Film- und Fernsehanalyse. Lothar Mikos

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Film- und Fernsehanalyse - Lothar Mikos


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praktischen Funktionen« aufgeht (ebd., S. 167). Der praktische Sinn eines Objekts ist durch den Zusammenhang, den es in einer Handlung hat, bestimmt (vgl. auch Weiß 2001, S. 41 ff.). Auf diese Weise kann z.B. das Kino im Rahmen des praktischen Sinns dadurch bestimmt sein, dass man immer nur am Wochenende mit Freunden in ein Multiplex geht. Das wird zu einer routinisierten und rituellen Handlung, die vollzogen wird, ohne unbedingt ein Bewusstsein von ihr erlangen zu müssen. Genauso kann z.B. das Fernsehen als rituelles Objekt der Entspannung und Zerstreuung Bestandteil des praktischen Sinns sein. Da die Objekte aber an konkrete Praxisformen gebunden sind, können sie »in verschiedenen Praxiswelten Verschiedenes zum Komplement haben und daher je nach Art der Welt verschiedene, sogar entgegengesetzte Eigenschaften annehmen« (Bourdieu 1987, S. 158) und Bedeutungen haben. Im praktischen Sinn des alltäglichen Handelns in unterschiedlichen Situationen zeigt sich die Transformation der gesellschaftlichen Strukturen in subjektives Handeln nach den Prinzipien des Lebenssinns (vgl. Weiß 2000, S. 45). Der lebenspraktische Sinn von Film und Fernsehen ergibt sich aus den routinisierten und rituellen Handlungen der Menschen mit ihnen (vgl. Hartmann 2013; Meyen 2e in Huber/Meyen 2006; Pfaff-Rüdiger/Meyen 2007; Prommer 2012; Röser 2007; Röser u.a. 2010; zum Fernsehen im Alltag Mikos 2004, Mikos 2005; Röser/Großmann 2008 ). Der praktische Sinn des sozialen Handelns umfasst dabei »eine Art ›implizites Wissen‹ von der Relevanz, Bedeutung und Geeignetheit bestimmter Handlungsweisen, das sich im Akteur durch soziale Einübung und Erfahrung im fortlaufenden Handlungsvollzug eingelebt hat« (Hörning 2001, S. 162). Da Filme schauen und fernsehen als eingeübte Handlungen gelten können, die im Verlauf der Mediensozialisation routinisiert und ritualisiert wurden, offenbart sich der praktische Sinn gerade in den Gewohnheiten, die damit verbunden sind. Die Rezeption von Filmen und Fernsehsendungen wird zu einer gewohnheitsmäßigen performativen Praxis, die aber unterschiedliche Formen annehmen kann (vgl. Naab 2013; zu den Medienritualen von Paaren vgl. Linke 2010). Dabei spielt besonders der lebensweltliche Wissenshorizont als kulturelles Hintergrundwissen eine Rolle, allerdings nur in der Form, in der er sich in der sozialen Praxis zeigt.

      »Den regelmäßigen Handlungspraktiken unterliegen damit indirekt kulturelle Schemata, die in routinisierten Interpretationen und Sinnzuschreibungen der Akteure Eingang ins Handlungsgeschehen finden und dort als implizite Unterscheidungsraster wirken, die bestimmte Gebrauchsformen nahelegen und andere als unpassend ausschließen« (ebd., S. 165).

      Eine Form, in der sich der lebensweltliche Wissenshorizont in der Praxis zeigt, sind die handlungsleitenden Themen der Menschen. In ihnen zeigt sich »die spezifische soziale Prägung der Lebensphase« (Weiß 2000, S. 57; H.i.O.). Sie beziehen sich auf die gesamte Lebenssituation einer Person (vgl. Charlton/Neumann 1986, S. 31; Mikos 2001a, S. 89). Film- und Fernsehtexte sind sowohl zum praktischen Sinn der Menschen allgemein als auch zu ihren kulturell geprägten handlungsleitenden Themen hin geöffnet. Ihre textuelle Struktur bietet Raum für routinisierte und rituelle Aktivitäten in den lebensweltlichen Zusammenhängen und kulturellen Kontexten der Zuschauer. In der Analyse muss diese Struktur ebenso herausgearbeitet werden wie jene, die die kognitiven, emotionalen und sozial-kommunikativen Aktivitäten des Publikums vorstrukturieren. In der textuellen Struktur zeigt sich das implizite Publikum (Barker 2000, S. 48 ff.) oder der Zuschauer im Text, der aus der Literaturwissenschaft als impliziter Leser (Iser 1974) und aus der Kunstwissenschaft als impliziter Betrachter (Kemp 1992) bekannt ist.

      Gegenstand der Film- und Fernsehanalyse ist aus rezeptionsästhetischer Sicht die textuelle Struktur von Filmen und Fernsehsendungen, weil durch sie die Rezeptions- und Aneignungsaktivitäten vorstrukturiert werden. Alle Formen der Darstellung, alle Zeichensysteme, die in diesen beiden audiovisuellen Medien benutzt werden, sind sowohl im Rahmen der Struktur der Texte als auch im Rahmen ihrer Funktion für die kognitiven, affektiven und emotionalen, sozial-kommunikativen, routinisierten und rituellen Aktivitäten des Publikums zu untersuchen. In diesem Sinn muss die Analyse immer mögliche und faktische Rezeptionen und Aneignungen im Blick haben, denn: »Mediale Produkte sind nicht unabhängig von genutzten und ungenutzten Möglichkeiten ihrer rezeptiven Aneignung zu verstehen« (Keppler 2001, S. 142). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass auf allen Ebenen der Publikumsaktivitäten in der Rezeption und Aneignung die kulturellen und sozialen Kontexte zu berücksichtigen sind, in die sowohl die Film- und Fernsehtexte als auch die Aktivitäten der Zuschauer eingebunden sind.

      »Was einen Text ausmacht, können wir erst dann ganz begreifen, wenn wir untersuchen, wie sich die Texte an ihre Leser oder Zuschauer wenden und wie die Leser, für sich oder als Gruppe betrachtet, Texte interpretieren und in ihre alltägliche Lebenspraxis integrieren, d.h.: wenn wir analysieren, wie Texte in einem bestimmten gesellschaftlichen Raum zirkulieren und Wirkung entfalten« (Casetti 2001, S. 156).

      Fragen zum Verständnis

      – Warum kann man Filme und Fernsehsendungen nicht nur als audiovisuelle Produkte, sondern als Kommunikationsmedien verstehen?

      – Wodurch ist Film- und Fernsehverstehen gekennzeichnet?

      – Was versteht man unter Film- und Fernseherleben?

      – Welche Wissensformen spielen in der Rezeption und Aneignung von Filmen und Fernsehsendungen eine Rolle?

      – Welche Emotionen spielen in der Rezeption und Aneignung von Filmen und Fernsehsendungen eine Rolle?

      – Was ist unter dem praktischen Sinn als eine Rezeptions- und Aneignungsaktivität zu verstehen?

      – Waswird unter der Textualität von Filmen und Fernsehsendungen verstanden?

      – Welche Zuschaueraktivitätenwerden von den Film- und Fernsehtexten vorstrukturiert?

      Barker, Martin (2000): From Antz to Titanic. Reinventing Film Analysis. London/Sterling, VA

      Bloch, Ernst (1985): Das Prinzip Hoffnung. Band 1. Frankfurt a.M. (Erstausgabe 1959)

      Blumer, Herbert (2013): Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: ders.: Symbolischer Interaktionismus. Aufsätze zu einer Wissenschaft der Interpretation. Frankfurt a.M. (Erstausgabe 1973; Originalausgabe 1969)

      Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M. (Originalausgabe 1972)

      Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M. (Originalausgabe 1980)

      Bruun Vaage, Margrethe (2007): Empathie. Zur episodischen Struktur der Teilhabe am Spielfilm. In: Montage/AV, 16, 1, S. 101–120

      Casetti, Francesco (2001): Filmgenres, Verständigungsvorgänge und kommunikativer Vertrag. In: Montage/AV, 10/2, S. 155–173

      Charlton, Michael/Neumann, Klaus (1986): Medienkonsum und Lebensbewältigung in der Familie. Methode und Ergebnisse der strukturanalytischen Rezeptionsforschung – mit fünf Falldarstellungen. München/Weinheim

      Dirk, Rüdiger/Sowa, Claudius (2000): Teen Scream. Titten und Terror im neuen amerikanischen Kino. Hamburg/Wien

      Faber, Marlene (2001): Medienrezeption als Aneignung. In: Holly, Werner/Püschel, Ulrich/Bergmann, Jörg (Hrsg.): Der sprechende Zuschauer. Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen. Wiesbaden, S. 25–40

      Fiske, John (2011): Television Culture. London/New York (2. Auflage; Originalausgabe 1987)

      Fiske, John (1993): Populärkultur. Erfahrungshorizont im 20. Jahrhundert. Ein Gespräch mit John Fiske. In: Montage/AV, 2/1, S. 5–18

      Hackenberg, Achim (2004): Filmverstehen als kognitiv-emotionaler Prozess. Zum Instruktionscharakter filmischer Darstellungen und dessen Bedeutung für die Medienrezeptionsforschung. Berlin

      Hall, Stuart (1980): Encoding/Decoding. In: ders./Hobson, Dorothy/Lowe, Andrew/Willis, Paul (Hrsg.): Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, 1972–79. London u.a., S. 128–138

      Hanich, Julian (2012): Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers – eine Annäherung. In: ders./Wulff, Hans J. (Hrsg.): Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der


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