Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

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Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch


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Klassenkampf

      So sehr sich Hegel und Comte auch unterscheiden, gemeinsam ist ihnen der große universalgeschichtliche Entwurf. In solch großen Zügen malte auch Karl Marx das Weltengemälde der sich zu seinen Zeiten ausbreitenden bürgerlichen Gesellschaft. Er wandte sich dabei gegen Hegel und führte gleichzeitig seine Ideen fort. Hegel hatte ja insbesondere die Rolle des menschlichen Geistes in der Gestaltung des historischen Wandels betont. Die geschichtliche Veränderung der menschlichen Gesellschaft ist, so könnte man seine These überspitzen, ein Ausdruck der Fort-Entwicklung des menschlichen Geistes. Der Kern des wissenssoziologischen Zugangs von Marx ist dagegen in seinem Materialismus zu sehen. Für Hegel, so bemerkt Marx einmal, sei der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Schöpfer des Wirklichen, das nur eine äußere Erscheinung bildet. Bei ihm dagegen sei das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.46 Weitere Quellen des Denkens von Marx sind der französische Sozialismus und die englischen ökonomischen Theorien, die ihm in seinem späteren Werk dabei helfen, das wissenschaftlich zu bestimmen, was er als die materielle Grundlage des Geistigen bezeichnet.

      Mit seiner materialistischen Absetzung von Hegel steht Marx keineswegs ganz alleine. Hegels Philosophie war bis zu seinem Lebensende (er starb 1831) in Deutschland beinahe zum Dogma geworden. Die weitere theoretische Entwicklung wurde deswegen sehr stark von »Hegelianern« bestimmt. Besonders prominent war das 1835 erschienene Buch »Das Leben Jesu«, in dem der Hegelianer David Friedrich Strauss die Evangelien als eine Mythologisierung der Wünsche und Hoffnungen des Frühchristentums darstellte. Strauss’ Buch führte zu heftigen Auseinandersetzungen und schließlich zu einem Bruch der Hegelianer über die Frage der Geschichtlichkeit der Bibel (der Hegel selbst nicht sehr viel Gewicht beimaß). Die Hegelianer spalteten [43]sich in drei Lager, die Strauss mit Begriffen aus der französischen Revolution bezeichnete: Die Linken, die Rechten und die Mitte.

      Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht der Beitrag der Linkshegelianer Marx und Engels, die gegen den Idealismus Hegels und den der »Rechtshegelianer« ihren schon erwähnten Materialismus stellten. Dessen Grundzüge lassen sich schon anhand der Vorstellungen von Ludwig Feuerbach skizzieren, dem Marx und Engels die berühmt gewordenen Thesen in ihrer »Deutschen Ideologie« widmeten. Feuerbach bildet ein Bindeglied, ja eine Art Scharnier zwischen Hegel und Marx.

      Wie Marx betont auch Ludwig Feuerbach die Notwendigkeit eines radikalen Bruches mit Hegel.47 Dabei sind insbesondere seine Anschauungen zur Religion folgenreich geworden. Feuerbach ist als der »Kirchenvater des modernen Atheismus« bezeichnet worden. Doch sieht er in der Religion keineswegs nur eine reine Illusion. Für Feuerbach kommt in der Religion vielmehr etwas sehr Grundsätzliches zum Ausdruck, das jedoch nicht die Religion selbst oder ein Gott ist. Im Grunde ist sie das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen Wesen: »Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. […] Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott. Gott ist das offenbare Innere, unausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion seine feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.«48 »Der Mensch«, so kehrt Feuerbach schließlich einen berühmten Satz aus der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,27) um, »schuf Gott nach seinem Bilde«.

      Allerdings wird in der Religion nur das kindliche Wesen des Menschen ›abgebildet‹, das noch nicht erkennt, dass es sich in der Religion selbst sieht. Deswegen führt die Religion zu einer illusionistischen Verkehrung elementarer menschlicher Dispositionen. Damit deutet Feuerbach nicht nur das für die Religionssoziologie bedeutsame Argument der Projektion49 an; er formuliert ein von Hegel aufgenommenes Argument, das Marx verschärfen wird – die Verdinglichungsthese: Denn der Mensch vergegenständlicht sich zwar in der Religion; indem er aber an die Religion glaubt, erscheint ihm seine eigene Erkenntnis von sich wie ein anderes, äußeres Ding. Hinter [44]der Religion also steht der Mensch selbst. Wie auch Hegel und später Marx setzt auch Feuerbach auf die Möglichkeit der Überwindung dieser Entfremdung: Der Mensch könne sich seines eigenen Wesens bewusst werden, sobald er erkenne, dass es in die Religion projiziert sei. So könne ein Anthropotheismus, eine Religion, ›die sich selbst versteht‹, begründet werden, deren Grundsatz im »Homo homini Deus est« besteht.50

      Vor dem Hintergrund der verschwörungstheoretischen Religionskritik der Ideologen weisen Feuerbachs Thesen einen geradezu konstruktiven Zug auf, der an Hegel und Comte erinnert. Religion verdecke nicht nur, sie erhelle auch Wirklichkeit, sie sei eine Form der Erkenntnis. Erst die Moderne (wie wir heute sagen) könne sich von ihrer Hülle befreien und der Erkenntnis selbst zum Durchbruch verhelfen.

      Feuerbach wie die idealistischen Links- oder »Jung-Hegelianer« bildeten den Ausgangspunkt, aber auch den Reibestein für Karl Marx.51 Denn in Marx’ Augen verwechselten sie den intellektuellen »Kritizismus« mit den wirklichen, materiellen Faktoren des welthistorischen Wandels. Zusammen mit Friedrich Engels52, einem anderen Junghegelianer, formulierte Marx in mehreren Arbeiten seinen Ansatz selbst wiederum als Kritik an Hegel und den Junghegelianern. Ihr erstes gemeinsames Produkt stellt die »Deutsche Ideologie« dar, die als zentrales Werk der Wissenssoziologie von Marx angesehen werden muss.53

      Die »Deutsche Ideologie« setzt mit den schon erwähnten berühmten Thesen zu Feuerbach ein, in denen Marx und Engels die bisherigen Vorstellungen des Materialismus einer Kritik unterziehen: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis […].« »Feuerbach«, so kritisieren sie weiter, »löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«54

      [45]Der einzelne Mensch als Schöpfer, den Feuerbach hinter der Religion gesehen hatte, ist keineswegs alleiniger Grund für die Wirklichkeit. Es ist vielmehr die menschliche Praxis, die – und das ist der wissenssoziologische Kern der These von Marx und Engels – nicht von einzelnen Individuen, sondern in einem gesellschaftlichen Zusammenhang realisiert wird. Durch diese Hervorhebung der sozialen Grundlage des Wissens könnte man auch behaupten, dass die Wissenssoziologie in einem engeren Verstande mit Marx und Engels einsetzt. Soziologisch ist diese Vorstellung in dem Sinne, dass die Gesellschaft nicht mehr wie eine Beziehung zwischen abstrakten Ideen (wie von Hegel) oder als menschliches Bewusstsein (wie bei den Junghegelianern) gefasst wird, sondern als eine historisch determinierte Struktur sozialer Beziehungen zwischen Menschen. Marx und Engels sind also nicht materialistisch in dem Sinne wie Feuerbach, der nur das Wahrnehmbare als Grundlage der Erkenntnis ansieht. Denken und Sein bilden für sie keine zwei getrennten Bereiche, sondern sind Elemente einer und derselben Wirklichkeit, die sich weder nur dem Materiellen noch dem Geistigen unterordnen kann. Dabei akzeptierte Marx durchaus die Vorstellung, dass die Natur das Primäre, das Denken hingegen das Sekundäre sei. »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.« So sehr hier eine Bestimmungsrichtung betont wird, sollte man das Verhältnis doch nicht so einseitig sehen, da »die Umstände ebenso sehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen«.55 Die daraus resultierende Zwiespältigkeit von Marx’ und Engels’ Aussagen zum Verhältnis zwischen Materiellem und Wirklichkeit lassen sich auf zwei unterschiedliche und keineswegs miteinander verträgliche Grundprinzipien zurückführen, die ihr Werk durchziehen: Eine deterministische Vorstellung des Verhältnisses, die von einer Bestimmung des Geistigen durch das Materielle ausgeht, und eine dialektische Vorstellung, die beides in einer Wechselwirkung sieht. Man darf durchaus sagen, dass Marx und Engels die deterministische Fassung dann bevorzugen, wenn es ihnen um die rhetorische Wirkung und die politische Überzeugung geht, während sie in »wissenschaftlicheren« Erörterungen die dialektische Fassung hervorheben. Einige Autoren sind deswegen der Auffassung, man müsse den wissenschaftlichen Teil ihrer Theorie von den politisch-agitatorischen Teilen trennen.

      Was nun ist der materielle Teil dieser Determination oder Wechselwirkung? Das Materielle tritt in verschiedenen


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