Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle


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erweitert, insbesondere im Schlusskapitel mit einem Abschnitt zur gegenwärtigen Situation der Utopie. Darüber hinaus ist die neuere Literatur eingearbeitet worden. Wie in der Erstveröffentlichung gilt aber auch jetzt: Das Buch ist eine Überblicksdarstellung. Der Akzent liegt vor allem auf Kürze und Lesbarkeit. Anmerkungen sind hauptsächlich auf den Nachweis direkter Zitate, den Hinweis auf Quellentexte sowie weiterführende Literatur begrenzt.

      Mein Dank gilt allen bisherigen Leserinnen und Lesern und ihren vielen positiven Resonanzen und Rezensionen, meinen Kolleginnen und Kollegen an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing sowie meinen Studierenden an der Hochschule für Politik in München, die unter anderem in einer Vorlesung die Pfade der Utopie diskussionsfreudig mit mir beschritten haben. Besonderen Dank schulde ich auch dem Böhlau-Verlag für die stets professionelle Realisierung des Projekts sowie allen Freunden (ob Utopieforscher oder nicht) und natürlich meiner kleinen Familie, ohne deren Verständnis und Unterstützung weder Erst- noch Zweitauflage möglich gewesen wäre.

      Thomas Schölderle, im Februar 2017

      Am Anfang stand eine kurze, nur gut hundertseitige Schrift aus dem Zeitalter der Renaissance. Mit seiner Erzählung von der entlegenen Insel „Utopia“ (1516) kreierte der spätere englische Lordkanzler Thomas Morus nicht nur ein neues Wort, sondern bereicherte auch zahllose Sprachen dieser Welt um die Vokabel. Aus dem Eigennamen für den Schauplatz von Morus’ Fiktion wurde bald die Bezeichnung für ein literarisches Genre, später ein allgemein gebräuchlicher Begriff, letztlich ein vieldeutiges Schlagwort.

      Mit dem Ende des Realsozialismus freilich, erreichte die Konjunktur des Wortes ihren vorläufigen Tiefpunkt. Die kommunistische Bilanz des Schreckens wirkte wie eine Schockstarre für alle Illusionen und Visionen, die sich dem Realen nicht einverleiben ließen. Wer noch das Wort „Utopie“ im Mund führte, galt als verdächtig, als Verführer, als geschichtsvergessen. Nach der zweiten totalitären Katastrophe schienen utopische Wunschvorstellungen dem kollektiven Bewusstsein gänzlich abhanden gekommen. Das Scheitern des Sowjetimperiums war weithin gleichgesetzt mit dem Ende der Utopie, wiewohl der Realsozialismus, falls überhaupt, nur eine Frucht einer weitaus vielschichtigeren Tradition war, die auch zahlreiche Blüten des Denkens zum Vorschein gebracht hat. Das Wort also, soviel ist nicht zu bestreiten, war stets mehr als nur ein nüchtern-technischer Terminus einer bestimmten Sparte des politisch-philosophischen Diskurses. Es war immer auch, zumindest seit dem 19. Jahrhundert, ein politischer Kampfbegriff. Und das ist nur einer der Gründe, weshalb der Blick auf die Bestimmung des Begriffs einem so kaleidoskopischen Unterfangen gleicht.

      Nun ist es gewiss keine ungewöhnliche Praxis, dass Überblicksdarstellungen einleitend auf die irreführende Breite oder gar Konfusion der behandelten Begriffe verweisen. Nirgendwo scheint dieser Hinweis aber derart berechtigt, wie im Falle des Utopiebegriffs. Die Alltagssprache, häufig Quelle von Missverständnissen, ist dabei kaum das Problem. Was dort noch eine vergleichsweise klar umgrenzte Bedeutung besitzt, im Sinne von „un-wirklich“ oder „nicht-realisierbar“, das hat sich in der sozialwissenschaftlichen Debatte zu einem Sammelsurium von Begriffsmustern ausgewachsen, die sich im Extremfall sogar diametral widersprechen. Es ist vor allem die Wissenschaft selbst, die das fast babylonische Sprachengewirr zu verantworten hat.

      Inwieweit Morus’ Schrift für die Begriffsbildung als Richtgröße dienen kann und soll, ist umstritten. Den Ausgangspunkt bei Morus zu wählen, bietet sich allerdings schon aus ganz pragmatischen Gründen an. Morus war es, der das Wort erfunden hat.1 Aus seinem Werk konstituiert sich unbestreitbar ein Prototyp, der für viele folgende Entwürfe den Charakter einer Musterschrift beibehalten hat. Mit Blick auf Form, Inhalt, Funktion und Intention seiner Schrift lassen sich zudem viele Kriterien eines verallgemeinerungsfähigen Begriffs ermitteln. Ferner zeigt sich, wie sehr zahlreiche Grundsatzdiskussionen zum Utopieverständnis gerade an der Interpretation von Morus’ Utopia festzumachen sind. Es braucht daher zumindest gute Gründe, um Morus’ Schrift bei der Begriffsbestimmung auszugrenzen oder als exotischen Sonderfall zu behandeln. Andererseits lässt sich die Utopia nicht einfach zum alleinigen Maßstab erheben. Morus’ Wortkreation hat fortgewirkt. Mit späteren Entwürfen und nicht zuletzt mit der gesamten Utopiedebatte sind der Vokabel eine Fülle neuer Aspekte und Bedeutungsnuancen zugewachsen. Einige Hinweise zu den Charakteristika des Sprachgebrauchs und der Diskurslandschaft mögen daher helfen, das Feld einleitend etwas zu strukturieren.

      Aufschlussreich ist bereits der Blick auf den etymologischen Ursprung des Begriffs. Morus’ Wortschöpfung ist geformt aus zwei griechischen Vokabeln: „ou“ heißt „nicht“, „tópos“ ist der „Ort“. Utopia bedeutet also wörtlich so viel wie Nichtort, Nirgendland oder Nirgendwo. Diese schlagende Kreation ist sprachlich allerdings falsch gebildet, weil im Griechischen die Negation „ou“ stets zur Satzverneinung dient, während für die Negation eines Adjektivs oder Substantivs das sogenannte „Alpha privativum“ verwendet wird, das auch im Deutschen durch Bildungen wie apolitisch oder amoralisch vertraut ist. Gleichwohl darf unterstellt werden, dass Morus’ fehlerhafte Wortschöpfung kein Versehen war. Die beiden griechischen Präfixe „ou“ und „eu“ haben im Englischen einen homofonen Klang. Daher kann der Begriff auch als „Eutopia“ gelesen werden, womit „guter“ Ort gemeint wäre. Dieses Wortspiel wird in einem der Utopia vorangestellten Sechszeiler sogar bewusst verwendet.2 Im unmittelbaren Entstehungskontext der Utopia tritt zudem noch eine weitere Anspielung zutage: Der Humanist Budaeus nutzt in einem Begleitbrief zur Utopia das Wort „Udepotia“ (griech. „oudepote“ = „niemals“) und verweist damit auf die Bedeutung von „Niemalsland“ 3 – eine Assoziation, die bemerkenswerterweise mit einer späteren und äußerst einschneidenden Veränderung innerhalb der Utopiegeschichte korrespondiert, denn spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts ersetzt Louis-Sébastien Mercier mit seiner Schrift Das Jahr 2440 die Dimension des Raumes durch die Dimension der Zeit.4 Fortan wird die utopische Fiktion aus Sicht des Verfassers fast ausnahmslos in die Zukunft projiziert. Zugleich verliert sich dabei allerdings auch zunehmend die Implikation des Wortes „nie“, weil apodiktische Aussagen über Entwicklungen der Zukunft verständlicherweise kaum noch in vergleichbarer Weise möglich sind.

      Mit dem 19. Jahrhundert hält der Terminus dann auch Einzug in die Alltagssprache. Wenngleich das Adjektiv „utopisch“ seither meist negativ besetzt ist, so hat sich doch vieles vom Ursprungssinn der Wortschöpfung bis in die Gegenwart erhalten: Ein Plan, der utopisch ist, lässt sich nicht realisieren; eine utopische Erwartung wird sich niemals erfüllen. Das Adjektiv meint also so viel wie „unrealistisch“, „träumerisch“ oder „übersteigert“ und bezeichnet insofern ein Denken oder Handeln, das zwangsläufig scheitern muss, weil ein realitätsblinder Urheber die Voraussetzungen für eine Verwirklichung verkennt.5 Entscheidend ist demnach die Nicht-Realisierbarkeit des Geschriebenen, Gesagten oder Gedachten, und die mitschwingende Kritik deutet an, dass Utopien in unzulässiger Weise wegführen vom Möglichen und Nötigen. Diesem abwertend gemeinten Sinn zufolge besitzt der Begriff zumindest tendenziell die Bedeutung von „Hirngespinst“, „Luftschloss“ oder „Wolkenkuckucksheim“. Eine weitere umgangssprachliche Bedeutung lässt sich außerdem im Sinne einer „über den Tagesbetrieb hinaus reichende(n) Perspektive“6 ausmachen. Ein derartiger Sprachgebrauch kann nicht nur wertneutral, sondern durchaus positiv gemeint sein; zugleich ist das Bedeutungsfeld dann allerdings bereits extrem weit gefasst. Für einen wissenschaftlich sinnvollen Begriff ist von den meisten alltagssprachlichen Bedeutungen aber schon deshalb abzusehen, weil nicht nur zentrale Funktionen, sondern letztlich auch das zwingendste Element aller Utopien verloren gegangen ist: die Intention unmittelbarer Sozialkritik.7

      Der abwertende Sinn des Alltagsverständnisses artikuliert sich noch deutlich radikaler auf dem Feld politisch-ideologischer Auseinandersetzungen. Das Wort wurde und wird häufig als politischer Kampfbegriff genutzt, um gegnerische Positionen als illusionär und wirklichkeitsfremd zu titulieren. Bereits im 19. Jahrhundert nahm dieser polemische Sprachgebrauch seinen Anfang: Die Frühsozialisten machten sich gegenseitig die Utopie zum Vorwurf 8, die Marxisten klebten den Frühsozialisten abschätzig das Etikett „utopisch“ an die Brust und werteten deren Entwürfe als unwissenschaftliche


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