Film- und Fernsehanalyse. Lothar Mikos
Читать онлайн книгу.Texten. Damit ist gemeint, dass die Film- und Fernsehtexte nach einer Vervollständigung durch die Zuschauer verlangen, sie werden erst im Akt der Rezeption und Aneignung produziert. Nach diesem Verständnis können Filme und Fernsehsendungen auch keine abgeschlossenen Bedeutungen an sich haben, die z.B. Film- oder Fernsehwissenschaftler in einer Analyse »objektiv« freilegen könnten, sondern sie entfalten ihr semantisches und symbolisches Potenzial erst durch die aktiven Zuschauer, d.h., sie können lediglich potenzielle Bedeutungen haben, sie bilden eine »semiotische Ressource« (Fiske).
»Vielleicht favorisiert ein Text manche Bedeutungen, er kann auch Grenzen ziehen, und er kann sein Potential einschränken. Andererseits kann es auch sein, daß er diese Präferenzen und Grenzen nicht allzu effektiv festschreibt« (Fiske 1993, S. 12 f.).
Film- und Fernsehtexte können also nur Angebote machen und mögliche Lesarten inszenieren, über die sie die Aktivitäten der Zuschauer vorstrukturieren. Eines können sie aber nicht: Sie können nicht die Bedeutung festlegen. Sie funktionieren als Agenten in der sozialen Zirkulation von Bedeutung und Vergnügen, denn sie können ihr Sinnpotenzial nur in den sozialen und kulturellen Beziehungen entfalten, in die sie integriert sind: »Texte funktionieren immer im gesellschaftlichen Kontext« (ebd., S. 13). Erst da kommt ihre strukturierende Kraft zum Tragen. Die Aneignung von populären Texten wie Filmen und Fernsehsendungen ist nach Fiske am Schnittpunkt von sozialer und textueller Determination lokalisiert. Damit wird auch deutlich, dass sich Texte immer im Feld sozialer Auseinandersetzung befinden (vgl. Mikos 2001c, S. 362). Für die Analyse heißt dies, dass die Struktur von Filmen und Fernsehsendungen zu den Rezeptions- und Aneignungsaktivitäten in Bezug gesetzt werden muss. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die strukturierende Kraft der Film- und Fernsehtexte in der Rezeption stärker ist als in der Aneignung, in der die soziokulturellen Kontexte, in die die Zuschauer eingebunden sind, wirksamer sind. Daher stehen die Rezeptionsaktivitäten im Vordergrund der folgenden Ausführungen, Aneignungsaktivitäten werden dort, wo es sinnvoll erscheint, in die Betrachtungen einbezogen.
Film- und Fernsehtexte sind grundsätzlich an ein Publikum gerichtet. Daher sind sie zum Wissen, zu den Emotionen und Affekten, zum praktischen Sinn und zur sozialen Kommunikation der Rezipienten hin geöffnet.
Es lassen sich also vier Arten von Aktivitäten unterscheiden, die in der Rezeption und Aneignung eine Rolle spielen:
– kognitive Aktivitäten
– emotionale und affektive Aktivitäten
– habituelle und rituelle Aktivitäten
– sozial-kommunikative Aktivitäten
Sie alle sind an zwei grundlegende Modi Operandi gebunden, die den Umgang mit den Film- und Fernsehtexten ausmachen: das Film- und Fernsehverstehen und das Film- und Fernseherleben. In der Analyse geht es vor allem darum, diese Prozesse des Verstehens und Erlebens herauszuarbeiten. Film- und Fernsehverstehen meint, anhand eines audiovisuellen Produkts zu untersuchen, wie es sich als bedeutungsvoller Text, der in den kulturellen Kreislauf von Produktion und Rezeption eingebunden ist, konstituiert (vgl. Mikos 1998, S. 3). Dazu müssen jedoch auch die lebensweltlichen Verweisungszusammenhänge einbezogen werden. Film- und Fernseherleben meint eine eigene Zeitform mit eigenen Höhepunkten, »in denen das zu kulminieren scheint – sowohl das, das es auf der Leinwand zu besichtigen gilt, wie auch das Erleben selbst« (Neumann/Wulff 1999, S. 4). Die Zuschauer gehen selbstvergessen im Erlebnis auf (vgl. Renner 2002, S. 153). Film- und Fernseherleben schafft eigene Sinnstrukturen, die mit der Alltagswelt und den lebensweltlichen Verweisungszusammenhängen der Zuschauer verknüpft sind.
1.1 Film- und Fernsehverstehen
Filme und Fernsehsendungen ergeben Sinn, denn sie sind sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption an sinnhaftes soziales Handeln gebunden (vgl. dazu auch Hall 1980, S. 130; Keppler 2001, S. 129). Darüber treten sie in einen bedeutungsvollen Diskurs ein. Sie prägen die Lebensverhältnisse in der gegenwärtigen Gesellschaft (vgl. Keppler 2006, S. 19 ff.). Wie bereits erwähnt, sind Film- und Fernsehtexte grundsätzlich zum Wissen der Rezipienten hin geöffnet (vgl. Wulff 1985, S. 13). Um eine Filmszene zu verstehen, muss ein Zuschauer zunächst einmal Informationen verarbeiten und sie in einen bedeutungsvollen Kontext bringen. Auf diese Weise erhält die Szene einen Sinn. Ein einfaches Beispiel mag das verdeutlichen: Um zu erkennen, dass es sich bei den Figuren auf der Leinwand oder dem Bildschirm um Menschen handelt, die in einem Restaurant an einem Tisch sitzen, muss der Zuschauer die ihm dargebotene Bildinformation verarbeiten. Er muss wissen, was Menschen sind, was ein Restaurant ist und was ein Tisch ist. Darüber hinaus wissen wir, dass Menschen immer in bedeutungsvollen Strukturen handeln, aus ihnen können sie nicht heraustreten (vgl. Blumer 1973/2013). Das heißt in diesem konkreten Fall, dass der Zuschauer auch um die Bedeutung von Menschen, Tischen und Restaurants weiß. Anhand des Settings Mensch – Tisch – Restaurant werden Kontexte des Wissens aufgerufen, die deren Bedeutung im Rahmen sinnhaften sozialen Handelns an lebensweltliche Verweisungszusammenhänge zurückbinden. Dazu zählt z.B. das Wissen, dass Menschen nicht immer zu Hause essen, sondern sich auch mal in Restaurants von Köchen bekochen und von Kellnern bedienen lassen. Auf dieser Ebene nimmt der Zuschauer zunächst lediglich Informationen aus dem Film- oder Fernsehbild auf und evaluiert sie im Rahmen von sinnhaften Handlungskontexten. Die Bedeutung der beschriebenen Restaurantszene im Film bzw. in der Fernsehsendung ergibt sich außerdem daraus, dass sie in einem narrativen Kontext steht. Der Zuschauer kann aus der bisherigen Erzählung an dieser Stelle schließen, dass es in der dargebotenen Szene nicht in erster Linie um den Zusammenhang von Hunger und Essen, also die reine Nahrungsaufnahme geht, sondern dass das Gespräch, das die Personen beim Essen führen, bedeutsam ist. Es könnte sich beispielsweise um einen letzten Versöhnungsversuch eines Ehepaares handeln, das kurz vor der Scheidung steht oder um ein Geschäftsessen.
Die Bedeutung dieser Szene ergibt sich aber nicht nur aus dem narrativen Kontext, sondern auch daraus, dass der Zuschauer um diese Möglichkeiten weiß, weil sie sinnhaftes Handeln darstellt – in diesem Fall, dass Gespräche beim Essen eine besondere Bedeutung haben können und Mittelpunkt der Aktivität »Essen im Restaurant« sein können. Damit ist klar, dass es in der Szene nicht nur um die abgebildete Nahrungsaufnahme im Restaurant geht, sondern um das Gespräch, das bei Tisch geführt wird. Der Zuschauer hat ein Wissen um die soziale Bedeutung von Restaurants, das er nun in der Rezeption aktivieren kann, um die Szene nicht nur zu verstehen, sondern sie auch mit Bedeutung zu füllen. Dies ist möglich, weil der Filmtext zu seinem Wissen hin geöffnet ist. Es ist leicht vorstellbar, wie komplex diese Bezüge werden, wenn es nicht um so einfache Alltagsbegebenheiten wie Restaurantbesuche und Gespräche geht, sondern z.B. um politische Macht, Hierarchien, Geschlechterverhältnisse, religiöse Praktiken, ökonomische Krisen und Ähnliches mehr.
Die Rolle des Wissens der Zuschauer wird noch deutlicher, wenn es nicht nur um die Informationsverarbeitung des Abgebildeten oder Repräsentierten und die Bedeutungszuweisung des Erzählten geht, sondern wenn die textuellen Strategien nach der kognitiven Aktivität der Zuschauer verlangen. Hierbei spielen die sogenannten Leerstellen eine wichtige Rolle, die aus rezeptionsästhetischen Arbeiten der Literatur- und Kunstwissenschaft bekannt sind (vgl. dazu Mikos 2001a, S. 15 ff.; Neuß 2002, S. 17 ff.) und auch in der Filmwissenschaft thematisiert wurden (vgl. Hanich 2012). In ihnen zeigt sich die Appellstruktur der Texte (vgl. Iser 1979; Mikos 2001a, S. 177 ff.). Leerstellen bilden gewissermaßen Lücken im Erzählfluss oder in der Repräsentation von Wirklichkeit. Diese Lücken müssen die Zuschauer mit ihrem Wissen füllen. In diesem Sinn sind sie Handlungsanweisungen an die Zuschauer, ihr Wissen zu aktivieren und bedeutungsbildend und sinngenerierend tätig zu werden. Norbert Neuß (2002, S. 19 ff.) hat eine erste Typologie von Leerstellen am Beispiel von Kinderfilmen entwickelt. Danach entstehen Leerstellen im Film durch imaginäre Zeiten und Räume, durch Sprachbilder und Metaphern, durch bildliche Symbole, durch die aktive Ansprache des Rezipienten und das Herstellen von »Wir-Gemeinsamkeit«, durch Fantasie öffnende Tätigkeiten, durch die Wahl der Perspektive und durch Abstraktion. Letzteres macht er am Beispiel von animierten Filmen deutlich, in denen abstrakte Bilder und Geräusche die Aktivitäten der Rezipienten anregen können. Das trifft auch auf die dargestellten Figuren zu. Je weniger detailreich z.B. die Zeichnung einer Figur ist, desto mehr Raum ist vorhanden, um sie mit eigenem Wissen und eigenen Interpretationen zu füllen.