Internationale Migrationspolitik. Stefan Rother

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Internationale Migrationspolitik - Stefan Rother


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Halfmann 1998; Oberndörfer 1991). Auch die Frage, warum trotz innenpolitischen Drucks Migration immer weiter zunehme, beschäftigte viele politikwissenschaftliche Arbeiten (sog „gap hypothesis“; Joppke 1998; Cornelius et al. 2004). Der eingangs erwähnte Hollifield erklärt dieses Phänomen mit seiner These des liberalen Paradoxons liberal state thesis (Hollifield und Wong 2015, S.240). Demnach ist der liberale Staat der Schlüssel, um Migration zu erklären: Eine radikale Restriktion von Migration durch den Staat impliziert die Verletzung von individuellen Rechten. Da der Schutz individueller Rechte zentrales Kriterium des liberalen Rechtsstaates ist, kann Migration nur begrenzt eingedämmt werden, auch wenn Migration den ökonomischen oder innenpolitischen Interessen widerspricht. Weiterhin fällt es liberalen Staaten schwer, einmal gewährte Rechte zu widerrufen. Liberal-institutionelle Ansätze sehen die Zunahme von Migration zudem an die wachsende Herausbildung von internationalen Menschenrechtsregimen und die damit verbundene Individualisierung des Völkerrechts gekoppelt (Jacobson 1996).

      Aufgrund der fortschreitenden Integration der Europäischen Union hat sich die Politikwissenschaft zunehmend auch dem Bereich der Migrationspolitik auf der regionalen Ebene gewidmet. So geht etwa Christoph Roos (2013) der Frage nach, ob jüngere Entwicklungen der gemeinsamen EU-Immigrationspolitik zu Rissen in der vielbeschworenen „Festung Europa“ geführt haben. Das Forschungs-Puzzle besteht dabei in der Frage, warum Staaten gemeinsame Einwanderungsregelungen etablieren, die möglicherweise auch zu einer Zunahme von Einwanderung führen können, obwohl sie die Regelung des Zugangs zu ihrem Territorium als zentralen Ausdruck ihrer Souveränität verstehen. Dabei ist zwischen Grenz- und Einwanderungskontrolle zu unterscheiden: Während erstere im Schengenraum bereitwillig externalisert und eine einheitliche Grenz- und Visapolitik beschlossen wurde, liegt die weiter reichende Einwanderungspolitik weiterhin zum Großteil in der Hand der Nationalstaaten.

      Wie Roos ausführt, gibt es eine umfassende Literatur zur Grenzkontroll- und Fluchtpolitik der EU, aber vergleichsweise weniger Studien zur Einwanderungspolitik. Diese stellt ein eigenes Politikfeld dar und folgt somit möglicherweise auch einer eigenständigen Logik. Sie umfasst über den Zugang zum Territorium hinaus eine Vielzahl von Politikfeldern wie Staatsbürgerschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Integrationspolitik. Untersuchen lässt sich die europäische Einwanderungspolitik etwa anhand von EU-Richtlinien zu Familienzusammenführung, Arbeitsmigration, langfristig Aufenthaltsberechtigte sowie Studierende und Forschende.

      2.3 Eine interdisziplinäre Perspektive auf Migrationspolitik

      Der Überblick hat gezeigt, dass Theorien zur internationalen Migration ein breites Instrumentarium bieten, um Migrationsprozesse und politisches Handeln von Staaten, suprastaatlichen Organisationen und Regimen zu erklären. Dabei ergänzen sich Theorieansätze aus allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, da sie vielfache andere Herangehensweisen an soziale und ökonomische Aspekte der Migration bieten, die andere Disziplinen unter Umständen vernachlässigen. Ein Ziel dieses Bandes ist es daher auch, einen Schritt hin zu einer interdisziplinären Perspektive aufzuzeigen, die auch die Politikwissenschaft, und hier insbesondere den Teilbereich der Internationalen Beziehungen, miteinschließt. Anknüpfungspunkte finden sich reichlich, insbesondere wenn es das Zusammenspiel (oder Gegeneinanderwirken) von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren betrifft. So setzten Staaten zwar weiterhin vielfältige Rahmenbedingungen für Migration, Migrant*innen selbst und ihren Organisationen wird dabei aber kaum (politische) Akteursqualität zugestanden. Insbesondere die aus der Ethnologie und Soziologie stammenden Konzepte von Transnationalisierung und der Raumbegriff der Geographie besitzen das Potential, sich mit einer politischen Perspektive verknüpfen zu lassen.

      Weiterführende Fragen und Literatur

       Drei Fragen zum Weiterdenken

       Inwieweit unterscheiden sich politikwissenschaftliche Migrationstheorien von anderen sozialwissenschaftlichen Theorien?

       Worin ergänzen sich politikwissenschaftliche und andere sozialwissenschaftlichen Migrationstheorien?

       Wie lassen sich das Konzept staatlicher Souveränität und die Interessen von Migrant*innen in Einklang bringen?

       Drei Bücher zum Weiterlesen

      Caroline Brettell/James F. Hollifield (Hg.) (2015): Migration Theory: Talking across disciplines. Third edition. New York: Routledge.

       Ein umfassender Überblick über die theoretischen Zugänge zu Migration in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

      Ludger Pries (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt: Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

       Eine gut lesbare Einführung in den Transnationalismus, die neben Migration auch Aspekte wie transnationale Unternehmen und Institutionen behandelt.

      Siegfried Schieder/Manuela Spindler (Hg.) (2010): Theorien der internationalen Beziehungen. 3. überarb. und aktual. Aufl. Opladen: Budrich.

       Eine umfassende Einführung in die Theorien der Internationalen Beziehungen, von den Klassikern bis hin zu kritischen Theorien.

      3 Flucht und Asyl1

      Was macht Fluchtmigration im Unterschied zu anderen Migrationsformen aus? Welche Arten von Fluchtmigration unterscheidet man? Welche Gruppen sind besonders gefährdet? Welche Schutzmechanismen gibt es für Geflüchtete? Welche Rolle spielen die Genfer Flüchtlingskonvention und das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR)? Worin liegen die politischen Probleme für ein gemeinsames Handeln aller Staaten?

      3.1 Historische Entwicklung

      Große Fluchtbewegungen sind keine neue Erscheinung des 21. Jahrhunderts, sondern ein immer wieder kehrendes Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Während Flucht in früheren Zeiten vor allem eine Folge von Naturkatastrophen und Ressourcenknappheit war, sind die Fluchtursachen in der jüngeren Vergangenheit vielschichtiger. So waren z.B. während und nach der Reformation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts über eine Million Menschen aufgrund innerchristlicher Religionskriege auf der Flucht. Ab 1665 verließen hunderttausende protestantische Hugenotten das katholische Frankreich aufgrund religiöser Verfolgung. Viele von ihnen siedelten sich in England an, einige auch in Preußen, was ausdrücklich von Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1685 befürwortet wurde (Sassen 1996, S.25).

      Erst in der Encyclopedia Britannica von 1796 wurde zum ersten Mal der Begriff „refugee“ weitergefasst und bezog sich seitdem auf alle Menschen, die ihr Land aus Not verlassen mussten (Marrus 1985). So wurden z.B. auch zwei Millionen Ir*innen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund großer Kartoffelmissernten und der folgenden Hungersnöte nach Amerika, Australien und Großbritannien auswanderten, als „refugees“ angesehen. Zudem flüchteten auch wohlhabende Menschen, die ihr Heimatland aus politischen Gründen verlassen mussten. Dazu zählten z.B. progressive Intellektuelle, die die autoritären kontinentaleuropäischen Königreiche in Richtung England und Amerika verließen, um sich in den kosmopolitischen Ballungszentren von London oder New York niederzulassen, wo sie ihre politischen Ideen frei artikulieren und verwirklichen konnten, ohne um ihr Leben zu fürchten. Diese Fluchtbewegungen wurden durch die niedergeschlagenen demokratischen Aufstände im Jahr 1848 in Deutschland, Österreich oder Italien zusätzlich forciert (Sassen 1996, S.50).

      Weitere größere Fluchtmigrationen in Europa wurden zum Ende des 19. Jahrhunderts angestoßen, als etwa zwischen 1880 und 1914 ca. 2,5 Millionen Juden und Jüdinnen aus Osteuropa in Länder Westeuropas, Nord- und Südamerikas flohen (Bade 2000; Sassen 1996, S.93). Im 20.Jahrhundert wurden Fluchtwanderungen vor allem durch Diktaturen und Kriege ausgelöst. Allein die beiden Weltkriege führten dazu, dass Millionen Menschen weltweit ihre Heimat verloren. In Europa waren vor allem die von den Nazis verfolgten Gruppen in Deutschland und in den von Deutschland besetzten Gebieten betroffen. So haben bis zum Kriegsausbruch im Jahr 1939 z.B. fast 400.000 Jüdinnen und Juden Deutschland und das annektierte Österreich verlassen. Davon sind rund 100.000 in die USA, 60.000 nach Palästina, 40.000 nach Großbritannien und rund 75.000 nach Lateinamerika ausgewandert (Holocaust


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