Internationale Migrationspolitik. Stefan Rother
Читать онлайн книгу.die innerhalb ihres Heimatlandes flüchten, und von der UNHCR offiziell als „Internally Displaced Persons“ (s.o.) bezeichnet werden. Wie wir schon gesehen haben, machen sie den größeren Teil der weltweit Geflüchteten aus. Obwohl sie häufig aus den gleichen Gründen fliehen (bewaffnete Konflikte, Menschenrechtsverletzungen), verbleiben sie jedoch im Gegensatz zu internationalen Geflüchteten unter dem Schutz des Rechtssystems ihres Staates (UNHCR 2014). Dennoch ist klar, dass auch diese Gruppe internationalen Schutzes bedarf, insbesondere wenn die eigene Regierung der Grund für ihre Flucht ist, wie man aktuell in Syrien sieht.
Entwicklung der Zahl der Geflüchteten weltweit 1951-2019 (inkl. Binnenvertriebene) (in Millionen)
Quelle: UNHCR 2020.
Über die Hälfte der weltweit flüchtenden Menschen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Viele von ihnen flüchten sogar alleine, ohne die Begleitung ihrer Eltern oder sie werden auf der Flucht von ihnen getrennt. Im Jahr 2015 wurden weltweit knapp 100.000 unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche außerhalb ihrer Herkunftsländer registriert (UNHCR 2017). Diese Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten gehört zu der Gruppe der „besonders schutzbedürftigen Personen“ (Müller 2014, S.10). Sie sind auf der Flucht oftmals besonderen Gefährdungen ausgesetzt, werden häufig Opfer von Gewalt, Konflikten und auch Ausbeutung. Aus diesen Gründen benötigen sie besonderen Schutz und Aufmerksamkeit (Müller 2014, S.10). Besonders problematisch ist ihre Situation an der US-amerikanischen Grenze. Hier werden trotz strenger Gesetze und Richtlinien Kinder immer wieder inhaftiert und sogar vermisst gemeldet.
Neben den UNHCR-Institutionen gibt es noch zahlreiche weitere weltweit agierende supra- und interstaatliche Institutionen und Organisationen. Dazu zählt u.a. auch die Internationale Organisation für Migration (IOM), die ebenfalls 1951 gegründet wurde. Die IOM ist eine Serviceorganisation mit 166 Mitgliedstaaten. Sie führt vor allem Hilfsprogramme durch, deren Hauptzielrichtung die Rückführung ist. Sie wird von Menschenrechtsorganisationen häufig dafür kritisiert, dass sie die Rechte der Migrant*innen nicht ausreichend schützt (→ 13 Global Migration Governance). Auch die EU kann als ein wichtiger Akteur im internationalen Fluchtregime angesehen werden. Die EU richtete 1992 eine Generaldirektion für humanitäre Hilfe ein und ist in nahezu allen Krisenregionen der Welt aktiv. Zudem ist die EU einer der größten Geber von Entwicklungsgeldern zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Weitere intergouvernementale Behörden sind z.B. das World Food Programme (WFP) und der United Nations Children’s Fund (UNICEF).
Neben staatlichen Institutionen und Organisationen entstanden zunehmend auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich für die Rechte und den Schutz von Geflüchteten einsetzen und oftmals staatlichen Institutionen kritisch gegenüberstehen. Diese spielen aufgrund ihrer wachsenden Einflussmöglichkeiten eine immer größere Rolle im internationalen Fluchtregime. Dazu gehören OXFAM, Terre des Hommes, Cap Anamur, Ärzte ohne Grenzen, CARE International sowie No Border Network, Human Rights Watch, das International Rescue Committee (IRC) und weitere international agierende NGOs. Aufgrund ihrer schlanken Strukturen und relativ kurzen Entscheidungswege sind NGOs häufig flexibler und damit zu schnellerer Hilfe in der Lage als staatliche Stellen (Neumayer 2016). Es wird daher von vielen Seiten gefordert. NGOs einen größeren Stellenwert im internationalen Fluchtregime zu geben (Loescher 2001; Keely 2001; Castles und Miller 2009; Kosher 2012) (zum Regimebegriff auch → 2 Migrationstheorien).
3.3 Aufnahmeländer
Mit den ansteigenden Geflüchtetenzahlen steigt auch der Druck auf die Aufnahmeländer. Die unmittelbaren Nachbarländer in den Konfliktregionen tragen meist die Hauptlast für die Aufnahme von Geflüchteten und stoßen an ihre Grenzen. Ein Blick auf die regionale Verteilung der Geflüchteten auf die verschiedenen Kontinente zeigt, dass knapp 30 Prozent der offiziell von der UNHCR registrierten Geflüchteten in Subsahara-Afrika lebt, und weitere 12 Prozent in Nordafrika und dem Nahen Osten. Die Herausforderung ist für diese Länder besonders groß, weil die meisten selbst Entwicklungs- oder Schwellenländer sind (UNHCR 2020).
Verteilung von Geflüchteten 2019 auf die verschiedenen Kontinente (in %)
Quelle: UNHCR, Global trends. Forced displacement in 2020.
Blickt man auf die einzelnen Länder, sticht die Türkei besonders hervor. Seit dem Syrien-Krieg hat sie mit über 3,6 Millionen Menschen weltweit die größte Zahl von internationalen Geflüchteten aufgenommen. Danach folgen Kolumbien mit 1,6 Millionen (vor allem aus Venezuela) Geflüchteten sowie Pakistan (mit Geflüchteten vor allem aus Afghanistan) und Uganda mit jeweils 1,4 Millionen Geflüchteten, die in Uganda vor allem aus dem Kongo und dem Südsudan stammen. Auf Platz 5 folgt Deutschland mit 1,1 Millionen Geflüchteten. Im Verhältnis zur Größe der einheimischen Bevölkerung nimmt jedoch der Libanon mit Abstand die meisten Geflüchteten auf, gefolgt von Jordanien, der Türkei, dem Tschad, Uganda und dem Sudan. Als erste europäische Länder folgen Schweden und – nach dem Südsudan – Malta.
Die fünf größten Aufnahmeländer von Geflüchteten 2019 (in Millionen)
Quelle: UNHCR, Global trends. Forced displacement in 2020.
In vielen Ländern erfolgt die Aufnahme mittels Unterbringung in Geflüchtetenlagern, die zumeist als kurzfristige Zwischenlösung gesehen werden. Der UNHCR bringt Geflüchtete seit den 1980er Jahren zu einem großen Teil in Lagern unter, die jedoch bei anhaltenden Fluchtsituationen teilweise über Jahrzehnte bestehen bleiben. Derartige Lager entwickeln häufig eine gewisse Eigendynamik, zumal sie oft losgelöst vom Aufnahmeland in wenig bevölkerten, ländlichen Gegenden liegen. Die physische und wirtschaftliche Isolation bewirkt, dass wenig Austausch mit dem Aufnahmeland stattfindet und sich so eine Art Mikrokosmos entwickelt. Das Lagerleben gewinnt dabei an sozialer und auch ökonomischer Bedeutung. Die Lebensbedingungen in Geflüchtetenlagern changieren von annehmbar bis katastrophal, je nach nationalen und lokalen Gegebenheiten. In manchen Regionen dürfen sich Geflüchtete beispielsweise auch außerhalb der Lager frei bewegen und der Zugang zu Arbeit und Bildung variiert ebenso. In anderen Lagern ist selbst der Zugang zu medizinischer Versorgung, Lebensmitteln und sauberem Wasser eingeschränkt (Buckley-Zistel et al. 2014, S.75ff.).
Eines der größten Geflüchtetenlager weltweit, Cox’s Bazar, liegt in Bangladesch, das seit den 1970er Jahren hunderttausende Geflüchtete der muslimischen Rohingya-Minderheit aus Myanmar aufgenommen hat. Rohingya-Geflüchtetenlager bestehen dort bereits seit mehr als zwanzig Jahren, die 2017 angestoßene Vertreibung durch die Regierung Myanmars hat jedoch eine Rekordzahl von über 700.000 Rohingyas über die Grenze nach Bangladesch getrieben (UNHCR 2020). Menschenrechtsorganisationen stufen den Konflikt mittlerweile als Genozid ein (BBC 2020). Mit fast 600.000 Bewohner*innen ist das Geflüchtetenlagern Kutupalong das größte der Welt. Zusätzlich leben noch schätzungsweise 500.000 Rohingya in lagerartigen Siedlungen in der Nähe der offiziellen Geflüchtetenlager, da ihnen ein offizieller Geflüchtetenstatus und Zugang zu den Lagern verwehrt wird. Die Regierung Bangladeschs verweigert nicht registrierten Geflüchteten jegliche humanitäre Hilfe. Innerhalb der Lager ist der UNHCR zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen für die Versorgung zuständig. Doch auch dort ist die Situation problematisch. So ist erst seit 2013 eine rudimentäre Schulbildung möglich, gleichzeitig stellt geschlechterbasierte Gewalt eines der großen Sicherheitsprobleme in den Lagern dar (Goodman und Mahmood 2019, S.490ff.; Olivius 2017a und b).
Auf dem afrikanischen Kontinent existieren ebenfalls diverse Geflüchtetencamps, unter anderem in Uganda, Tansania und Äthiopien (UNHCR 2020). Der größte Lagerkomplex befindet sich in Kenia, das im Zuge des somalischen Bürgerkrieges ab 1991 hunderttausende Somalis aufnahm, die dem Konflikt und harschen Umweltbedingungen entfliehen wollten. Das sogenannte Dadaab-Lager ist eigentlich eine Gegend mit mehreren Geflüchtetenlagern, die im März 2020 circa 217.000 somalische Geflüchtete umfasste (UNHCR 2020)1. Diese können aufgrund