Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle


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Ausweitung des Bedeutungsfeldes, etwa wenn bei Ernst Bloch Märchen, Mythen, Fabeln, Heilserwartungen, Tagträume oder Sozialprognosen unisono als Utopien angesprochen werden oder wenn der Wissenssoziologe Karl Mannheim (1893–1947) sämtliche ideologische Weltanschauungen der Neuzeit als Utopien wertet.17 Andererseits sind die Begriffsmuster auch viel zu eng, weil selbst die prägenden Entwürfe der Utopiegeschichte dort keinen rechten Platz mehr finden. Hauptgrund ist, dass die Konzeptionen primär vom Wirkkontext der Utopien ausgehen. So hat beispielsweise für Karl Mannheim eine Vorstellung ausgerechnet dann als Utopie zu gelten, wenn sie sich als verwirklichbar herausgestellt hat, das heißt die Realisierung liefert ex-post den Beweis für die Utopie.18 Nicht nur, dass diese Bestimmung der gängigen, auch alltagssprachigen Bedeutung völlig zuwiderläuft, verbunden ist damit auch, dass man immer erst nachträglich einen Maßstab in Händen hält, um ein Urteil über die Zugehörigkeit zum utopischen Denken fällen zu können. Nicht einzusehen ist jedoch, warum erst eine spätere Realisierung oder historische Wirkung darüber entscheiden soll, ob man einen früheren Entwurf als Utopie einzustufen hat. Für den totalitären Utopiebegriff gilt diese reduktionistische Perspektive kaum weniger. Das gesamte Erkenntnisinteresse ist dort ohnehin nur auf spätere totalitäre Exzesse eingeschränkt.19

      Der nachstehende Überblick wird sich deshalb primär am klassischen Begriffsmuster orientieren. Dieser Ansatz ermöglicht, die Utopie als eigenständige Denktradition zu rekonstruieren, sie abzugrenzen und zugleich in Beziehung zu benachbarten Strömungen zu setzen, aber auch historische Konvergenzphänomene zu beschreiben. Als Utopien gelten fortan rationale Fiktionen menschlicher Gemeinwesen, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt sind.

      Unterscheiden lassen sich Utopien damit stichwortartig von allen Formen, deren Projektionen auf jenseitige, metaphysische oder längst vergangene Vorstellungen gerichtet sind, etwa der biblische Garten Eden, der Mythos vom Goldenen Zeitalter oder sämtliche eschatologische Heilserwartungen. Darüber hinaus sind Utopien stets rational mögliche Alternativen des menschlichen Zusammenlebens und tragen einen prinzipiell politischen Charakter: Magische Wünsche, Märchen, Traumassoziationen, Robinsonaden oder Schlaraffenland-Erzählungen – all diesen Fiktionen fehlt entweder das Merkmal der Sozialkritik oder es mangelt ihnen an der innerweltlichen Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens. Science-Fiction ist in erster Linie Abbild und Verlängerung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, und insofern kein Instrument der Sozialkritik. Dass hier Überschneidungen denkbar sind, versteht sich fast von selbst; doch falls die technische Fantasie keinerlei gesellschaftspolitische Relevanz besitzt, ist die Abgrenzbarkeit sogar eindeutig. Zu unterscheiden ist die Utopie aber auch von Prognostik oder Futurologie, denn ihr geht es nicht um die möglichst treffgenaue Vorhersage kommender Entwicklungen auf der Basis einer empirischwertneutralen Methode, sondern um den normativen Anspruch, die Zukunft zum Besseren zu wenden.20

      Das zentrale Auswahlkriterium für die folgende Darstellung ist der Versuch, Exemplarisches zu verdeutlichen. Das beinhaltet zum einen Modelle, die aufgrund ihrer Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte besonders einflussreich geworden sind und sich in diesem schlichten Sinne als „klassisch“ einstufen lassen. Es umfasst aber auch besonders charakteristische Wendungen oder Neuerungen, die gleichfalls eine nachhaltige Wirkung auf den Verlauf des Utopiediskurses ausgeübt haben. Gedacht sei etwa an den Wandel von der Raum- zur Zeitutopie oder an den Umschlag vom positiv gemeinten Modell hin zum negativen Szenario der Warnung. Am Beginn dieser (neuzeitlichen) Geschichte steht, wie gesagt, die kleine Schrift von Thomas Morus. Ihre zentralen Merkmale und Grundideen werden im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen.

      Das Rätsel um die richtige Lesart seiner Schrift hat die Nachwelt bis heute nicht losgelassen. Die Interpretationsversuche sind inzwischen Legion.21 Kern des Streits ist dabei fast immer die Frage, wie ernst, im Sinne eines persönlichen Ideals, der Entwurf des utopischen Staatsmodells gemeint war. Die Frage hat viel mit Morus’ Biografie zu tun, wenngleich damit auch viele falsche Fährten gelegt werden.

      Geboren wurde Thomas Morus am 6. oder 7. Februar 1478 in London. Als Richter und Diplomat, als Gesandter und Parlamentssprecher, als Universitätsverwalter und Gelehrter hatte es Morus zu europäischer Bekanntheit gebracht. Neben Erasmus von Rotterdam, mit dem ihn eine lebenslange und tiefe Freundschaft verband, galt er als einer der größten Humanisten seiner Zeit. Eine steile Karriere führte ihn bis in das höchste Amt unter dem König: Von 1529 bis 1532 war Morus englischer Lordkanzler. Zwei Ereignisse ragen jedoch aus seiner Biografie heraus. Sie machten ihn hochberühmt und stehen sich doch scheinbar unversöhnlich gegenüber.

      Da ist zum einen der Märtyrertod. Morus wurde man 6. Juli 1535 auf dem Towerhügel enthauptet. Der historische Hintergrund ist eines der prägendsten Ereignisse der englischen Geschichte. Mit der Entscheidung von Heinrich VIII., seine Ehe mit Königin Katharina für ungültig erklären zu lassen und Anna Boleyn zu heiraten, nahm auch das unglückliches Schicksal von Morus seinen Lauf. Der König hoffte seit geraumer Zeit auf einen männlichen Thronerben. Er schwärmte zudem leidenschaftlich für Anna Boleyn, die sich ihm als Mätresse aber verweigerte. Überdies war die Ehe mit der Spanierin Katharina nicht mehr von besonderem politischen Nutzen, weil sich England auf die Seite Frankreichs zu schlagen begann. Als der Papst dem König das Vorhaben verwehrte, scheute Heinrich keine Eskalation mehr. Er trennte die englische Kirche von Rom und ließ sich zum Oberhaupt seiner neuen Anglikanischen Kirche ausrufen. Der englische Thron führt den Titel bis heute. Begleitet wurde die Affäre von einem an Spitzfindigkeit kaum zu überbietenden Theologenstreit.22 Viele Menschen verloren im Gefolge der Auseinandersetzung ihren Kopf. Nach dem einmal begangenen Tabubruch kannte Heinrich keine Hemmungen mehr: Insgesamt sechs Mal war er verheiratet; zwei seiner Ehefrauen, darunter Anna Boleyn, endeten auf dem Schafott. Die Aufhebung der Klöster und Stifte machte 6251 Mönche und 1560 Nonnen obdachlos. Heinrich entwickelte sich zu einem der grausamsten Herrscher der englischen Geschichte.

      Das Manöver seines Königs hatte Morus von Anfang an mit Skepsis begleitet. Die protestantische Reformation lag erst wenige Jahre zurück. Morus sah die Einheit der Christen endgültig bedroht. Bereits im Mai 1532 war er unter vorgeschobenen Gründen vom Amt des Lordkanzlers zurückgetreten. Öffentlich ließ er nichts verlauten, auch nicht, als der längst vorgezeichnete Weg seinen Lauf nahm: Am 25. Januar 1533 heiratete Heinrich heimlich Anna Boleyn, am 1. Juni wurde sie zur Königin gekrönt. Als Morus schließlich 1535 im Palast von Lambeth genötigt wurde, den Eid auf die neue Kirche zu leisten, verweigerte er den Schwur. Man warf ihn daraufhin in den Tower, machte ihm den Prozess und verurteilte ihn zum Tode mit den denkbar grausamsten Methoden. Sein Strafurteil sah vor, ihn durch Londons City zu schleifen, lebendigen Leibes sollte ihm das Geschlechtsteil abgeschnitten, der Bauch aufgeschlitzt, die Eingeweide herausgerissen und verbrannt werden. Danach sollte man ihn vierteilen und jedes der vier Teile auf einem der Tore Londons und sein Haupt auf der London Bridge zur Schau stellen. Morus blieb die Prozedur erspart, weil ihn der König in letzter Sekunde zum Tod durch Enthauptung begnadigte. Von der Hinrichtung sind allerdings keinerlei Äußerungen der Bitterkeit überliefert. Vielmehr kommentierte Morus das Hinrichtungszeremoniell mit Ironie. Zum Gouverneur des Towers soll er scherzend gesagt haben: „Helft mir bitte beim Hinaufsteigen, Master Kommandant, für mein Herunterkommen laßt mich selber sorgen.“ Seine letzten Worte, die über die Jahrhunderte hinweg inzwischen zum geflügelten Wort geworden sind, lauteten: „Ich sterbe als des Königs treuer Diener, doch Gottes zuerst.“23 Seit 1935 zählt ihn die katholische Kirche zu ihren Heiligen.

      Doch ausgerechnet dieser Mann, der für die Einheit der Kirche sein Leben opferte, hatte knapp zwei Jahrzehnte zuvor eine Schrift veröffentlicht, die mit seinem Märtyrertod völlig unvereinbar schien. In seiner Utopia von 1516 beschrieb Morus kein genuin christliches Gemeinwesen, sondern einen weitgehend heidnischen, rationalistischen und sozialistischen Staat. Der Widerspruch schien so unüberbrückbar, dass viele Kommentatoren kurzerhand einen tiefen Bruch in Morus’ Biografie unterstellten. Vom erzkonservativen Katholiken (Reinhold Baumstark) bis zum überzeugten Sozialisten (Ernst Bloch) reichte die


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