Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch
Читать онлайн книгу.aneignen und auf [56]Situationen reagieren.76 Wahres Wissen ist »somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozess abgibt […] es ist ein Wort für den ›Willen zur Macht‹.«77
Deswegen stellen falsche Urteile für den Menschen ebenso wenig ein Problem dar wie falsches Wissen. Ganz im Gegenteil: Die Vorstellung, es gebe so etwas wie Wahrheit, ist in Nietzsches Augen ein kolossaler Irrtum. Erkenntnis ist für ihn nämlich keine bestehende Größe, sondern eine Erfindung. Denn »der Gesamtcharakter der Welt ist […] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit[…]«78 Die Menschen begehen diesen Irrtum, um sich in Sicherheit zu wähnen. Die Wahrheit selbst ist nur für die wenigen Gelehrten von Interesse. Für die breite Masse der Menschen dagegen ist allein das Wissen von Bedeutung, das lebensfördernd wirkt. Die »Wahrheit« ist somit eine Verkleidung des »Willens zur Macht«, jener Kraft, die uns am Leben erhält und unseren Bestand sichert. Die eigentliche Funktion des Geistes ist die Verstellung des Lebens so, dass es uns lebenswert erscheint, und die Verführung zum Leben.
Wahrheit und Wissen sind jedoch nicht nur eitle Hülle. Denn was den Menschen auszeichnet, ist dass er gegen sich selbst, gegen seine Triebe und seinen »Willen zur Macht« Stellung beziehen kann. Die Instanz nun, die es ihm ermöglicht, sich gegen seinen Ursprung aus der Natur und gegen seine naturhafte Determination zu wehren, ist der Geist, der Wissen schafft. Durch seine Fähigkeit der Verkleidung kann er eine »Umwertung der Werte« bewirken, die in die Dekadenz, zum endgültigen Zerfall führen kann: Weil der Mensch schlecht ist, schafft er die Idee des Guten, weil er lügt, schafft er die Wahrheit, weil er hässlich ist, schafft er das Schöne. »Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehen, wie man auf Erden Ideale fabriziert? […] Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.«79 Jede Gesellschaft hat in seinen Augen eine herrschende und eine beherrschte Schicht. Den beiden Schichten sind zwei verschiedene Moralen zugeordnet: die »Herrenmoral« und die »Sklavenmoral«.
Besonders »verlogen« erscheinen Nietzsche jene Wissensformen, die die grundlegende Machtbeziehung bestreiten. Das Christentum ist ihm dafür ein sehr wichtiges Beispiel, betont es doch die Nächstenliebe und verleugnet es den Machttrieb. Genau hierin jedoch, so betont Nietzsche, liegt das Perfide des Christentums: Es predigt eine Religion der Schwachen, Kranken und Armen, Machtlosen – um genau [57]damit an die Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten. Die Religion der Nächstenliebe ist ihm eine Übertünchung von Machtinteressen.
So geht Nietzsche mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von Religion und Machtinteressen über einen psychologischen Ansatz des Wissens als bloß subjektiver Projektion hinaus, den er in seinen früheren Schriften vertritt und schließt an die Interessentheorie an: Religiöse Vorstellungen dienen dazu, die Interessen derer durchzusetzen, die sie vertreten. Das Christentum ist ihm eine Religion des Ressentiments der Schwachen gegen die Starken. Weil die Schwachen und Zukurzgekommenen Träger dieser Religion seien, komme der Erfolg des Christentums einem ›Sklavenaufstand der Moral‹ gleich. Er entspreche somit einer ›Vergeltungsreligiosität‹, die die Starken und Erfolgreichen bestrafe, einem, wie Nietzsche es nennt, Ressentiment. Max Scheler, der den Begriff später aufnimmt, definiert das Ressentiment als eine »seelische Selbstvergiftung«, die durch eine »systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte entsteht […] und die gewisse dauernde Einstellungen auf bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen zur Folge hat«.80 Die Zurückdrängung der vornehmen Werte durch das Ressentiment hat sich in einem historischen Prozess abgespielt, der vom antiken Rom bis zur Reformation und zur französischen Revolution reicht. In dieser Zeit wurden Ideale verbreitet, die den Menschen Schuld und schlechtes Gewissen einredeten, mit denen die Triebe unterdrückt werden sollten. Diese Ideale entfalteten eine »ungeheure Macht«, indem sie ein System der Interpretation errichteten, mit dem erst das festgestellt wurde, was Wahrheit sei.
Man kann sich dennoch fragen, mit welchem Grund Nietzsche, der ja als Verächter der (positivistischen) Soziologie gilt, hier in der Ahnenreihe der Wissenssoziologie auftritt.81 Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen spielt Nietzsche eine bedeutende Rolle in den wissenssoziologischen Überlegungen Webers, Paretos und Schelers, ja auch bei Elias und Foucault. Zum Zweiten sind für ihn Erkenntnis und Wissen gerade wegen ihrer vermeintlichen Geltung unmittelbar und fundamental sozial: »Die Bedingung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ist die Gesellschaft.«82 Denn da der Mensch (»aus Not und Langeweile«) gesellschaftlich (und, wie Nietzsche verächtlich formuliert: »herdenweise«) existieren muss, ist er auch zu einem Friedensschluss gezwungen, der das gemeinsame Leben ermöglicht. Dieser Friedensschluss erst fixiert jenes etwas für alle Gemeinsame, das eine verbindliche Geltung haben soll. Hier also entsteht Wahrheit – als eine moralische Größe.83
[58]SIGMUND FREUD ist ein weiterer, ebenso wie Nietzsche weltberühmter Autor, der die triebhafte Ausstattung des Menschen in den Vordergrund stellt.84 Auch Freud wird nicht im engeren Sinne der Soziologie zugerechnet, zielt er doch auf eine psychologische Theorie, in der drei Instanzen (»Ich«, »Es«, »Über-Ich«) unterschieden werden. Von soziologischer Relevanz ist Freuds Theorie dennoch, denn die psychischen Instanzen werden vor allen Dingen im sozialen Kontext der Familie ausgebildet. Vater und Mutter bilden die wesentlichen Bezugsgrößen der kindlichen Psyche. Von zwei Trieben geleitet (dem Liebestrieb und dem Todestrieb), entwickelt sich jedoch nicht nur die Psyche in der Auseinandersetzung mit Vater und Mutter. Diese Konstellation ist auch prägend für das Wissen und die menschliche Kultur. Die Auseinandersetzung mit der von Vater und Mutter repräsentierten Sozialwelt führt zur Entwicklung eines »Über-Ich«, das die sozialen Normen und Werte ins Ich verlegt. Mit dem Begriff des »Es« setzt Freud zugleich eine von den Trieben beherrschte Instanz ein, die sich vor allem durch »unbewusstes Wissen« auszeichnet. Dazu zählen die vom Ich zurückgewiesenen Elemente, die das Verdrängte als Teil des Unbewussten ausmachen.
Eine elementare Form des Wissens über die Welt bestehe in der Projektion innerer Wahrnehmungen nach außen: »Innere Wahrnehmungen [werden] nach außen projiziert, zur Ausgestaltung der Außenwelt verwendet, während sie in der Innenwelt verbleiben sollen.«85 Diese Projektion des Inneren nach Außen kennzeichnet vor allem das primitive Denken. Entsprechend tritt es auch in primitiven Kulturen als mythologische Weltauffassung auf, die »nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie«. So versteht er die Mythen vom Paradies und Sündenfall, vom Guten, vom Bösen und von der Unsterblichkeit als Projektion. Ganz besonders deutlich wird der projektive Charakter des menschlichen Wissens für ihn an der Religion, die er mit pathologischen individualpsychologischen Fällen vergleicht: »Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems.«86 Und er geht noch weiter und kehrt das Verhältnis sogar um: »Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathogenes Gegenstück der Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen.«87 Religiöse Wissensformen sind also Illusionen, [59]Erfüllungen alter und elementarer menschlicher Wünsche. Wie Wunschdenken ein Merkmal kindlicher Wirklichkeitsbewältigung ist, sucht sich der Erwachsene Götter, die ihm diesen Schutz gewähren. Es ist eine Folge der Projektionsfähigkeit der Psyche, dass der Mensch, wenn er nicht fähig ist, die Realität zu ertragen, eine Illusion an die Stelle der Realität setzt. Wieder ist die Religion für Freud das beste Beispiel: Sie ist im Grunde eine regressive, also in der seelischen Entwicklung rückwärtsgewandte, »infantile Illusion«, und da die Richtung dieser Illusion von der Familienstruktur geprägt ist, kann man Gott als eine psychologische Überhöhung des Vaters ansehen.
Nicht nur können die Götter als Ausdruck der Vatersehnsucht angesehen werden. Letzten Endes beruht die gesamte Kultur und unser Wissen auf einer solchen Projektion, die aus der Erfahrung der Hilflosigkeit angesichts der Natur geboren wird – eine Erfahrung, die wir als hilflose Kinder schon einmal gemacht haben: »So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis,