Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

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Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka


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Rolle. So werden wohl im Hinblick auf bestimmte Probleme in der Regel kaum sorgfältig abgewogene oder wohlüberlegte Gedanken und klare, präzise Kausalketten entwickelt, sondern eher spontane, für »richtig« und »plausibel« gehaltene Deutungen der Situation, die für uns dann »wirklich so ist«, zum Ausdruck gebracht. Die Alltagsprobleme werden von der eigenen Perspektive aus wahrgenommen und von den eigenen Werten, Normen und Überzeugungen her beurteilt. Ausgangspunkt ist jeweils das eigene, für »selbstverständlich« und »natürlich« gehaltene Bezugssystem. Die Sicht des anderen oder dessen Interpretation des Problems bleibt unberücksichtigt. Oft werden (vor-)schnell »Etiketten« verteilt und komplexere Zusammenhänge damit auf bestimmte Beziehungen zwischen Personen oder auf deren angenommene Eigenschaften reduziert. Erfahrungen, die sich solchen Zuschreibungen entziehen, werden dann meist fatalistisch als undurchschaubares Schicksal oder als in der Natur der Sache liegend begriffen.

      Der Philosoph und Begründer der phänomenologischen Soziologie Alfred Schütz (1899–1959) bezeichnet unser Alltagswissen als »natürliche Einstellung«, die sich unterscheidet von der wissenschaftlichen Erkenntnis mittels eines spezifischen Erkenntnisstils: In unserer »natürlichen Einstellung« stellen wir die Wirklichkeit nicht in Frage und haben keinen Zweifel, ob die Welt und ihre »Tatsachen« anders sein könnten. Unser Alltagswissen und unser Alltagsverständnis bestimmen also, welche Zusammenhänge bei gewissen Problemfällen in unseren Gesichtskreis rücken, welche Faktoren wichtig sind. Oft wird das Denken dabei von bewertenden Kategorien und absoluten Begriffen wie »gut« und »böse«, »schuldig« oder »unschuldig«, »richtig« oder »falsch« geleitet; zudem werden unsere »Erklärungen« von den durch das Problem ausgelösten eigenen Gefühlen und Eindrücken überlagert und – eben meist unbewusst – gesteuert:

      Herr Schmidt ist ja bekannt als recht aufbrausender »Alkoholiker«, die 12-jährige Tina flirtet bereits mit einem »Punker« (was offensichtlich in der Familie liegt, denn die Mutter hat ja seinerzeit auch schon »früh angefangen«), die Zwillinge von nebenan sind »schlecht erzogen« oder vielleicht hat auch der Hausmeister eine »unsoziale Einstellung«, weil er die Kinder nicht auf dem gepflegten Rasen spielen lässt. Für Frau Schmidt ist die Ehe sicher eine einzige Tortur, denn man »weiß« ja, dass Alkoholiker sehr labil sind, sich nicht beherrschen können und sich so ihr Schicksal selbst zuzuschreiben haben. Man »weiß« auch, dass bei »Frühreifen« die Triebhaftigkeit und sexuelle Aktivität im Blut steckt, was man aber durch geeignete Erziehungsmaßnahmen sicherlich in den Griff bekäme. Es ist »ganz offensichtlich«, dass die Nachbarin depressiv ist und mit der Geburt der Zwillinge total überfordert wurde. Und man kennt ja schließlich auch den übereifrigen Hausmeister, der im ganzen Viertel als Kinderschreck gilt.

      Dass es sich bei diesen »Eigenschaften« um etwas handelt, das mit der »Veranlagung« der Betreffenden zu tun hat, wird hierbei oft stillschweigend vorausgesetzt. Dass es sich bei den beklagten Verhaltensweisen jedoch gar nicht so sehr um individuelle Veranlagungen handeln könnte, sondern vielleicht eher um Eigenschaften, die sich erst unter ganz bestimmten Bedingungen des Zusammenlebens entwickelt haben, – diese Möglichkeit bleibt meist außerhalb unseres gewohnten Denkhorizonts.

       Oder denken wir daran, dass beispielsweise Alkoholismus weniger ein individuelles Problem ist, insofern dieses Problem ja besonders in Gesellschaften verbreitet ist, die den Alkoholkonsum als Zeichen von Männlichkeit und Lebensfreude ansehen oder auch als Seelentröster und probaten Konfliktlöser empfehlen?

       Denken wir daran, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften und bestimmte Ausdrucksformen des Protests (wozu aggressive sowie depressive Formen zu rechnen sind) sich eigentlich erst im Anschluss an ganz bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse in zwischenmenschlichen Beziehungsfeldern (z. B. in der Partnerschaft, in der Familie, in der Verwandtschaft, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz usw.) bilden?

       Oder denken wir daran, dass – wie beim Beispiel des »unsozialen« Hausmeisters – vielleicht auch eine mangelhafte Wohnungspolitik für Familien oder kinderfeindliche Leitbilder von Architekten, Baugesellschaften und Raumplanern eine Rolle spielen könnten?

      Die »Gewissheit« mit der wir aus unserem Alltagsverständnis heraus derartige Probleme beschreiben und erklären, wird eigentlich viel zu selten in Frage gestellt. Daher ist es auch kaum erstaunlich, wie selbstsicher und souverän wir im Umgang miteinander gewissermaßen »aus der Hüfte geschossene« Diagnosen abgeben, ohne die vielen komplexen Umweltbedingungen und Lebenserfahrungen zu kennen, die diese Menschen und ihre Probleme erst zu dem machten, was sie in den Augen der anderen sind.

      Hier hat die Soziologie eine kritische und aufklärende Funktion. Sie macht darauf aufmerksam, dass die raschen und intuitiven Zuordnungen und plausibel erscheinenden Zuschreibungen unserer privaten Alltagsinterpretationen nur allzu oft trügerisch sind und den tatsächlichen Problemhintergründen keineswegs gerecht werden. Es genügt nämlich nicht, irgendeine Meinung über ein Problem im zwischenmenschlichen Verhalten von sich zu geben, sondern diese Meinung muss an der konkreten Situation aufgewiesen, belegt und überprüft werden. Manche Erklärungen und Beschreibungen der Soziologie stimmen dann mit unseren bisherigen Meinungen und Überzeugungen nicht mehr überein. Manche beliebte »individualisierende« Denkfigur, manch gesellschaftlich akzeptiertes (und so bisweilen recht nützliches) Argument, manche gewohnte und vertraute Vorstellung von der sozialen Welt wird hierdurch fragwürdig. Indessen: Im Aufwerfen solcher »kontra-intuitiver« Fragen liegt gerade der besondere Nutzen der Soziologie. Oder um es mit Peter Berger (2011, 41) zu formulieren: »Die erste Stufe der Weisheit in der Soziologie ist, dass die Dinge nicht sind, was sie scheinen«.

      Indem die Soziologie ihr Erkenntnisinteresse vor allem auf die sozialen Bedingungen richtet, die hinter den beobachtbaren Tatsachen wirksam werden, und indem sie auf die Einbettung vieler Probleme in umfassendere gesellschaftliche Strukturzusammenhänge aufmerksam macht, leuchtet sie Bereiche aus, die vom naiven Alltagsdenken oft ausgeblendet werden oder deren Zugang versperrt bleibt. Damit eröffnet uns die Soziologie neue und rational anregende Sichtweisen, die eine Hilfe sein können für ein besseres Verständnis von uns selbst und von der Gesellschaft, in der wir leben.

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Arbeitsgruppe Soziologie (1992): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung. (Darin Kapitel 1 »Die Soziologen – Notorische Besserwisser?«, S. 9–22). Campus: Frankfurt/M.

      Peter L. Berger & Thomas Luckmann (2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 19. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt«, S. 21–48). Fischer: Frankfurt/M.

      Hartmut Esser (1999): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. (Darin Kapitel 3 »Soziologische Forschungsfragen: Fünf Beispiele«, S. 31–37). Campus: Frankfurt/M.

1.3Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft
1.3.1Zum Begrifflichen: Was heißt »sozial«?

      Wir haben bisher – ohne besondere semantische Reflexion – die Wörter »sozial« und »soziologisch« benutzt bzw. von der »Soziologie« gesprochen. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll vor unseren weiteren Überlegungen der Bedeutungsgehalt dieser elementaren Begriffe untersucht und unsere Verwendungspraxis erläutert werden.

       Beginnen wir bei dem Wort »sozial«. Hier hat die klassische Feststellung Senecas, dass »es sozial sei, ein gutes Werk zu tun« (»beneficium dare socialis res est«, Seneca, De beneficiis, V. 11) die alltagssprachliche Sinngebung und Benutzung dieses Wortes bis heute beeinflusst.Mit »sozial« in diesem Sinne wird eine ethisch-moralische Haltung angesprochen, wie sie beispielsweise nach christlichem Verständnis in den Seligpreisungen der Bergpredigt zum Ausdruck gebracht wird: Es ist »sozial«, den Armen und Behinderten zu helfen, Witwen und Waisen zu unterstützen, kranke und alte Menschen zu besuchen, Haftentlassenen eine berufliche Chance zu geben, für Katastrophenopfer oder für die Hungernden in der Dritten Welt zu spenden. Dieses Sinnverständnis unterliegt auch noch der »säkularisierten« Redewendung, wenn wir umgangssprachlich von einem »sozialen Typ« sprechen, der heute seinen »sozialen Tag« hat, weil er großzügig einen ausgibt.


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