Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland. Bernhard Schäfers

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Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland - Bernhard Schäfers


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in religiösen Aspekten des kulturellen Systems: »Es muss sich um Änderungen in der Definition der einzelnen Gesellschaftsmitglieder handeln, um die Änderungen in der Definition des Charakters selbst« (Parsons 1984 : 51).

      Parsons erwähnte nicht die nahe liegende politische Variante, dass charismatische Figuren aus großen gesellschaftlichen Krisen herausführen wollten und wollen: durch hyper-nationalistische, anti-demokratische Ideologien. So geschah es in mehreren europäischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg (zur Differenzierung des Begriffs im Ausgang von Max Weber und seine Verankerung in der Handlungsstruktur der Individuen vgl. Lipp 2010).

      Der Kultursoziologe Friedrich H. Tenbruck wies darauf hin, dass erst um 1800 die Begriffe Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu Schlüsselbegriffen der Moderne wurden und die damit verbundenen Bereiche als eigenständig ins Bewusstsein traten: »Aus der Entstehung einer säkularen Kulturintelligenz, der Dauerproduktion von immer neuen Kulturgütern und der Eigendynamik dieser Kulturprozesse« sei die Verselbstständigung der Kultur hervorgegangen (Tenbruck 1989 : 84).

      Ebenso verhält es sich mit der Verselbstständigung der gesellschaftlichen Systeme. Niklas Luhmann stützte seine funktional-strukturelle Systemtheorie auf eben diesen Tatbestand: Dass die Aufklärung und die nachfolgenden revolutionären Prozesse zur Ausdifferenzierung der einzelnen gesellschaftlichen Systeme führten. Am Ende dieses Prozesses steht die Autopoiesis der Teilsysteme: Recht und Politik, Ökonomie, Kultur, Religion und Erziehung. »Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen« (Luhmann 1997 : 65).

      Einen anderen Punkt im Verhältnis von Kultur und Gesellschaft bzw. von Ökonomie und der kulturellen Wertordnung hatte Max Weber hervorgehoben. Sein Werk ist auch eine »Antwort« auf den marxistischen Standpunkt, dass allein die materielle Basis und das Profitinteresse den Geschichtsverlauf bestimmen. Unter dem Einfluss der Wertphilosophie Heinrich Rickerts und Friedrich Nietzsches (1844–1900) betonte Weber einen entgegen gesetzten Standpunkt: Es seien letztlich Werte, seit Beginn der Neuzeit vor allem die Dominanz des protestantischen Arbeitsethos, die der Kultur- und Gesellschaftsentwicklung die Richtung weisen.

      Max Webers Soziologie hat neben der (zumeist impliziten) Frontstellung gegen Marx auch methodologische Probleme einer »Kulturwissenschaft« zum Ausgangspunkt. Diese war nicht nur gegen die Ansprüche des Historischen Materialismus gerichtet, sondern auch gegen die Naturwissenschaften und deren Objektivitäts- und Exaktheitsanspruch. Im »Objektivitätsaufsatz« von 1904 heißt es: »Wir haben als ›Kulturwissenschaften‹ solche Disziplinen bezeichnet, welche die Lebensbedingungen in ihrer Kulturbedeutung zu erkennen streben. Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinung auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns ›Kultur‹, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfasst diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene für uns bedeutsam werden, und nur diese« (Weber 2002 : 108).

      Weber zeigte an Beispielen, dass ein und dasselbe Phänomen wie Tausch oder Geldwirtschaft in unterschiedlichen Kulturen, z. B. der des Altertums oder »unserer sozioökonomischen Kultur« (2002 : 146), etwas anderes bedeuten kann, ebenso bei verschiedenen Klassen und Schichten.

      Der Begriff »sozioökonomische Kultur« beinhaltet aber auch, dass die gesamte Kultur unter die Dominanz von Tausch- und Geldbeziehungen geraten ist. Man mag darin eine Annäherung an den Standpunkt von Marx sehen, sollte aber nicht den methodologisch völlig anderen Stellenwert Webers verkennen. Der kulturelle Faktor ist eben gegenüber der materiellen und ökonomischen Basis nicht nur im Rückstand, wie auch die These vom cultural lag suggeriert, sondern ermöglicht durch den Wert- und Kulturwandel überhaupt erst den technischen und sozialen Wandel. Auch die Prozesse der Rationalisierung und Kapitalisierung der okzidentalen Kultur haben nach Max Weber ihre Basis in sich verändernden Werten.

      Es ist eine täglich nicht nur den Medien zu entnehmende Erfahrung, dass sich die sozialen Strukturen bis in das persönliche Umfeld hinein durch die Prozesse der Europäisierung und der Globalisierung, aber auch der Auswirkungen der digitalen Revolution im Produktions- und Medienbereich verändern (über diese Auswirkungen im Zusammenhang der sich entwickelnden Kreativgesellschaft vgl. E. Schäfers 2007).

      Der Begriff Globalisierung ist nur dann aussagekräftig, wenn er die Spezifika einer neuen Form weltweiter Vernetzung und Abhängigkeit deutlich machen kann (über Epochen und Dimensionen der Globalisierung vgl. Osterhammel/Petersson 2007). Weltweite Handelsbeziehungen gab es bereits in der Antike, z. B. Seidenwaren aus China auf römischen Märkten. Seit Beginn der Kolonialzeit Ende des 15. Jahrhunderts verdichteten sich die weltweiten Handelsbeziehungen unter Einschluss von Afrika, Nord- und Südamerika und den Inselgruppen des asiatischen Festlandes (dem heutigen Indonesien und den Philippinen).

      Mit China, Indien und der arabischen Welt wurden alte Handelsbeziehungen intensiviert. In den neu entdeckten und eroberten Gebieten, die die Kolonialmächte Portugal und Spanien, England, Frankreich und die Niederlande unter sich aufteilten, kam es zur Errichtung von Ausbeuter- und Sklavenhaltergesellschaften, die erst im 19. und 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erringen konnten. Kuba erlangte erst 1898, nicht zuletzt mit Hilfe der USA, als letztes lateinamerikanisches Land seine Unabhängigkeit von Spanien. Dieses Beispiel wird deshalb angeführt, weil die Rückwirkungen des spanischen Kolonialismus auf das Mutterland besonders gravierend waren. Spanien beschritt praktisch erst nach dem Tod des Diktators Franco im Jahr 1975 den Weg der westlichen Verfassungsgeschichte und der Modernisierung (vgl. zu diesen Prozessen der frühneuzeitlichen Kolonialisierung und Kapitalisierung der Welt Wallerstein 1974/1980, Osterhammel 2005).

      Es gibt kaum eine präzisere und frühere Analyse dieser ersten Stufe der Globalisierung unter den Vorzeichen des expansiven Kapitalismus als das von Karl Marx und Friedrich Engels im Jahr 1848 veröffentlichte »Manifest der Kommunistischen Partei«. Dort heißt es: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben (…) Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren«. Erwähnt werden auch »die unendlich erleichterten Kommunikationen«, die zur Beschleunigung der genannten Prozesse beitrugen. Neu waren zu dieser Zeit die Telegraphie, die Eisenbahn, die Dampfschifffahrt und die Schnellpresse.

      Die neue Stufe der Globalisierung hat die digitale Revolution seit Beginn der 1970er Jahre zur Voraussetzung. Das Besondere liegt u. a. in folgenden Punkten:

       Zunahme transnationaler Unternehmen, Investitions- und Finanzaktivitäten;

       weltumspannende Kommunikationen und Informationsnetze, die zur Entstehung von »Netzwerkgesellschaften« (Castells 2004) führten;

       digitale Steuerung von Produktionsprozessen, die auch die globalen Zeitverschiebungen ausnutzen;

       Ausweitung des weltweiten Verstädterungsprozesses und der Global Cities (Sassen 1991).

      Diese Prozesse beeinflussen die nationalen und internationalen Politiken in erheblichem Umfang, und zwar auf allen Gebieten: Produktion und Konsum, Information und Kultur, Bildung und Wissenschaft, Religion und Wertsysteme, Umwelt und Umweltverschmutzung, Freizeit und Tourismus. Die Auswirkungen auf die Sozialstruktur in allen ihren Teilbereichen sind nicht immer gleich sichtbar (für das Wirtschaftssystem sei auf Kap. VIII/Pt. 7, für Europa/Europäisierung auf Kap. XII verwiesen).


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