Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch
Читать онлайн книгу.er vor, eine wichtige erkenntnistheoretische Unterscheidung zu treffen zwischen natürlichen Gegenständen, die wir nur von außen kennen, und menschlichen Tatsachen, die wir sowohl von außen wie von innen kennen. Weil wir die gesellschaftlich-geschichtliche Welt selbst gemacht haben, sind für uns auch »ihre Prinzipien in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes auffindbar«.23 Wir können diesen Dingen also auf den Grund gehen, weil wir sie selbst geschaffen haben.24 Da die Gesellschaft ein Ergebnis menschlicher Handlungen ist, können wir sie sogar besser verstehen als die Abstraktionen, die wir vornehmen müssen, wenn wir die Natur verstehen wollen.
Diese Unterscheidung wird später noch mehrfach eine Rolle spielen. Sie bildet den Grundstein für eine Wissenschaft menschlichen Handelns, die davon ausgeht, dass die vergangene wie die gegenwärtige, ja die gesamte menschliche Gesellschaft erforscht werden kann. Nach Vico sollte man etwa beim Studium der Römischen Geschichte nicht einfach die Chronik der Ereignisse betrachten und daraus Folgerungen für die Römische Gesellschaft ableiten. Aufgabe der Wissenschaft der sozialen und historischen Welt ist es vielmehr, sich in die Kultur der Epoche einzufühlen, die in Handlungen, Gedanken, Ideen, religiösen Glaubensvorstellungen, Mythen, Normen und Institutionen besteht und die insgesamt ein Ergebnis des menschlichen Geistes ist. Diese ›ideellen« Elemente (die, wie wir gleich sehen werden, immer auch sprachliche Formen annehmen) stehen in enger Verbindung mit den äußeren Bedingungen einer gegebenen Epoche und einer bestimmten Gesellschaft, in der sie stattfinden. So können wir die poetischen und mythologischen Weisheiten primitiver Völker nicht [33]mit dem rationalen und präzisen Wissen fortgeschrittener Zivilisationen vergleichen, ohne die Kontexte zu berücksichtigen, in denen sie bestehen. Sie lässt sich nur verstehen, wenn wir uns in den spezifischen Sinn ihrer Kulturen hineinversetzen.
Bei diesem Hineinversetzen handelt es sich jedoch nicht um einen einfachen Vorgang, denn die menschliche Natur ist nicht ein für allemal feststehend; auch sind die Institutionen keine zeitlosen Größen, sondern verändern sich historisch. Die historischen Veränderungen nun erfolgen keinesfalls zufällig, sondern weisen eine Regelmäßigkeit auf. Weil diese Regelmäßigkeit die Geschichte auszeichnet, die ja ein Produkt menschlichen Handelns ist, kann sie wiederum als ein Ausdruck der allgemeinen menschlichen Geistesverfassung angesehen werden.
Diese historische Regelmäßigkeit folgt, so Vico, im Kern einer zyklischen Ordnung: Die menschliche Geschichte weist fortwährend Aufstieg und Abstieg auf, sie ist ein Ab und Auf von »corsi e ricorsi«. Der Grund für diese zyklische Ordnung liegt in der parallelen Entwicklung von menschlicher Natur und menschlicher Gesellschaft: Sowohl Menschen wie Gesellschaften entwickeln ihr Wissen über sich selbst im Laufe der Zeit von der Barbarei zur Zivilisation. Dabei werden die Gesellschaften immer komplexer, und auch die menschliche Natur wird vielfältiger. Beides manifestiert sich in den Veränderungen der Sprache, der Mythen, in Folklore, Wirtschaft usw. Kurz: der soziale Wandel bewirkt einen kulturellen Wandel. Das eine führt notwendigerweise zum anderen und schafft Strukturen und Grenzen, in denen es wiederum operieren kann. Doch dieser Prozess der Wechselwirkung ist nicht endlos. Während die primitive Kultur zur Zivilisation führen mag, enthält diese den Samen ihres eigenen Zerfalls, der unausweichlich ist und der Kultur ebenso wie dem menschlichen Versagen zuzuschreiben ist. Geschichte ist, so meint Vico, tatsächlich das Auftreten und der Zerfall von Zivilisationen.
Jede einzelne Phase des Aufstiegs weist nach Vico drei Stufen auf:
1 Das Zeitalter der Götter: Alle Macht liegt in der Hand der Götter und der Religion. Die Menschen sind roh, und ihre Sprache ist anschaulich.
2 Das Zeitalter der Heroen: Strenge Sitten der Göttersöhne herrschen über die Menschen, deren Sprache sich zur Poesie entwickelt.
3 Das Zeitalter der Menschen: Zum vollen Selbstbewusstsein gelangt, lösen sich die Menschen von Götter- und Heroenkult; sie vertrauen auf die eigene Fähigkeit, die durch eine prosaische Sprache gestützt werden.
Wie schon erwähnt, spielt die Sprache für Vico eine bedeutende Rolle. Denn aus der historischen Wandelbarkeit folgt, dass Wissen, Ideen, Werte und andere kulturelle Elemente einer jeden historischen Gesellschaft sich nur in ihren eigenen Begriffen ausdrücken lassen. Diese Begriffe wiederum sind wesentlich an die Struktur und den Gehalt ihrer Sprache gebunden, da unser Verständnis der sozialen Ordnung von den Begriffen, Ideen und der Sprache abhängt, die wir verwenden. Eine Sprache beinhaltet für Vico nicht nur den »Geist« einer Epoche; sie ist auch Erzeugerin sozialer Ordnung und sozialen Wandels – ein Gedanke, den wir später bei Herder [34]finden.25 In einer berühmten Sentenz behauptet Vico: Der Geist wird vom Charakter der Sprache geprägt, nicht die Sprache von den Geistern derer, die sie sprechen.
Die von Vico hervorgehobene Bedeutung der historischen Sprachen für das Wissen und Denken wird von Herder wieder aufgenommen. Johann Gottfried Von Herder26 argumentierte, dass die Sprache (und damit auch die Dichtung) ein unmittelbarer Ausdruck des Entwicklungsstandes einer Gesellschaft (bzw. eines »Volkes«, wie es zu diesen Zeiten noch heißt) und seiner natürlichen Gegebenheiten sei. Die jeweilige Sprache bilde die wesentliche Grundlage für die Ausbildung einzelner Völker und Nationen.27 Der Grund dafür liege in der mangelhaften Instinktausstattung des Menschen, die durch die Erfindung der Sprache kompensiert werden könne. Aber auch andere kulturelle Formen dienten diesem Zweck. Religion, Kunst und Wissenschaft existierten nicht in einem absoluten Sinn, sondern jeweils in ihrer besonderen kulturellen Ausprägung. Dies zeigt Herder beispielhaft an der Bibel auf. Die zu seiner Zeit aufkommende rationalistische Bibelkritik begann, die »objektiven« Fehler und Lücken der Bibel zu enthüllen, wie etwa die Existenz des Lichtes vor der Erschaffung der Sonne. Diese Kritik, so wandte Herder jedoch ein, könne nie die Lehren der Bibel erreichen. Anstatt sie an der Logik zu messen, sollte sie in ihrem besonderen kulturellen Entstehungskontext betrachtet werden. Die Bibel nämlich drücke die Ansichten eines Hirtenvolkes aus: Für die Beduinen sei eben das Licht tatsächlich vor der Sonne da – in Gestalt der Dämmerung.
Herder bringt hier zweifellos den zentralen wissenssoziologischen Gedanken der »Doxa« zum Ausdruck, spiegeln doch die Anschauungen des jüdischen Volkes nicht nur ihre soziale Ordnung, sondern auch ihre Lebensform wider. Herder entwickelte daneben auch andere Gedanken, die später noch berühmte Früchte tragen sollten. Zum einen wandte er sich gegen die (schon von Voltaire vertretene) Auffassung, dass der primitive Geist dem modernen unterlegen sei. Wie später Lévy-Bruhl betonte er, dass zwischen dem Primitiven und dem Modernen kein Verhältnis von Reife respektive Unreife, Irrationalität oder Rationalität oder gut und schlecht herrsche. [35]Beide stellten vielmehr unterschiedliche Arten des Denkens dar, von denen jede ihre eigenen Vorzüge, Möglichkeiten, aber auch Begrenzungen habe: So sehr der moderne Geist in der Lage sei, rational zu planen, Technologien zu entwickeln und abstrakte Probleme zu behandeln, so habe er doch die Fähigkeit verloren, konkrete Erfahrungen zu machen: Die Welt sei ihm ein abstraktes Gebilde und habe ihre Farbe verloren. Der Primitive habe ein sehr viel unmittelbareres Verhältnis zur Welt, eine Gabe der Intuition, die es ihm erlaube, das Ganze zu erfassen.
Folgenreich war auch seine Auffassung, dass jede Gesellschaft, so unterschiedlich die Menschen in ihr auch sein mögen, eine geistige Einheit bilde. Es gebe also so etwas wie eine Art Gemeingeist, der auch als Volksgeist bezeichnet wurde. Dieser Begriff geistert noch lange durch das 19. Jahrhundert, und man wird darin unschwer einen Vorläufer dessen erkennen, was Durkheim später als »kollektives Bewusstsein« bezeichnen wird. Volksgeist wird ein geistiges Produktionsprinzip, eine Art »Gesamt-Ich« genannt, das sich in einzelnen Nationen je unterschiedlich ausdrückt, und zwar in ihren verschiedenen Sprachen, Sitten, Gebräuchen und in ihrer Rechtsordnung. Ursprünglich von Vico formuliert, nahm der Begriff im 18. und 19. Jahrhundert (etwa bei Justus Möser und Adam Müller) propagandistische Züge an: Er diente dazu, die Besonderheit des deutschen Volkes aus seinen kulturellen Gemeinsamkeiten heraus zu begründen. Er klingt im heute noch gebräuchlichen »Nationalcharakter« mit. Auch bei Hegel, auf den wir gleich eingehen werden, tritt der Begriff auf. In seinen Augen bringen verschiedene Nationen zum Beispiel unterschiedliche Rechtssysteme hervor – was in ihrem Volksgeist verankert sei. Diese Vorstellung wird von der ›historischen Rechtschule‹ aufgenommen (dort finden wir auch den Begriff des Volksbewusstseins, das etwa bei dem berühmten preußischen Juristen Savigny die gemeinsamen Überzeugungen eines Volkes bezeichnet). Als ein Ausdruck