Wenn Löwen weinen. Mick Schulz

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Wenn Löwen weinen - Mick Schulz


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Hella, auch wenn sie sich darüber ärgerte, dass er sich die Ergebnisse der KTU beschafft hatte, ohne sie ihr weiterzuleiten. Offenbar verdankte er dies seinen Beziehungen, obwohl die Kollegen ausdrücklich instruiert waren, die Ergebnisse zuerst ihr mitzuteilen.

      Augenblicklicher Stand der Dinge war: Es gab einen Leichenfund, es lag ein Tötungsdelikt vor, sie kannten die Identität des Toten, allerdings fehlte die Waffe, und der Kreis von Tatverdächtigen konnte die halbe Stadt sein. Sie hatten kein konkretes Verdachtsmoment an der Hand, von einem belastbaren Motiv ganz zu schweigen. Nähere Untersuchungen liefen noch, Ergebnisse nicht vor morgen, und es galt die alte Regel: Bei Fällen, die nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden gelöst wurden, sank die Aufklärungsquote rapide. Das bedeutete: Hella musste das Tempo der Ermittlungen hochfahren.

      »Versuchen Sie weiter, so viele Fakten wie möglich über Jelinski zu sammeln«, gab sie Tom auf. »Vor allem müssen wir herausfinden, wem er als Straßenherz im Laufe der Jahre besonders auf die Füße getreten ist.«

      Als Tom Seipold gegangen war, warf Hella einen Blick auf ihre E-Mails. Fischbach hatte bereits jede Menge Fotos von Jelinski als Museumsdirektor geschickt. Eines von ihnen zoomte sie heran. In der Vergrößerung bestachen die wachen Augen, der schalkhafte Zug um den Mund, der Humor vermuten ließ. Dabei war der Mann nicht auffallend gut aussehend. Vielleicht strahlte er das aus, was man Charisma nannte. Allein das geheimnisvolle Doppelleben faszinierte sie. Nicht nur vor der Öffentlichkeit hatte er es erfolgreich verborgen, der Gedanke an die dilettantischen Ölgemälde in seiner Wohnung ließ Hella kurz laut auflachen. Seine Frau Désirée hatte er damit geradezu verspottet. Aber am Ende musste es durchgesickert sein. Hatte es eine Bedeutung, dass er während der Arbeit getötet worden war?

      Im Internet waren Straßenherz’ Werke leicht aufzufinden, auch die Daten, wann und wo sie – mit den berühmten Initialen SH signiert – aufgetaucht waren. Darüber hinaus stellte ein zwei Jahre alter Zeitungsartikel einen interessanten Zusammenhang dar: Wenn Straßenherz ein neues Bild gesprayt hatte, wurden oft größere Summen für soziale Zwecke gespendet. Meistens hatte es mit der Botschaft auf den Bildern zu tun. Ebenso freute sich der Kunstverein größter Beliebtheit, in dessen Vorstand Jelinski als Museumsdirektor saß. Auch hier stand sein Name in Verbindung mit der Beschaffung von Spendengeldern in beachtlicher Höhe für Ausstellungen und den Ankauf neuer Werke.

      Ein unüberhörbares Geräusch mischte sich in ihre Gedanken, es kam aus der Magengegend und Hella wusste, was es bedeutete. Der Heißhunger war da. Warum hatte sie es wieder zugelassen? Sie wusste doch, wenn sie versuchte, ihn zu ignorieren, wurde er nur noch schlimmer. Die Säfte in ihrem Mund zogen sich zusammen, vor ihrem inneren Auge wuchs ein Berg Spaghetti in den tomatenroten Himmel, an dem sie nicht mehr vorbeikam …

      Doch diesmal stand Senge in der Tür, er schien außer sich: »Sie erwarten Unmögliches von uns, aber was auch sonst? Als müsste ich nur eine Horde Trüffelschweine auf die Duftspur des Täters setzen. Wie konnte Straßenherz die Polizei so lange an der Nase herumführen, hat eine dieser Pfeifen gefragt. Als hätten wir nichts anderes zu tun, als alle Sprayer der Stadt zu überwachen.«

      Die Presse hatte ihm anscheinend stark zugesetzt. Hella ahnte, was gleich käme.

      »Ich erwarte, dass ihr euer Bestes gebt …«

      Darauf konnte sie nur entgegnen: »Immer mit der Ruhe, Ludger, Tom und Fischbach arbeiten an ihren Berichten, morgen früh liegen sie auf deinem Schreibtisch. Dann werden wir auch offiziell die ersten Zeugen vernehmen.«

      Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, ließ es dann aber. Offenbar hatte er verstanden, dass in diesem Büro gerade einer zu viel war. »Also dann wünsche ich einen schönen Feierabend«, sagte er und verzog sich.

      Einen unbestreitbaren Vorteil hatte ihre Wohnung: Zur Ausstattung gehörte eine neuwertige Einbauküche mit Umluftbackofen, der darauf wartete, ausprobiert zu werden. Teig für eine Familienpizza, Salami, Tomaten, Zwiebeln und frische Peperoni hatte Hella auf dem Nachhauseweg besorgt, es gab auch keinen Grund, auf ihr Lieblings-Tiramisu zu verzichten. Niemand sollte es wagen zu behaupten, dass sie sich ihr Essen nicht verdient hätte. Ohne etwas im Bauch könne man nicht nachdenken, hatte schon der gute alte Henning Budde gesagt. Und auf seinen Vater sollte man hören. Allerdings war es ihr ein Rätsel geblieben, wie es ihm bei seinem Appetit und dem Gardemaß von eins neunzig gelungen war, unter hundert Kilo zu bleiben.

      Der Abend war milde, ihre Vorstellung vom Duft der Familienpizza wurde intensiver, je näher sie ihrer Wohnung kam. Doch heute war etwas anders. Die große alte Haustür stand weit offen. Einer dieser Kastenwagen, die man auch als Umzugswagen mieten konnte, parkte im Halteverbot am Straßenrand, der Hausflur war mit Möbeln und Umzugskisten zugestellt. Ein kleines dünnes Mädchen von höchstens fünf Jahren saß auf einer der Kisten, im Arm einen getigerten Stoffhasen.

      »Ich will nach Hause«, schluchzte sie.

      Ich auch, dachte Hella. Im zweiten Stock begegnete ihr Frau Voglmaier mit aufgeschrecktem Blick und hektischen roten Bäckchen. »Stellen Sie sich vor: fünf Kinder. Mit der Ruhe ist es für immer vorbei. Kein Auge werden wir hier mehr zumachen. Was sagen Sie als Polizistin denn dazu?«

      »Hören Sie etwas?«, fragte Hella. Im dritten Stock ließen sich lediglich zwei gedämpfte Männerstimmen vernehmen.

      Aber das konnte Frau Voglmaier kaum beruhigen. Drohend fuchtelte sie mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase: »Sie werden noch an mich denken. Die Neuen wohnen nämlich auf unserem Stockwerk.«

      In dem Moment kamen ihnen zwei kräftige Männer mit dunklem Teint und schwarzen, dichten Haaren auf den Unterarmen entgegen. Vor blankem Entsetzen verstummte Frau Voglmaier.

      »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend«, nutzte Hella die Gelegenheit, zu verschwinden. Die vorderste Wohnung auf ihrem Gang war also jetzt bewohnt. Als sie daran vorbeiging, stand die Tür einen Spalt offen, und sie spürte, dass sie jemand dahinter beobachtete. Wahrscheinlich ein weiteres der fünf Kinder ihrer neuen Nachbarn. Hella überlegte, ob sie es nach seinem Namen fragen sollte. Aber für heute war ihr Bedarf an Fragen gedeckt.

      4. Die Gesichter des Bernhard J.

      Am Mittwoch, dem zweiten Tag der Ermittlungen, fuhr Hella noch vor der allgemeinen Besprechung im Kommissariat in die Gerichtsmedizin, wo sie Dr. Weinreb um 7.10 Uhr am Seziertisch antraf. Sie schien bestens gelaunt, so wie die Schlager aus den Fünfzigern, die im Hintergrund trällerten.

      »Mancher Kollege findet die Beschallung in dem Zusammenhang makaber, aber mir geht die Arbeit so leichter von der Hand, verstehen Sie?« Sie war den sechzig näher als den fünfzig und wirkte durch ihre aufgeschossene Gestalt und das schmale, lange Gesicht Ehrfurcht gebietend wie eine Hohepriesterin vor ihrem Altar. »Der Bericht ist fertig, Frau Budde, zumindest auf dem Memo. Oder wollen Sie den Toten noch einmal sehen? Die Zeitungen machen einen ziemlichen Hype um den Mann. Seine Bilder sind jetzt wahrscheinlich mehr wert als die Fassaden, auf die er sie gesprüht hat.« Ein spöttischer, fast maskuliner Lacher folgte.

      »Das mag sein«, erwiderte Hella und fügte als Antwort auf die Frage hinzu: »Ja, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern noch einen Blick auf den Toten werfen.«

      Die Gerichtsmedizinerin entfernte sich mit langen Schritten in den Nebenraum, der offenbar ein Kühlraum war, und schob dann den zugedeckten Leichnam auf einem Rollwagen aus Edelstahl herein.

      »Wissen Sie, was ich nicht so recht verstehe?«, fragte die Ärztin.

      »Wie sollte ich? Sie haben die Befunde …«

      »Allerdings. Ich zeige Ihnen, was ich meine …« Mit einer einzigen Armbewegung zog sie die Abdeckung vom Oberkörper des Ermordeten und legte ihn bis zur Lende frei. Hella stockte der Atem. Auch wenn sie Routine im Anblick von Leichen hatte, die Schamlosigkeit des Todes schockierte immer wieder neu.

      »Sehen Sie genau hin, und Sie werden nichts sehen. Nicht ein Hämatom, nicht die kleinste Verletzung, die auf einen Kampf hinweisen könnte, auch keine Abwehrspuren. Außer diesem einen Stich in den Rücken, der mitten ins Herz ging, ist sein Körper völlig unversehrt … Ein Jammer, dass es diesen bemerkenswerten Mann getroffen hat.


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