Angelus Mortis. Theodor Hildebrand

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Angelus Mortis - Theodor Hildebrand


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so streng über sich, dass Helene in seinen Gesichtszügen nichts Ungewöhnliches zu entdecken vermochte.

      Es war schon nach elf Uhr abends, als Werner endlich wieder in sein Zimmer trat. Schnell ging er zu seinem Schreibtisch, um seinem Herrn zu schreiben, was sich zugetragen hatte.

       »Wie groß wird Ihr Erstaunen sein, Herr Oberst, wenn Sie erfahren, dass Lodoiska jetzt hier in R… ist und in direkter Nachbarschaft zum Schloss wohnt. Was will sie hier, jetzt, nachdem so viele Jahre vergangen sind? Was hegt sie für Absichten? Diese Fragen kann ich Ihnen nicht beantworten. Sie hat mich nicht erkannt, zumindest gab ihr Verhalten nichts preis, was etwas anderes vermuten ließe. Lassen Sie mir jetzt Ihre Befehle zukommen und ich werde sie ohne Verzug ausführen. Wollen Sie sie wiedersehen und sich eine Zusammenkunft mit ihr verschaffen, um ihre Absichten zu erfahren? Oder ziehen Sie es vor, dass die Frau Oberstin und Ihre Kinder diese Gegend hier augenblicklich verlassen? Dies wäre vielleicht der beste Weg, den Sie einschlagen könnten. Doch eines steht fest, solange diese Lodoiska lebt, oder wenigstens, solange Sie von dieser Frau und ihren Vorwürfen verfolgt werden, können Sie weder glücklich werden noch Ruhe finden.«

      Als Werner diese letzten Worte niedergeschrieben hatte, erschauderte er unwillkürlich; denn es schien ihm, als höre er hinter sich das Geräusch raschelnder Kleidung und spüre den Atem einer Person, die sich über ihn beugt, um zu lesen, was er gerade geschrieben hatte. Die Täuschung war so vollkommen, dass er nicht daran zweifelte, die Oberstin befinde sich dicht hinter ihm, und voller Schrecken hierüber, wagte er anfangs weder die Augen zu öffnen noch den Kopf zu drehen. Als sich nach Ablauf von einer Minute aber noch immer kein neues Geräusch vernehmen ließ, blickte er sich um und musste feststellen, dass er sich geirrt hatte. Kein lebendiges Wesen war in seinem Zimmer zu sehen und die tiefste Stille herrschte überall, nur dann und wann von dem Geschrei einer einsamen Eule unterbrochen, die in dem alten Turm des Schlosses nistete. Die Gewissheit, dass die Oberstin seinen Brief nicht gelesen hatte, ließ ihn eine große Erleichterung verspüren. Er verschloss sein Zimmer gewissenhaft und versuchte nun, sich einem erquickenden Schlaf zu überlassen; doch es gelang ihm nicht. Die geheimnisvolle Lodoiska ging ihm nicht aus dem Sinn, und in seinem Zorn auf sie fluchte er so laut, als ob er eine Abteilung Rekruten zu exerzieren hätte. Erst spät in der Nacht schlossen sich seine Augen und der Mensch in ihm lebte nur noch durch seine nächtlichen Beziehungen mit den himmlischen Geistern fort.

      Für gewöhnlich war Werner schon auf den Beinen, noch bevor sich der erste Schimmer der Morgenröte am Firmament zeigte; diesmal aber stand die Sonne schon über den umliegenden Hügeln, als der alte Unteroffizier plötzlich aus dem Schlaf aufschreckte und über die Art von Bewusstlosigkeit, in der er gewesen zu sein schien, erstaunte. Zweifellos hatte man schon ohne ihn mit der Arbeit auf dem Feld begonnen. Voller Scham über diesen Fehler zog er sich schnell an und eilte hinunter in den Hof; dort angekommen fiel ihm jedoch ein, dass er den wichtigen Brief an seinen Herrn auf dem Schreibtisch vergessen hatte, und da seine Klugheit ihm riet, denselben nicht vor jedermanns Augen herumliegen zu lassen, kehrte er schnell in sein Zimmer zurück, um das Schreiben an sich zu nehmen und es später dem Boten, der täglich zur Stadt ging, zur Aufgabe bei der Post mitzugeben.

      Doch der Brief befand sich nicht mehr an dem Ort, wo Werner ihn hatte liegen lassen. Er lag, in tausend Stücke zerrissen, auf dem Fußboden verstreut. Dieser ebenso sehr überraschende wie erschütternde Anblick entriss Werner einen lauten Aufschrei und versetzte ihn dann in ein peinliches Nachdenken. Wer konnte das Schreiben zerrissen haben? Wer war innerhalb so weniger Augenblicke in seinem Zimmer gewesen, um dort eine solche Unverschämtheit zu begehen? Sollte es die Oberstin, Lisette oder gar das Hausmädchen gewesen sein? Nur diese drei Personen konnten schon um diese Zeit aufgestanden sein. Er erinnerte sich, dass er das Hausmädchen auf dem Hof gesehen hatte; auch erblickte er Lisette durch das Fenster in der Küche, die gerade mit ihren Arbeiten beschäftigt war, und die Oberstin schien noch gar nicht aufgestanden zu sein, wie die geschlossenen Fensterläden ihres Zimmers zeigten. Kurz, er wusste nicht, was er von diesem außerordentlichen Vorfall halten sollte. Da er es nicht über sich brachte, den Brief sogleich von Neuem zu schreiben, sammelte er zunächst nur die Papierschnipsel vom Boden auf und übergab sie dem Feuer.

      Den ganzen Tag über befand sich Werner in einer äußerst peinlichen Stimmung. Obwohl er überzeugt war, dass die Oberstin sein Zimmer nicht betreten hatte, fühlte er doch eine große Verlegenheit, als er heute zum ersten Mal in ihre Nähe kam. Doch trotz dieser Schwäche, die er zu unterdrücken versuchte, fasste er sogar den Mut, in den Gesichtszügen Helenes nach außergewöhnlichen Regungen zu forschen; aber diese waren so ruhig, dass unmöglich davon auszugehen war, dass sie Kenntnis von dem für sie verstörenden Inhalt des Briefes erlangt hatte. Werners Erstaunen wurde nun immer größer und er verlor sich vergebens in allerhand Vermutungen; höchst unangenehm aber war es ihm, als die Kinder ihn baten, sie wieder wie gestern zum Wald hinunterzuführen, weil sie hofften, ihre neue Freundin, wie sie die Fremde nannten, wiederzusehen.

      Gerne hätte Werner es ihnen abgeschlagen; aber die Oberstin war zugegen, und ehe er noch ein Wort dazu sagen konnte, hatte sie schon ihre Einwilligung gegeben. Die Klugheit gebot ihm, sich nichts von seinen wahren Gedanken anmerken zu lassen, um bei der Gemahlin seines Obersts weder Argwohn noch Furcht zu erregen. Daher stieg er mit zurückgehaltenem Unwillen langsam den Hügel hinab, dem Ort entgegen, an dem sie die Fremde schon einmal getroffen hatten.

      Kaum befanden sie sich am Saum des Waldes, als Lodoiska plötzlich aus dem Gebüsch hervortrat, in ihren Händen ein paar Federbälle und eine schöne Puppe haltend, die sie für die Kinder mitgebracht hatte. Sobald die beiden ihre neue Freundin erblickten, liefen sie auf sie zu, und Julie war so dreist, sich geradezu in ihre Arme zu werfen. Diese unschuldige Handlung schien die Fremde jedoch aufs Tiefste zu verstören; sie trat einen Schritt zurück und warf einen so finsteren, unheimlichen Blick auf das Kind, dass der mutige Werner dabei erstarrte. Aber diese anfängliche Erregung dauerte nicht lange; ganz plötzlich überflog wieder ein leichtes Lächeln die Gesichtszüge der Fremden und mit der größten Liebenswürdigkeit verteilte sie die mitgebrachten Geschenke.

      Wilhelm, entzückt über die Federbälle, lief sogleich zur nahe gelegenen Wiese, um sie auszuprobieren, und Julie, ganz glücklich bei dem Anblick ihrer Puppe, bat um Erlaubnis, Blumen pflücken zu dürfen, um ihre kleine Dame damit zu schmücken. Die Fremde hatte nichts dagegen, und als sie sah, dass die Kinder vollauf mit ihren Spielen beschäftigt waren, näherte sie sich dem alten Unteroffizier, der tief in Gedanken versunken an einen Baum gelehnt stand und mit einem starken Gefühl von Unzufriedenheit über die jüngsten Ereignisse nachdachte. Werner fürchtete nämlich, dass das Auftauchen der Fremden große Verwerfungen in der Familie des Obersts auslösen könnte, und es wollte ihm trotz allen Nachdenkens kein Mittel einfallen, mit dem er das drohende Ungewitter aufhalten konnte.

      Derart mit sich selbst beschäftigt, hatte er das Näherkommen der jungen Dame gar nicht bemerkt, sodass er plötzlich jäh durch eine ihm wohlbekannte Stimme, die aber in diesem Augenblick etwas so Dumpfes und Feierliches hatte, dass er sich davon bis ins Innerste ergriffen fühlte, aus seinen Gedanken gerissen wurde.

      »Nun Werner«, sprach sie ihn an, »was habe ich dir getan, dass du stets gegen mich bist? Wirst du deine ungerechte Abneigung gegen mich denn niemals ablegen?«

      Aufs Äußerste überrascht durch diese Worte, schlug der Soldat die Augen auf, entfernte sich von dem Baum, an dem er gelehnt hatte, und schien wenig geneigt, ihr zu antworten. Doch er überwand sich und sagte:

      »Was wollen Sie von mir, Lodoiska? Warum haben Sie ihr Vaterland verlassen? Was suchen Sie hier in Deutschland? Ist die Zeit denn spurlos an ihnen vorübergegangen? Sollten sie tatsächlich noch immer das gleiche Ziel wie in ihren Jugendjahren verfolgen? Dann bedauere ich sie oder vielmehr beklage ich ihren Wahnsinn.«

      »Die Zeit«, antwortete die Fremde in dem feierlichsten Ton, »vermag mir jetzt nichts mehr anzuhaben; es gibt ein Leben, in dem sie keine Macht mehr besitzt und die Empfindungen unveränderlich werden wie die Ewigkeit, von der sie ein Teil sind. Wundere dich nicht über meine Gegenwart, denn nicht mein Wille ist es, der mich leitet; ich gehöre nicht mehr mir selbst, sondern einem grausamen, gebieterischen Herrn, der mir jeden meiner Schritte vorzeichnet. Meine alte Wunde blutet noch und die Zeit, wie du sie nennst, hat das Recht verloren, sie zu vernarben.«


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