Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka
Читать онлайн книгу.orientiert an der Konzeption von Peter L. Berger, demzufolge die wissenschaftliche Erstbegegnung mit der Soziologie durchaus als »Einladung« realisiert werden kann, soll dieser Grundkurs sowohl von der sprachlichen wie von der inhaltlichen Seite für soziologische Fragestellungen und Sichtweisen motivieren.
Durch die Annahme dieser »Einladung« sollen die Leserinnen und Leser neue Einsichten gewinnen in das mitmenschliche Zusammenleben, in die sozialen Prozesse des Handelns, Denkens und Fühlens sowie in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge, die der Alltagserfahrung gemeinhin versperrt bleiben. Da uns das tägliche Leben in der Gesellschaft betriebsblind machen kann, sind besondere Anstrengungen notwendig, die soziale Welt in ihrer Entwicklung und Struktur, ihrer Dynamik und Beharrlichkeit, ihren Wirkungen und Anforderungen neu zu entdecken. Hierzu gehören beispielsweise Fragen, was Menschen veranlasst, sich zusammenzutun, welche Formen des sozialen Lebens dabei entstehen, was sich in diesen abspielt und wie wir als Einzelne dadurch in unserem Verhalten beeinflusst werden.
Mit dieser Einführung sollen zunächst die notwendigen Grundlagen geschaffen werden für eine soziologische Perspektive, mittels derer gesellschaftliche Erscheinungen und Vorgänge genauer betrachtet und besser »verstanden« werden können (= Beitrag zur diagnostischen Qualifikation). Ferner soll der Grundkurs in exemplarischer Absicht eine praxisorientierte Hinführung zu den sozialwissenschaftlichen Erkenntnis- und Untersuchungsmethoden leisten (= Beitrag zur methodischen Qualifikation). Und schließlich sollen über eine bloße Vermittlung semantischer Bedeutungen hinaus pragmatische Benutzungsregeln vermittelt werden, die es den Leserinnen und Lesern erlauben, gesellschaftliche Phänomene und Prozesse in ihren vielfältigen Zusammenhängen und Ursachen besser beobachten, erklären und beurteilen zu können (= Beitrag zur professionellen Qualifikation).
Einladungen sind häufig mit neuen Bekanntschaften verbunden, die wiederum neue Einladungen auslösen. Diese Funktion erfüllen die am Ende jedes Abschnittes angebotenen Hinweise zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre. Die Annahme dieser Einladungen sei den Studierenden herzlich empfohlen, da dem Autor die Unvollständigkeit und die Subjektivität seiner thematischen Auswahl bewusst ist: Das Ausmaß an Systematik und fachwissenschaftlicher Information erfuhr sein Korrektiv durch die gewählte didaktische Orientierung.
Entstanden ist das vorliegende Buch aus einem Fernstudienprojekt des vormaligen Deutschen Instituts für Fernstudien (DIFF) an der Universität Tübingen. Den Kollegen aus dem wissenschaftlichen Beirat sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Projektgruppe »Politische Bildung« bin ich für ihre anregende und ermutigende Kritik sehr verbunden.
Wenn der »Grundkurs« jetzt in 10. überarbeiteter Auflage erscheinen kann, dann ist dies nicht zuletzt auch dem verlässlichen UTB-Engagement der UVK Verlagsgesellschaft in Konstanz zu verdanken.
Frau Sonja Rothländer von UVK danke ich wieder sehr herzlich für ihr bewährt umsichtiges Lektorat und ihre hilfreichen Anregungen auch bei dieser neuen Auflage.
Hans Peter Henecka
1. | Kapitel Ansatzpunkte und Grundthemen soziologischen Denkens |
1.1 | Wir und die anderen: Das Rätsel der Gesellschaft |
Mit Adam und Eva kann man auch in der Soziologie anfangen. Denn als sich die beiden im Paradies zum ersten Mal begegneten, waren sie vermutlich außer sich vor Staunen über dieses Rendezvous. Und in ähnlicher Weise mag es einem neugeborenen Kind ergehen, das zum allerersten Mal seiner Mutter oder seines Vaters gewahr wird und in seinem Lächeln die »Taufrische dieses ersten gesellschaftlichen Erlebnisses« (Berger & Berger 1974, 12) spiegelt. Kurz: Die Verwunderung über die Tatsache, dass Menschen uns begegnen und miteinander leben, ist schon ein erster Schritt auf dem Weg zur Soziologie.
Längst bevor wir darüber nachdenken und grübelnd forschen, stellt die einfache Erfahrung, dass wir nicht allein auf dieser Welt existieren, sondern in irgendeiner Weise immer mit anderen Menschen und Gruppen verbunden sind, den Zusammenhang her zu allem, was uns umgibt: zur Natur und zur Technik, zur Kunst und zur Wissenschaft, zur Politik und zur Wirtschaft, zum Recht, zur Religion, zur Musik usw. Denn auch die Erfahrungen mit all diesen Bereichen werden uns von anderen vermittelt, aufbereitet und interpretiert. So sind die »anderen«, auf die wir dann zeitlebens angewiesen sind und mit denen wir – wenn auch manchmal unter Mühen und Enttäuschungen – zusammenleben und -arbeiten, für uns eine grundlegende und lebenslange Erfahrung, – die wichtigste und entscheidendste Lebenserfahrung obendrein. Oder anders ausgedrückt: Wir befinden uns immer schon in einer von Menschen gestalteten und gedeuteten Kultur. Ohne sie ist menschliche Existenz nicht möglich.
Manchmal sinnieren wir über uns selbst und die anderen. Ausgelöst werden solche »besinnlichen« Anlässe meist durch unerwartete Situationen oder krisenhafte Erfahrungen, durch persönliches Betroffensein und durch ein unerklärliches Unbehagen: Wir wundern oder ärgern uns gar über Mitmenschen, die sich plötzlich ganz anders verhalten als wir erhofft oder befürchtet haben. Wir durchschauen unsere eigene Lage nicht mehr und beginnen an uns selbst und unseren Fähigkeiten zu zweifeln. Wir kommen aus dem routinierten Gleichgewicht des Alltags, weil sich Entwicklungen abzeichnen, mit denen wir nicht rechneten. Solche Alltagserfahrungen im privaten Bereich wären etwa eine unvorhergesehene Konflikt- oder schwierige Entscheidungssituation, der Verlust eines geliebten Partners, eine nachhaltige Veränderung unserer vertrauten Umwelt. Im öffentlichen Bereich könnten solche »Anstöße« beispielsweise ausgelöst werden durch eine wachsende Arbeitslosigkeit, durch Inflationen und Energiekrisen, durch politische Spannungen oder das Aufkommen von neuen Technologien, die unser bisheriges berufliches Wissen in Frage stellen und uns zum Umdenken und Umlernen zwingen. Plötzlich verstehen wir die Welt nicht mehr und fühlen uns abhängig oder gar bedroht von anonymen, gesichtslosen Mächten und Kräften oder undurchschaubaren globalen Entwicklungen, deren Ursprünge, Absichten und Wirkungen wir nicht mehr erkennen und auch nicht mehr kalkulieren, geschweige denn kontrollieren können.
Daneben stehen dann unsere ganz gewöhnlichen Routineerfahrungen mit anderen und uns selbst, bei denen der Brauch als vertraute Gewissheit die Regie führt. Es sind die Erfahrungen des üblichen Alltags, die wir im Großen und Ganzen gemacht haben und die uns immer wieder in gleicher oder sehr ähnlicher Weise begegnen. Alltägliche Erfahrungen und Erlebnisse, Vorgänge ohne Überraschungen und voller Selbstverständlichkeiten, die uns auch darum kaum noch bewusst werden, erregen oder gar zu einer Auseinandersetzung provozieren. Denn wir kennen ja das Leben und wissen, »wo es lang geht« und »was angesagt ist«.
So haben wir feste Vorstellungen darüber, wie die anderen beschaffen sind; meinen, die anderen deshalb auch »richtig« einschätzen zu können und verhalten uns ihnen gegenüber jeweils entsprechend. Ohne viel darüber nachzudenken wissen wir, dass es Menschen und Gruppen gibt, die »über uns« stehen und denen »es besser geht« oder auch andere, die »schlechter dran« sind als wir. Wir wissen, dass damit auch in unterschiedlichem Maße Macht, Einfluss und gesellschaftliches Ansehen verbunden sind. Wir argumentieren bei der Verteilung häuslicher Arbeiten mit dem »Wesen der Geschlechter« und haben recht klare Vorstellungen darüber, was nun einmal »typisch männliche bzw. typisch weibliche Arbeitsbereiche« im Haushalt sind. Wir haben gelernt, dass unsere Lebensbereiche in der Familie, im Beruf oder in der Freizeit teilweise recht verschieden, vielleicht sogar widersprüchlich sind und wissen ziemlich genau, wie wir uns jeweils in typischen Situationen zu verhalten haben, wie »man« sich beispielsweise zu bestimmten Anlässen zu kleiden pflegt, wie »man« sich eben hier oder dort begegnet und grüßt, wie »man« bei dieser oder jener Gelegenheit miteinander umgeht und miteinander spricht, ob »man« sich sachlich kühl und distanziert gibt oder sich persönlich einbringt, mitteilt und engagiert.
Wir und die anderen folgen dabei weitgehend denselben Spielregeln und Routinen, deuten unsere jeweiligen Handlungen und Verhaltensweisen gleich oder zumindest ziemlich ähnlich. Der Großteil unseres Alltags und unserer Begegnungen mit anderen folgt so bereits vorgespurten Linien fester gegenseitiger Erwartungen: Wir stellen so beispielsweise montags früh unseren Mülleimer vor die Haustür und verlassen uns darauf, ihn am Abend geleert vorzufinden; wir gehen zum Bäcker, um dort mit frischen Brötchen bedient zu werden; wir besteigen die Straßenbahn der Linie 7, weil wir wissen, dass sie uns zum Bahnhof bringt;