Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle


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Der Inhalt der Schrift schien Beweis genug, um den Verfasser als aufgeklärten, ja zutiefst antiklerikalen Gelehrten einzustufen. Diese Einschätzung ist jedoch schlechterdings falsch. Ein „heidnischer“ Morus ist zu keiner Sekunde seines Lebens und Schreibens überliefert. Bereits die frühen Jahre zeigen einen tieffrommen Menschen. Immerhin vier Jahre (1499–1503) lebte er, ohne ein Gelübde abzulegen, bei den Londoner Kartäusern. Die Entscheidung zugunsten einer bürgerlichen Laufbahn ist wohl auf zwei Faktoren zurückzuführen: die Rolle seines Vaters und das Eingeständnis, ungeeignet für den Zölibat zu sein. Erasmus schrieb, Morus wollte lieber ein reiner Ehemann als ein unkeuscher Priester sein.25 Morus aber blieb zeitlebens ein frommer Christ, der selbst der Askese gegenüber nicht abgeneigt war. Bis zu seinem tragischen Tod fastete und betete Morus zu regelmäßigen Zeiten und sein Schwiegersohn Roper berichtet, dass er heimlich „ein härenes Hemd auf der bloßen Haut“ trug und seinen Körper von Zeit zu Zeit „mit einer geknoteten Geißel“ kasteite.26 Auch Morus’ Schriften geben keinen Anlass, an seinem Katholizismus zu zweifeln. Ob in seinen Epigrammen oder den Übersetzungen des griechischen Satirikers Lukian (1505/06), ob in der frei übertragenen Biografie des Pico della Mirandola (1505) oder dem dramaturgischen Werk über die Geschichte Richard III. (1514) – immerzu tritt dort ein ebenso gottesfürchtiger, historisch interessierter wie politisch engagierter Humanist und Literat hervor. Bis zur Abfassung der Utopia (1515/16) spricht nichts für die These eines zeitweilig „unchristlichen“ Morus. Im Anschluss daran ist das noch weit weniger der Fall: Ab Mitte der 1520er-Jahre engagierte er sich mit theologischen Kontroversschriften vehement gegen reformatorisch gesinnte Zeitgenossen (Luther, Tyndale). Und die Zeit im Tower ist schließlich reich an christlicher Erbauungsliteratur, tröstlichen Briefen und frommen Gebeten. Wenn man also nicht behaupten will, dass Morus in den wenigen Monaten während der Abfassung der Utopia von einem „heidnischen Fieber“ befallen wurde, dann heißt das: Es steckt hinter der Utopia kein heidnischer Verfasser. Die genannten Urteile werfen daher vielmehr ein grelles Licht auf das methodisch höchst problematische Vorgehen, vom Inhalt des utopischen Entwurfs auf die persönliche Ansicht des Autors zu schließen. Auf dem Prüfstand steht damit aber noch weit mehr, nämlich zugleich, was gemeinhin fast als Synonym zur Utopie gilt: die Fiktion eines im Sinne des Autors idealen Gemeinwesens.

      Gleichwohl muss man sich auch davor hüten, die Utopia nur vor dem Hintergrund von Morus’ dramatischem Ende zu betrachten. Als er sie niederschrieb, stand das Ereignis der Reformation noch bevor. Diese Zäsur hat das geistige Klima in Europa nachhaltig verändert und die Fronten polarisiert. Auch Morus’ Reformeifer ist dadurch gemäßigter geworden.27 Eine Verbindung zwischen seinem Märtyrertod und seiner berühmtesten Schrift gibt es dennoch: Der Mensch, dem selbst im Augenblick des Todes der Humor nicht zu nehmen war, war auch zeitlebens ein ebenso ernsthafter wie heiter-ironischer Charakter. Und exakt in diese beiden Gesichter blickt man letztlich auch bei der Lektüre seiner Utopia. Vor allem das beständige Schwanken zwischen Ernst und Ironie ist einer der Hauptgründe für die beinahe groteske Palette der Interpretationsperspektiven.

      Nach Morus’ Seligsprechung (1886) und mehr noch nach der Kanonisation (1935) begannen in konservativ-katholischen Kreisen verstärkt Versuche, die „heidnische“ Utopia mit ihrem christlichen Autor vereinbar zu machen. Wollte man die Schrift nicht sogleich als Morus’ „größten Missgriff“28 werten, dann musste man sie zu einem rein ironischen Spiel, zu einem einzigen humanistischen Jux erklären.29 Völlig anders werteten allerdings die sozialistischen Vertreter die Schrift. Nicht als Scherz, sondern als Morus’ ganz persönlicher und sozialistischer Idealstaatsentwurf galt dort die Utopia. Der bekannte Sozialist Karl Kautsky hielt die Utopia für die wichtigste vorwissenschaftliche Version des modernen Kommunismus; und er war damit nur der erste Vertreter einer langen Reihe von Autoren, die keineswegs nur sozialistische Kommentatoren umfasste.30 Auffallend an den vielen Lesarten der Utopia – von denen hier nur zwei exemplarisch herausgegriffen wurden – ist allzu oft die Einseitigkeit bei der Beobachtung oder Betonung bestimmter Aspekte. Zudem hat sich die Forschungsliteratur inzwischen darin überboten, eine schier endlose Liste an möglichen Quellen oder Vorbildern zur Utopia zu erstellen, die nicht selten monokausal zur Entschlüsselung des Werkes dienten: Platons Politeia, die Gemeinschaft der Urchristen, Augustinus’ Gottesstaat, die Ironie Lukians, die römischen Satiriker Horaz und Juvenal, das Klosterleben, die Gattung der Fürstenspiegel oder Amerigos Reiseberichte – all diese Einflüsse und Quellen lassen sich problemlos nachweisen und je nach Blickwinkel wird man somit auch stets sozialistische, idealstaatliche, satirische, reformerische, heidnische, machtpolitische, moderne oder mittelalterliche Elemente in der Utopia finden. Doch für viele Lesarten gilt, was bereits Eberhard Jäckel 1955 mit Nachdruck kritisierte: Es mangelt ihnen selten an der Entdeckung neuer Momente, vielmehr kranken sie an Überbetonung oder Verabsolutierung.31

      Für eine dritte Gruppe ist die Utopia daher zunächst ein Zeugnis frühhumanistischen Denkens.32 Wenngleich viele Einzelfragen auch innerhalb dieser Perspektive offen und strittig geblieben sind, so verfügt der „humanistische“ Ansatz doch zumindest über den Vorteil, einen Einzelaspekt nie für das Ganze zu nehmen. Die Antwort auf die Frage nach der richtigen Interpretation der Utopia – und damit auch ein wichtiges Vorverständnis des Utopiebegriffs – lässt sich selbstredend nicht ohne Blick auf die Schrift selbst gewinnen.

      Rein formal handelt es sich bei der Utopia um einen literarischen Dialog, dessen Thema der „beste Staat“ ist. Ort der ausgesprochen dürftigen Handlung ist Antwerpen, eine der wichtigsten Handelsmetropolen Europas im frühen 16. Jahrhundert. Das Buch beginnt nachweislich autobiografisch: Morus befindet sich von Mai bis Oktober 1515 auf einer königlichen Gesandtschaft in Flandern, um dort über Handelsverträge zwischen englischen und niederländischen Kaufleuten zu vermitteln. Als die gegnerische Delegation vorübergehend abreist, um erneut ihre Auftraggeber zu konsultieren, nutzt Morus die Gelegenheit, den befreundeten Humanisten Peter Gilles in Antwerpen zu besuchen.

      Von hier ab verlässt die Erzählung den Boden der Tatsachen und geht in den Bereich der Fiktion über. Nach einem Gottesdienstbesuch trifft der Ich-Erzähler seinen Freund Peter Gilles, den Stadtschreiber von Antwerpen, den er in ein Gespräch mit einem Fremden verwickelt sieht. Der Fremde ist Raphael Hythlodaeus. Die Gesprächspartner begeben sich in den Garten von Morus’ Antwerpener Domizil, gehen mittags Essen und kehren nachmittags in den Garten zurück. Das Gespräch endet abermals im Speisezimmer mit dem Wunsch auf baldige Fortsetzung des Dialogs. Damit ist im Grunde alles zum formalen Geschehen in der Utopia gesagt: Nicht die Handlung kennzeichnet die Schrift, sondern die im Gespräch behandelte Gedankenwelt. In einer über weite Strecken monologisierenden Rede berichtet Hythlodaeus im zweiten Teil von der fernen und glücklichen Insel „Utopia“. Diesem Bericht gehen aber zunächst zwei ausführliche Erörterungen im ersten Buch voraus. Dabei handelt es sich zum einen um die Frage, ob nicht ein so erfahrener und philosophischer Kopf wie Raphael in den Dienst eines großen Fürsten treten sollte, um diesem mit seinem Rat zur Seite zu stehen. Raphael lehnt den Vorschlag kategorisch ab. Zum Zweiten trägt Raphael eine massive Sozialkritik vor, die sich gegen die innenpolitische Situation Englands sowie das außenpolitische Verhalten der Fürsten Europas richtet. Bereits damit ist angezeigt, dass sich Morus’ Utopie nicht im Porträt einer imaginären Welt erschöpft. Mindestens ebenso bedeutsam erscheint die kritische Diagnose der Gegenwart, die Auseinandersetzung mit den sozialen und politischen Verhältnissen der Zeit.

      Die Komposition der Schrift erschließt sich zum Teil bereits aus ihrem unmittelbaren Entstehungskontext. Auf seiner Gesandtschaft in Flandern hat Morus auch das zweite Buch, also den Bericht über die entlegene Insel, niedergeschrieben. Nach seiner Rückkehr nach England sah sich Morus dann mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich intensiv mit den politischen Realitäten seiner Zeit auseinanderzusetzen, vor allem durch das dringende Ersuchen, seine Dienste künftig allein dem König zu widmen. Erst in London fügte er das erste Buch nachträglich hinzu. Dieser Teil ist deshalb vor allem das Ergebnis von Morus’ Reflexion über die Problematik, wie man in einer korrupten Wirklichkeit politische Verantwortung übernehmen kann, ohne dabei von den moralischen Prinzipien eines christlichen Humanismus abzufallen. Mit dem Vorziehen des später geschriebenen ersten Teils


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