Social Web. Anja Ebersbach
Читать онлайн книгу.sind.
Das sind hochgesteckte Ziele für ein Themengebiet, für das wir eine erste Einführung mit Lehrbuchcharakter vorlegen. Entsprechend können wir vieles nur andeuten. Und es ist uns bewusst, dass dieser Versuch, das Social Web etwas systematischer zu erfassen, oft Wirklichkeitsebenen auseinanderreißt, die eigentlich zusammengehören. Aber sollte es Sie zum Weiterdenken und Weiterarbeiten anregen – und sei es nur aus Widerspruch –, so haben wir unser Ziel erreicht.
Eine Wissenschaft der Medien kann eine spannende, fundierte, aber auch notwendig kontroverse Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftlichen, dem »Sozialen«, in Gang setzen. Dazu muss sie ihren passiven Beobachterstandpunkt verlassen. Frei nach Brecht: Man kann die Welt nur erkennen, wenn man sie verändert.
1.2 Geschichte des Internets als sozialer Treffpunkt
Ab wann kann man eigentlich von einem »Social Web« sprechen? Die Begriffe »Social Software« und »Social Web« selbst gibt es erst seit vergleichsweise wenigen Jahren, aber die Entwicklung des Social Webs reicht bis in die Anfänge des Internets zurück.
Neue Perspektiven in der Internetgeschichte. Seit ein paar Jahren rücken die politischen Aspekte der Netzentwicklung in den Vordergrund. Wurde uns bislang die Geschichte des Internets oft nur als Geschichte technischer Entwicklungen und ihrer Erfinder präsentiert, so arbeitet beispielsweise Grasmuck (2002) in seiner Geschichte der freien Software den Kampf um Ordnungsmodelle und öffentliches Eigentum heraus. Der deutsche Wikipedia-Artikel zur Geschichte des Internets stellt den Konflikt zwischen basisorientierten Entwicklern und zentralistischen Tendenzen durch staatliche Kontrollorgane und Medienkonzerne dar (Wikipedia 2015)1.
Umkämpfter sozialer Raum. Die beiden genannten Artikel sind erste Versuche, die Entwicklung des Internets in seinen historisch-gesellschaftlichen Kontext zu stellen und das Netz als umkämpften sozialen Raum zu begreifen. Die wissenschaftliche Forschung steht hier aber immer noch völlig am Anfang. Die Hervorhebung bisher unberücksichtigter Akteure und ihrer Intentionen ist dabei immer in Gefahr, alte Mythen durch neue Mythen zu ersetzen. Die 1970er-Jahre gelten beispielsweise als »wilde Phase« mit einer »Tauschökonomie für Software und Information«, einer »graswurzelbasierten Selbstorganisation«, »emergierende[n] Communities« und einem »Hacker-Geist, der jede Schließung, jede Beschränkung des Zugangs und des freien Informationsflusses zu umgehen weiß« (vgl. Grasmuck 2002: 180). Dieser Idealzustand wurde dann, folgt man dem eben genannten Wikipedia-Artikel, durch staatliche Eingriffe und vor allem durch die Kommerzialisierung des Internets in den 1990er-Jahren zerstört.
Sehen wir uns diese Entwicklung etwas genauer an, auch wenn wir dazu nur wenige Einzelereignisse aus der Geschichte herausgreifen können.
1.2.1 Vernetzte Computer als Kommunikationsmedien
Großrechner als Kooperations- und Kommunikationsinstrumente. Der erste Schritt auf dem Weg zum Social Web war eine veränderte Sichtweise auf den Computer. Computer dienten in den 1950er-Jahren ausschließlich als Rechenmaschinen des Militärs und der Wirtschaft. Doch in den 1960er-Jahren wurden Computer zunehmend auch als Kommunikationsmedium verstanden. Dieser bedeutende Schritt wird mit dem Psychologieprofessor Joseph Carl Robnett Licklider in Verbindung gebracht. Licklider, ein Pionier der Internetentwicklung, arbeitete ab 1957 beim Rüstungslieferanten BBN und hatte dort Erfahrungen mit einem Time-Sharing-System, einem ersten Mehrbenutzersystem für Großrechneranlagen, gesammelt. Damit konnten mehrere Teilnehmer über Terminals gleichzeitig einen Großrechner bedienen. Licklider nahm den Teamgeist unter den Nutzern des ersten Time-Sharing-Systems wahr und wies auf die Gemeinschaftsphänomene hin, die zum Teil durch den gemeinsamen Zugriff auf die Ressourcen des Systems aufkamen (vgl. Grasmuck 2002: 181).
Abb. 1.1: Geschichte des Social Webs
Abb. 1.2: IBM-Großrechneranlage IBM 704
Erste Communities. Wir sehen, dass schon mit der ersten Zusammenarbeit mehrerer Menschen an einem Rechner jene Phänomene auftraten, die wir heute im World Wide Web mit seinen vielen Servern beobachten können. Die Computerpioniere der 1960er-Jahre bildeten die ersten Onlinegemeinschaften (»Communitys«). Ein Beispiel für eine Online-Community dieser Periode ist PLATO. Das PLATO-System war in den frühen 1960er-Jahren auf dem Urbana Campus der University of Illinois für ein computerbasiertes Lernen entwickelt worden. Aber viele Leute nutzten das System lieber als unkompliziertes Kommunikationssystem (vgl. Woolley 1994)2. Das zeigt, dass sich auch die Pioniere der ersten Periode die Computertechnologie spielerisch aneigneten.
E-Mail-Kommunikation. Die Erfindung der E-Mail 1965 unterstützte diesen Paradigmenwechsel. Die elektronische Post, ein asynchrones Kommunikationsmedium, war nicht nur viel schneller als die normale Post und billiger als ein Ferngespräch, in den E-Mails konnte man auch auf viele Formalitäten bei der Formulierung und bei der Gestaltung verzichten. Auch die ersten E-Mails wurden zunächst über Einzelrechner verschickt.
Erstes Computernetzwerk. Als erstes landesweites Computernetzwerk entstand das ARPANET. Mit diesem wurde ein dezentrales Netzwerk geschaffen, über das die unterschiedlichen US-amerikanischen Universitäten, die für das Verteidigungsministerium forschten, verbunden sein sollten. Das dezentrale Konzept des über Telefonleitungen verbundenen ARPANETs war revolutionär. Im Jahr 1969 konnten die ersten vier Knoten des ARPANETs in Betrieb gehen. Anfang 1975 verfügte es bereits über 61 Knoten.
Mailinglisten. Ende der 1970er-Jahre wurde dort die erste E-Mail-Diskussionsgruppe eingerichtet: die Liste SF-LOVERS war nicht zufälligerweise eine Science-Fiction-Liste. Mailinglisten wurden zusammen mit den Requests for Comments (RFC) zum wichtigsten Mittel der offenen Kooperation der technischen Community. RFCs dienten der Entwicklung von Standards im Internet: Die Vorschläge wurden zur Diskussion gestellt. Schließlich ging 1978 die erste Mailbox in Betrieb. Eine Mailbox, im englischen Sprachbereich auch als Bulletin Board System (BBS) bekannt, ist ein meist privat betriebenes Rechnersystem, das per DFÜ zur Kommunikation und zum Datenaustausch genutzt werden kann.
1.2.2 Die ersten selbstverwalteten Computernetze
Zentrale vs. dezentrale Organisation. Generell können wir feststellen, dass in den 1960er-Jahren ein technischer Diskurs über die Vor- und Nachteile zentraler und dezentraler Rechnerarchitekturen einsetzte. Mit dieser Debatte war die Frage verbunden, ob dezentrale und offene Organisationsmodelle generell zentralistischen Ansätzen überlegen sind – und ob, wie im Falle der RFCs, die Einbindung aller Nutzer in Entscheidungsprozesse nicht zu stabileren Ergebnissen führen würden. In den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des Betriebssystems Linux und Windows wird dieses Thema ebenso wieder aufgegriffen wie im Zeitalter des Social Webs bezüglich der Vorzüge einer von vielen Nutzern geschriebenen Wikipedia gegenüber einem redaktionell betreuten, gedruckten Lexikon.
Zivile Nutzung durch Privatpersonen. Dieser Diskurs schloss auch eine Diskussion über alternative Nutzungspotenziale des Computers ein. Philosophierten in der Pionierzeit des Computers vor 1960 Einzelpersonen und kleine Kreise über das Verhältnis von Mensch und Computer, so erhielt diese Debatte in den radikalen 1960er-Jahren neue Impulse und überhaupt einmal eine soziale Trägerschicht, weil neue gesellschaftliche Gruppen, vor allem Studentinnen und Studenten, mit dem Medium Computer experimentierten und beispielsweise nach 1969 Zugriff auf das ARPANET erhielten.
Hackerkultur. In diesem Zusammenhang wurde die Open-Source- und Free-Software-Hackerkultur bedeutsam, die in den 1960er-Jahren im akademischen Umfeld entstand. Ihr Anliegen: Der Kampf gegen die Bildung von Informationseliten (vgl. Raymond 1999)3. Das war damals ein verhältnismäßig kleiner und elitärer Kreis. Die ersten Hacker bildeten sich als eine Gruppe, die sich u. a. über die spielerische Verwendung der Technik formierte. Dabei entwickelte sich, wie Steven Levy schreibt, »ein neuer Way of Life, mit einer Philosophie, einer Ethik und einem Traum heraus« (vgl. Levy 1984)4. Diese Ethik wurde zunächst nicht formuliert, sondern entstand