Leben als Freigeist. Petra Pliester

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Leben als Freigeist - Petra Pliester


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      Auf diese Weise entwickeln die Heranwachsenden mit der Zeit eine Art Regelkatalog dafür, wie sie sich in einzelnen Situationen verhalten; sie handeln und bewegen sich nach bestimmten Mustern. Wenn Manuela gefragt wird, ob sie für das Schulfest einen Kuchen backt, sagt sie immer „Ja“, auch wenn sie eigentlich keine Zeit hat. Aber sie hat gelernt: Ich werde nur geliebt, wenn ich die Wünsche anderer erfülle. Im Büro geht es ihr genauso: Sie will allen alles recht machen. Für die Kollegen ist das sehr bequem. Wird es einmal eng, springt Manuela ein, auch wenn sie selber den Schreibtisch voll hat. Einmal hatte sie es probiert, „Nein“ zu sagen. Als sie bis über beide Ohren in einem eigenen Projekt steckte, da hatte sie es abgelehnt, die Kollegin bei der Vorbereitung einer Veranstaltung zu unterstützen. Die Reaktion kam prompt: „Wie kannst du mich so hängen lassen? Vor lauter Arbeit weiß ich nicht mehr, wo ich anfangen soll. Ich bin so enttäuscht von dir!“ Das Arbeitsklima wurde für ein paar Tage eisig. Die Kollegin hatte kein Verständnis dafür, dass Manuela sich abgrenzt; Argumente wurden nicht akzeptiert. Manuela hatte die stillschweigende Vereinbarung gebrochen, wer sich in ihrer kollegialen Beziehung wie zu verhalten hat. Beim nächsten Mal hatte Manuela um des lieben Friedens willen wieder gesagt: „Ja, mache ich.“ Wohl hatte sie sich damit nicht gefühlt, ihre eigenen Bedürfnisse blieben auf der Strecke, aber die Kollegin war zufrieden. – Dieses Beispiel zeigt: Je älter wir werden, desto festgefahrener sind unsere Muster. Eine Aktion x löst die Reaktion y aus, zuverlässig wie eine mathematische Gleichung. Wir schaffen es immer seltener, anders zu handeln.

      Problematisch wird es immer dann, wenn zwei Menschen nach unterschiedlichen Mustern agieren, das kann ganze Beziehungen zermürben. – Astrid liebt es, wenn in der gemeinsamen Wohnung alles an seinem Platz ist. Sie hat gern den Überblick, räumt auf und sortiert alte Sachen aus dem Kleiderschrank aus, die sie sowieso nicht mehr anzieht. Ihr Mann Roland ist genau das Gegenteil: Er hamstert und häuft Dinge an, die niemand braucht, kein Sonderangebot ist vor ihm sicher. Wenn die Heckenschere mal kaputt gehen sollte, hat er noch eine auf Vorrat. Auch seine alten Legosteine will er unbedingt behalten, die könne er noch seinen Enkeln vermachen. Dabei haben Astrid und Roland noch nicht einmal Kinder.

      Die beiden Muster, die hier aufeinandertreffen, sind sehr stark. Astrid hat das Gefühl, in all dem unnützen Krimskrams zu ersticken. Roland bekommt Panik, wenn der Vorratskeller nur zur Hälfte voll ist. Sie räumt auf, er füllt so schnell wie möglich die entstandenen freien Lücken wieder auf. So drehen sich die Partner im Kreis und reiben sich dabei auf, es sei denn, einer schafft es auszusteigen. Sie haben sich in einem Muster aus immer gleichen Aktionen und Reaktionen festgefahren.

      ! Über die Muster werden aus einst aufgeschlossenen Kindern Erwachsene mit Scheuklappen.

      Viele Menschen schauen nicht nach links und nicht nach rechts. Es gibt für sie keinen Spielraum, um spontan zu agieren oder einfach mal etwas anders zu machen als sonst. Sie stecken in einem Korsett aus

      sich ständig wiederholenden Verhaltensweisen. Und diese gibt es nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene – wie im Kleinen, so im Großen.

      Es gibt im Wesentlichen ein anerkanntes Lebensmodell, das unsere Gesellschaft bestimmt: Schon in der Schule werden wir darauf konditioniert, pünktlich und fleißig zu sein und durchzuhalten. Wenn die Schulglocke schrillt, geht jeder auf seinen Platz und sitzt still, bis die Stunde vorbei ist, egal, ob die Unterrichtsstunde interessant ist oder nicht, egal, ob wir gerade Bewegungsdrang haben oder uns die Luft im Raum viel zu stickig ist. Wir müssen unsere eigenen Bedürfnisse zurückstellen, sie sind nicht wichtig. Erst wenn die Glocke wieder ertönt, dürfen wir für 15 Minuten machen, was wir wollen – allerdings nur in den engen Grenzen des Pausenhofs. Und für den Nachmittag gibt es noch die Hausaufgaben. Schließlich kann es nicht sein, dass wir einfach frei über unsere Zeit bestimmen, das können wir ja später im Berufsleben auch nicht.

      Als Erwachsene sollen wir eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, dann Geld verdienen, Steuern zahlen und – ganz wichtig – konsumieren. Die Wirtschaft muss ja wachsen, darauf hat man sich verständigt. Und das geht nur, wenn wir alle brav mitmachen, wenn wir immer effizienter werden, das heißt immer mehr Arbeit in immer weniger Zeit leisten. Dann bekommen wir vielleicht auch mal eine Gehaltserhöhung und können uns noch mehr Dinge kaufen, die wir nicht benötigen, nur um die Leere in unserem Inneren zu füllen. Wir können ein größeres Auto kaufen, damit wir nach außen hin etwas darstellen, oder ein neues Haus bauen, denn danach werden die Nachbarn unseren Erfolg beurteilen. Nebenbei gründen wir noch eine Familie, haben vielleicht zwei Kinder und einen Golden Retriever.

      In ihrer je eigenen Variante folgen die meisten von uns diesem Lebensmodell. Die gesellschaftliche Norm gibt es uns so vor und bis zu einem bestimmten Punkt stellen wir es nicht in Frage. Doch irgendwann kommt der Moment, in dem wir uns eingestehen, dass wir gescheitert sind. Denn das gegenwärtige Lebensmodell funktioniert für uns nicht mehr. Da gibt es den Familienmenschen, der vor den Scherben seiner Ehe steht. Er hat so viel gearbeitet, dass er und seine Frau sich in den letzten zehn Jahren kaum noch gesehen haben. Dort ist die ehrgeizige Bankerin, die auch mit 40 noch Sachbearbeiterin ist. All ihr Engagement und ihre Überstunden haben sie nicht in eine Führungsposition gebracht.

      ! Die Stressmühle läuft auf Hochtouren und wir laufen fleißig mit, ohne zu überlegen, wohin wir eigentlich unterwegs sind, wenn wir so emsig einen Fuß vor den anderen setzen. (Vgl. George, Nina: „Das Lavendelzimmer“. München 2013)

      Auf diesem skizzierten Weg ist uns oft die Freude abhanden gekommen. Wir sehen keinen Sinn mehr in dem, was wir tun, in dem, was wir uns einst erhofft haben. Doch es scheint keine Alternative zu geben. Wir spüren, dass es falsch läuft, und laufen trotzdem weiter, oft hinein ins Burnout. Die Menschen stecken in einer Endlosschleife. Warum ist es so schwierig, etwas zu verändern?

      Zunächst einmal deshalb, weil alle dasselbe tun; wir haben einen Konsens in der Gesellschaft gefunden, wie „das Leben“ auszusehen hat. Dieses Modell wird in den Medien propagiert und gilt als das Maß der Dinge. Es ist quasi überall und entfaltet eine Sogwirkung. Von Natur aus ist der Mensch darauf angelegt, in einer Gemeinschaft zu leben, und hatte in der Geschichte der Evolution damit Erfolg. Der soziale Zusammenhalt hat über Jahrtausende hinweg das Überleben der Spezies Mensch gesichert. Es ist in unseren Genen angelegt, uns in die Gemeinschaft einzufügen, indem wir dem Muster der anderen folgen.

      Der erste Schritt hin zur Veränderung ist also, überhaupt auf die Idee zu kommen, von dem gängigen Muster abzuweichen. Für Manuela ist es selbstverständlich, dass sie für jedes Schulfest einen Kuchen backt. Sie muss erst einmal realisieren, dass in diesem Jahr Claudia mal diese Aufgabe übernehmen könnte. – Fangen Sie an, Ihre Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen. Damit legen Sie den Grundstein, um aus der Endlosschleife auszusteigen. Müssen Sie wirklich schon wieder Ihre Frühlingsgarderobe erneuern, nur weil in dieser Saison die Farben lachs und smaragdgrün „in“ sind? Die violette Bluse aus dem letzten Jahr steht Ihnen vielleicht sogar besser.

      Wenn Sie dann tatsächlich sichtbare Veränderungen wagen, werden Sie schnell feststellen, dass Sie auf Widerstand stoßen. Der mag harmlos ausfallen, wenn Sie nur eine Bluse in der „falschen“ Farbe tragen. Werden die Veränderungen jedoch größer, erleben Sie, dass das gesellschaftliche Muster vehement verteidigt wird. Kommt ein Mitglied der Gemeinschaft auf die Idee, sich anders zu verhalten, wird er oder sie im besten Fall kritisch beäugt.

      Martin, ein Familienvater, will nicht mehr 40 Stunden pro Woche arbeiten. Er möchte lieber Zeit mit seinen Kindern verbringen anstatt sie ersatzweise mit teuren Geschenken zu überhäufen. Bei seinem Abteilungsleiter stößt er auf Ungläubigkeit: „Sie wollen Teilzeit arbeiten? Aber Sie sind doch ein Mann!“ Für künftige Beförderungen hat er sich so disqualifiziert. Einige seiner alten Freunde belächeln Martin, er sei ja auf dem besten Wege, Hausmann zu werden. Nach ihrem Maßstab ist das nichts wert, und außerdem führt Martin ihnen vor Augen, dass sie selbst viel zu wenig Zeit mit ihrer Familie verbringen und dass auch ihre eigene Karriere nicht so gelaufen ist, wie sie sich das zu Beginn ihres Studiums erhofft hatten. Bevor sie hingehen und ihr eigenes Leben unter die Lupe nehmen, zeigen sie lieber mit dem Finger auf den Außenseiter, das ist einfacher.

      Im Extremfall werden Menschen sogar angefeindet oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen,


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