Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland. Bernhard Schäfers
Читать онлайн книгу.verändert als das andere und dadurch das zwischen ihnen bisher vorhandene Gleichgewicht stört« (Ogburn 1967 : 328). Ogburn ging davon aus, dass der Motor des sozialen Wandels im Erkenntnisfortschritt der Natur- und Ingenieurwissenschaften und deren Umsetzung in technischen Innovationen liegt. In ihrem Kern ähnelt die These der von Karl Marx über das Verhältnis von materieller Basis, den Produktivkräften, und dem Überbau von Recht und Politik, Moral und Kultur, der entsprechend dem Produktionsfortschritt angepasst werden muss.
Die um das Jahr 1970 einsetzende digitale Revolution hat zu einer zuvor für undenkbar gehaltenen Beschleunigung technischer Innovationen in allen Produktionsbereichen, Informations- und Kommunikationssystemen geführt. Die kulturellen, rechtlichen und sozialen Anpassungszwänge sind schwer zu bewältigen. Die Theorie vom cultural lag hat also durchaus ihre Berechtigung, zumal wenn man sie ganz generell auf den Tatbestand bezieht, dass sich nicht alle gesellschaftlichen Bereiche im Gleichmaß des technisch vorgegebenen Fortschritts bewegen.
Die Bewertung, wie fortschrittlich oder rückschrittlich ein Bereich im Hinblick auf bestimmte Entwicklungen ist – z. B. Schule und Ausbildung in Bezug auf die neuen Strukturen der Netzwerkgesellschaft (Castells 2004) – ist politisch kontrovers. Eine Anmerkung von Ogburn sei in Erinnerung gerufen: »In der großen Perspektive der Geschichte sind allerdings Verspätungen nicht erkennbar, weil sie aufgeholt worden sind. Sichtbare Phänomene sind sie hauptsächlich in der Gegenwart« (Ogburn 1967 : 338).
Eigentlich sind alle soziologischen Theorien seit Auguste Comte (1798–1857), auf den nicht nur der Begriff der Soziologie zurückgeht, sondern auch die Frage nach Statik und Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung sowie Theorien des sozialen Wandels. Das gilt für Karl Marx und Herbert Spencer (1820–1903) ebenso wie für Émile Durkheim oder Max Weber. In dieser Perspektive lassen sich folgende Ansätze unterscheiden (vgl. Dreitzel 1967, Zapf 1984, Jaeger/Meyer 2003, Scheuch 2003):
Evolutionistische (Herbert Spencer) und neo-evolutionistische (Niklas Luhmann),
strukturfunktionalistische und systemtheoretische (Talcott Parsons, Niklas Luhmann),
marxistische und neo-marxistische (Pierre Bourdieu),
Theorien der sozialen Mobilisierung, der gesellschaftlichen Transformation und der Modernisierung (Karl W. Deutsch, Daniel Lerner, Wolfgang Zapf),
mikrosoziale Theorien der Veränderung von Wert- und Normensystemen (George C. Homans).
In allen Theorien über die Änderung der Sozialstruktur bzw. einzelner Bereiche werden Fragen nach den »eigentlichen« Ursachen gestellt. Wie hervorgehoben, spielen hierbei Technik und Wissenschaft und damit die verschiedenen Entwicklungsphasen der Industriellen Revolution eine große Rolle. Aber auch politische Ideologien oder fundamentalistische Religionen können ein dominanter Faktor sozialer und kultureller Veränderungen sein.
Überwunden sind Theorien, die nur eine Ursache des sozialen Wandels hervorheben, wie z. B. die fortschreitende Arbeitsteilung (Émile Durkheim) oder den Wechsel der politischen Eliten, die die Geschicke von Staat und Gesellschaft lenken (Vilfredo Pareto, 1848–1923). Neben Ogburn seien aus dieser Vielzahl der Theorien zum sozialen Wandel drei weitere hervorgehoben.
4.2 Theorien der gesellschaftlichen Mobilisierung und Modernisierung
Die Theorien der sozialen Mobilisierung und der Modernisierung verbinden sich vor allem mit den Namen von Karl W. Deutsch, Daniel Lerner und Wolfgang Zapf.
Soziale Mobilisierung bezeichnet einen »umfassenden Wandlungsprozess, den wesentliche Teile der Bevölkerung von Ländern durchmachen, die auf dem Wege von traditionellen zu modernen Lebensformen sind« (Deutsch 1984 : 329).
Dieser Begriff umfasst eine größere Anzahl an Teilprozessen auch auf der individuellen Ebene: Wohnsitzwechsel, Berufswechsel, Wandel der Erfahrungen und Erwartungen, der Gewohnheiten und Bedürfnisse. Die meisten Veränderungen fordern Reaktionen auf der institutionellen und politischen Ebene heraus.
Daniel Lerner (1917–1980) ging davon aus, »dass das westliche Modell der Modernisierung gewisse Komponenten und Sequenzen aufweist, die universell relevant sind. Überall hat z. B. die Urbanisierung das Analphabetentum vermindert; dadurch nahm die Benutzung der Massenmedien zu. Parallel dazu kommt es zu einer erhöhten wirtschaftlichen Teilhabe (Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens) und zu einer Erhöhung der politischen Teilnahme durch die Ausdehnung des Wahlrechts« (Lerner 1984 : 362).
Lerner betonte die Bedeutung einer besonderen Eigenschaft für die Modernisierung des Lebensstils: Empathie (von griech. empathes, eindringlich, »einfühlend«). Lerner versteht unter Empathie jenen »inneren Mechanismus, der es den gerade mobil gewordenen Personen erlaubt, in einer sich dauernd verändernden Welt wirksam vorzugehen. Empathie ist die Fähigkeit, sich selber in der Situation eines anderen zu sehen. Sie ist für Personen, die ihre traditionelle Umgebung verlassen, eine unerlässliche Fähigkeit«. »Hohe Empathie« gebe es »nur in modernen Gesellschaften, in industriellen, urbanisierten, auf Elementarbildung und Beteiligung beruhenden Gesellschaften« (Lerner 1984 : 364 f.).
Lerner zeigte in einem einführenden historischen Exkurs, welch ein langer Prozess in der europäischen Kultur- und Sozialentwicklung erforderlich war, jene Fähigkeiten zu entwickeln, die er mit dem Begriff der Empathie zusammenfasste. Vergleiche zu den langen Zeitreihen, die Max Weber für den abendländischen Rationalisierungsprozess oder Norbert Elias für den »Prozess der Zivilisation« herausarbeiteten, liegen nahe.
Sowohl die Grundlagen der sozialen Mobilisierung als auch der Modernisierung des Lebensstils lassen sich mit den Trends zusammenfassen, die durch die Doppelrevolution in Gang gesetzt wurden bzw. sich verstärkten:
Kapitalisierung der Eigentums- und Besitzverhältnisse, zunächst an Grund und Boden (in Deutschland mit der »Bauernbefreiung« verknüpft) und des Produktivkapitals;
Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Daseinsgrundlagen;
Verrechtlichung, Demokratisierung und Erhöhung der Partizipation;
sozialstaatliche und private Absicherung von Gesundheit und Lebensrisiken;
Verstädterung, Urbanisierung und Verbesserung des Lebensstandards;
Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz.
4.3 Sozialer Wandel im Strukturfunktionalismus
Talcott Parsons und die Theorie des Strukturfunktionalismus hatten sich gegenüber dem Vorwurf zu verteidigen, ausschließlich am Strukturerhalt einer bestimmten Gesellschaft orientiert zu sein. In einem Beitrag über »Das Problem des Strukturwandels« (1984) unterschied Parsons zwischen der morphologischen Analyse der Systemstrukturen und der dynamischen Analyse der Systemprozesse. Sein besonderes Augenmerk galt den Ressourcen in Austauschbeziehungen »sowohl zwischen der Gesellschaft und den anderen Systemen und ihren ›Umwelten‹ als auch zwischen den Subsystemen innerhalb der Gesellschaft selbst«.
Entscheidend für den Wandel ist die Integration dieser Ressourcen – Güter, Motivationen, Informationen – und deren schwer kontrollierbare Mobilisierung. Als Kontrollmechanismen stehen u. a. Macht, Geld und »integrative Kommunikation« (Parsons) zur Verfügung. Strukturwandel wird also nicht ausgeschlossen, sondern er hat kontrolliert auf der gegebenen Basis zu erfolgen. Seine Analyse ist für die strukturellfunktionale Theorie »der letzte und wichtige abschließende Problembereich« (Parsons 1984 : 36).
Die »Quellen des Strukturwandels« sind sowohl exogen als auch endogen und »gewöhnlich eine Kombination beider«. Exogene Quellen des sozialen Strukturwandels sind »die endogenen Wandlungsprozesse ihrer ›Umwelten‹«. Als letzten Punkt behandelte Parsons den Wandel im gesellschaftlichen Wertsystem. Zwei Haupttypen werden unterschieden. Beim Ersten kann das »Kulturmodell« von einer exogenen Quelle übernommen werden; Parsons nannte als Beispiel den Kulturtransfer von England nach Amerika/USA. Beim zweiten Haupttyp muss der »Bezugsrahmen des sozialen Systems innerhalb der Gesellschaft entwickelt werden. Für