch die Tür hinter sich. Nein, das war Leos Zimmer. Dafür war nur er verantwortlich.
Sie hatte als alleinerziehende Mutter genug zu tun. Es lagen bewegte Zeiten hinter ihr. Nach der Trennung von Johannes, dem Fantasten und Traumtänzer, der mit Kind und Familie überfordert war, jobbte sie beim Schmuckhersteller »Silber & Bernstein«.
Sie hatte sich zur Leiterin der Designabteilung hochgearbeitet. Nachdem die Firma von einem chinesischen Investor gekauft worden war und dessen billige Produkte verkaufte, hatte sie gekündigt und sich selbstständig gemacht. Sie hatte da keine Zukunft für sich gesehen und wollte keinen billigen Modeschmuck verkaufen.
Jetzt entwarf sie eine eigene Schmucklinie, schrieb Fachbücher über römischen Schmuck, ein uraltes Hobby von ihr, und arbeitete nebenbei als Sachverständige für Schmuck, was ihr immer wieder Reisen ins europäische Ausland bescherte.
Ihr Terminkalender war gut gefüllt. Sie hatte einen netten Bekanntenkreis.
Dennoch fühlte sie eine gewisse Leere in ihrem Leben, ein Sehnen nach Austausch und Gleichklang, nach heißen Liebesnächten. Sie schaute einfach zu viele Rosamunde-Pilcher-Filme.
Ihr Blick fiel auf die Prospekte, die auf dem Garderobenschrank lagen. Ganz oben lag der Bericht von Daniela Leinweber, der Frau, die zu sich fand und nebenbei noch 50 Kilo abnahm während ihrer Wanderung im Südwesten Englands. Sie war zwei Monate an der atemberaubenden Küste entlang, der Rosamunde-Pilcher-Filmkulisse,