Tübinger Fieberwahn. Maria Stich
Читать онлайн книгу.und den dunklen Rändern unter den Augen konnte er verzichten. Ihm war kalt, das Schlucken tat ihm weh. Er nahm einen Schluck aus der Flasche mit dem Mundwasser, legte den Kopf in den Nacken und gurgelte lautstark. Siegrun hatte das Geräusch gehasst.
»Du klingst wie ein Walross«, hatte sie immer genörgelt. Wilde nahm einen weiteren Schluck und gurgelte nochmals laut und ausgiebig. Jetzt war er ein freier Mann!
Langsam kamen seine Lebensgeister zurück. Er erinnerte sich dunkel, dass er gestern Abend mit sich selbst und einem Sixpack Tannenzäpfle auf das neue Leben angestoßen hatte. Sein Kopf schmerzte. Jetzt wäre ein Aspirin das Richtige, aber der Inhalt der Hausapotheke war noch irgendwo eingepackt.
Bernadette hatte bestimmt eine Tablette in ihrer unergründlichen Gucci Handtasche. Ihm wurde leicht schwindelig, als er sich hinunterbeugte, um die Jeans anzuziehen. Den dunkelblauen Rolli, der vom Vortag auf dem Badewannenrand lag, zog er sich über.
Dann trat er ins Wohn-Esszimmer und blieb unschlüssig vor der Arbeitsplatte der Küchenzeile stehen. Traurig starrte er auf die Kaffeemaschine. Wo sich wohl die zugehörigen Pads versteckten? Für eine ausgiebige Suche hatte er jetzt keine Zeit.
Er drehte sich um und betrachtete seine Schätze auf dem Küchentisch.
Zärtlich fuhr er mit dem Daumen über die messerscharfe Klinge des wertvollen Katana Schwerts, das er gestern ausgepackt hatte. Der Umzugscrew hatte er begeistert von seiner Schwertsammlung berichtet. Besonders Ben, der Rastaman, schien schwer beeindruckt von seinen Erzählungen.
Sein Geldbeutel lag neben dem Schwertbeutel mit dem eingestickten Muster aus japanischen Schriftzeichen. »Hüter des Lichts«, stand da angeblich.
Den drei Männern der Firma »Umzüge Federleicht« hatte er ein fürstliches Trinkgeld gegeben. Er steckte das Portemonnaie in seine Gesäßtasche. Dann schlüpfte er in seine Lederjacke und seine schwarzen Budapester. Die handgefertigten Halbschuhe standen am Boden neben den leeren Pizzakartons und Bierflaschen des letzten Abends.
Wilde seufzte, als er über das Chaos blickte.
»Alles der Reihe nach, Wotan! Jetzt hat erst mal eine Leiche nach dir verlangt!«, sagte er halblaut.
»Alexa, mach das Licht aus!«, ergänzte er lauter.
Er warf die Wohnungstür ins Schloss und drückte den Schalter für das Flurlicht. Zufällig erwischte er erst einmal seine eigene Wohnungsklingel. Der Lichtschalter war genau darüber angebracht. So hörte er das erste Mal den Ton seiner Glocke. Sie hatte einen schrecklichen Klang. Sie schrillte wie eine Sirene. Er wollte den Hausmeister fragen, ob man das umstellen konnte. Wie hieß der schnell noch wieder? Er tröstete sich damit, dass der Name unten am Briefkasten stand.
Dann lief er aus alter Gewohnheit die Treppe hinunter. Im ersten Stock fiel ihm ein, dass es ja einen Aufzug gab.
Im Treppenhaus stieg ihm ein widerlicher Geruch in die Nase. Er hielt die Luft an und stürmte weiter. Kam das noch vom Abendessen der anderen Anwohner? Kochten die alte Wollsocken?
Im Erdgeschoss angekommen, stand das Bobbycar mit dem Anhänger noch immer unter den Briefkästen. Die Tiere im Hänger waren mit dem kleinen König über Nacht in der Wohnung verschwunden. Aus den Briefkästen hingen Werbeprospekte eines Supermarktes. Er musste einen Keine-Werbung-Sticker auf seinen Kasten kleben, fügte er seiner imaginären Merkliste hinzu. Einen kurzen Augenblick überflog er die Namen an den Kästen. Kostka, Holger Kostka hieß der Mann mit der Gartenfirma und Teilzeithausmeister.
Bestens informiert, trat Wotan Wilde aus der Haustür. Der schwarze 5er BMW der Polizei parkte direkt vor dem Haus. Er erkannte Bernadettes schmale Silhouette auf dem Fahrersitz. Sie nippte an einem Kaffeebecher und nickte mit dem Kopf rhythmisch zur Musik. Ihr Pferdeschwanz wippte unternehmungslustig.
Hoffentlich hatte seine Kollegin ihm auch einen Kaffee mitgebracht. Wilde öffnete die Beifahrertür und ließ sich ächzend auf den Sitz fallen.
Sofort schaltete Bernadette die Musik aus. Sie wusste, dass ihr Chef Musical-Musik verabscheute.
»Morgen, Prinzesschen!«, brummte er. Seine Assistentin sog hörbar die Luft ein. Sie mochte es nicht, wenn er sie so nannte. Natürlich war sie ein Prinzesschen, das musste sie zugeben, aber nur in ihren Kreisen und nicht im Job. Sie konnte ja nichts dafür, dass sie eine von Hohenstein war. Aber das würden ihre Kollegen wahrscheinlich nie kapieren. Jetzt war sie die stahlharte Ermittlerin an Wotans Seite. Sie grinste innerlich.
»Na, wie du aussiehst, hast du wieder mal durchgemacht«, holte Bernadette zum verbalen Schlagabtausch aus.
»Umzugsparty mit DJ Chaos und seinem Bruder Tannenzäpfle. Hast du ’ne Tablette für mich?«, erwiderte Wilde, ohne auf die Frotzelei einzugehen. Bernadette hielt ihm einen Kaffeebecher hin.
»Wilde Krönung von McDo«, sagte sie.
Wilde nahm einen Schluck und verzog das Gesicht: »Zucker fehlt!«
Bernadette kramte unbeeindruckt in ihrer Tasche, drückte eine Tablette aus einem schmalen Blisterstreifen und reichte sie Wilde.
»Und?«, Wilde spülte die Tablette mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter, wobei er wieder leidend den Mund verzog.
»Was und?«, antwortete Bernadette und drückte auf den Starter des Autos.
»Tatort, Opfer, Verdächtige, Täter, Hund, Katze, Maus«, leierte der Kommissar mit monotoner Stimme herunter.
»Burg Hohenneuffen, männliche Leiche, vermutlich kein natürlicher Tod, Täter unbekannt!«, antwortete Bernadette mechanisch und steuerte das Auto mit quietschenden Reifen auf die B28.
»Mit Bernie on the road!«, murmelte Wotan und tastete demonstrativ nach dem Haltegriff.
Den Spitznamen »Bernie« hatte sie nicht von ungefähr. Sie fuhr zwar nicht sehr gerne Auto, dafür aber schnell. Bernie Ecclestone, der frühere Sportfunktionär der Formel 1, war daher ihr Namenspate.
Wilde klickte den Sicherheitsgurt zu und blickte aufs Navi.
»Aha, 26,9 km und 28 Minuten. Dann sind wir um 5.30 Uhr da. Über Riedlingen und Pfullingen.« Seine Fahrerin schaltete SWR 3 ein und raste schweigend durch die Dämmerung.
»Vorsicht, auf der Uracher Straße stehen zwei Blitzer!«, warnte der Verkehrsfunk. Der Regen trommelte auf das Autodach, als sie durch die menschenleeren Ortschaften fuhren. Die Straßenlampen spiegelten sich in der regennass glänzenden Straße. Erste Busse und Autos waren unterwegs.
Nach 25 Minuten bog der Wagen auf den Besucherparkplatz unterhalb der Burg ein. Kies spritzte, als er neben dem weißen Bus der Spurensicherung und zwei blauen Polizeiautos zu stehen kamen. Aus einem Lastwagen der Bereitschaftspolizei luden Beamte in grünen Einteilern Gestänge und Scheinwerfer.
Auch der graue Volvo Kombi des Pathologen Julius Burmeister stand schon da. Bernadette wunderte sich, dass ein Junggeselle mit gutem Gehalt so eine Familienschüssel fuhr. Aber ihr Kollege Robert Altmann hatte ihr erklärt, dass es sich um ein R-Design Modell mit über 300 PS handelte, also ein echtes Sportgerät.
Wotan ließ seinen Blick über den ausgedehnten Parkplatz schweifen. Der Größe nach schien Burg Hohenneuffen ein beliebtes Ausflugsziel zu sein. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Es musste ein Maiausflug nach ihren Flitterwochen in Südfrankreich gewesen sein. Das waren noch glückliche Zeiten!
»Wotan, nicht einschlafen!«, riss ihn Bernadette aus seinen Erinnerungen.
Wilde stieg aus und blickte zur Burganlage, die hoch über ihnen thronte. Er ahnte Schreckliches.
»Müssen wir da rauf?«, fragte er mit leidender Stimme. Es hatte aufgehört zu regnen. Wilde machte einen scharfen Schlenker um eine riesige Pfütze und blieb interessiert vor einer Infotafel stehen.
Die Wanderungen am Albtrauf waren farbig markiert und mit kurzen Beschreibungen versehen.
»Hohenneuffen Tour 1«, las er mit erhobener Stimme, »Rundwanderung, kurzer Weg durch den Wald mit toller Aussicht, 4,8 km, 230 Höhenmeter.« Bernadette hörte