Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

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Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch


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      Wir sollten beachten, dass nicht nur die Einflüsse auf die psychische Trieb-Dynamik in der sozialen Situation der Familie verankert werden; diese Triebdynamik wirkt sich auch ihrerseits wieder auf unser Wissen von der Welt aus. Dabei sollte man doch die vehemente Kritik an der Psychoanalyse nicht verschweigen. So wird zum einen eingewandt, dass Freuds Darstellung der familialen Verhältnisse sehr kulturspezifisch ist und stark die Züge des patriarchalen bürgerlichen und autoritären 19. Jahrhunderts trägt. Darüber hinaus haben Deleuze und Guattari sogar argumentiert, dass nicht die Psyche einen besonderen Zwang auf uns ausübt, sondern dass es die Psychoanalyse ist, die Macht über die Menschen erlangen will.89

      Einen im engeren Sinne soziologischen Zugang zum Irrationalismus schafft erst VILFREDO PARETO.90 Irrationalistisch ist auch er, denn die menschliche Natur ist in seinen Augen für keine Aufklärung offen, sondern weist einen auf Triebe zurückgehenden ideologischen Hang auf. Dieser Irrationalismus findet einen sehr deutlichen Ausdruck in Paretos allgemeiner Soziologie: Als ausgebildeter Ingenieur und Volkswirt beschäftigt er sich zunächst mit den logischen Handlungen, die sich dadurch auszeichnen, dass dabei Mittel gewählt werden, die den Zielen adäquat sind. Diese Adäquatheit folgt den positivistischen Forderungen logisch-experimentellen Denkens, ließe sich also, wie man meint, prinzipiell mit den Methoden der Naturwissenschaften stützen. Logische Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass das Ziel, das die Handelnden verfolgen, mit den Mitteln erreicht wird, die sich aufgrund des [60]verfügbaren wissenschaftlich-experimentellen Wissens als passend erweisen. Mehr und mehr jedoch bemerkt Pareto, dass viele Handlungen dieses strenge Kriterium in Wirklichkeit gar nicht erfüllen. An dieser Stelle nun tritt für ihn erst die Soziologie auf den Plan. Sie ist es nämlich, die erklären soll, warum so viele Handlungen nicht logisch verlaufen. Sie behandelt also die nicht-logischen Handlungen, die weitaus in der Mehrzahl seien. »Die Illusionen, die sich die Menschen hinsichtlich der Motive machen, die ihre Handlungen bestimmen, haben mannigfaltige Quellen. Eine der wichtigsten ist die Tatsache, dass sehr viele menschliche Handlungen nicht die Konsequenz rationalen Denkens sind. Diese Handlungen sind rein instinktiv, der sie vollziehende Mensch empfindet indes Vergnügen, wenn er ihnen – übrigens willkürlich – logische Ursachen zugrunde legt. Er ist im Allgemeinen nicht gerade anspruchsvoll bezüglich der Qualität dieser Logik und gibt sich sehr leicht mit dem Anschein von logischer Überlegung zufrieden. Aber es wäre ihm unangenehm, ganz darauf zu verzichten.«91 Diese nichtlogischen Handlungen übersehen zu haben, zähle zu den großen Irrtümern in den bisherigen Wissenschaften. Zu den nichtlogischen Handlungen zählen genauer (a) instinktives, unbewusstes und habituelles Verhalten, (b) magische und religiöse Praktiken sowie (c) intentionales Handeln mit nichtbeabsichtigten Folgen. Das Gefühl ist neben der »Suche nach Erfahrungswerten« eine wichtige Quelle des menschlichen Handelns: Die Gefühle und Instinkte, die nichtlogischem Handeln zugrunde liegen, treten gesellschaftlich als Residuen in Erscheinung. Man muss sich die Residuen wie eine Art geistige Gewohnheiten vorstellen, die sich, auf einer instinktiven und emotionalen Grundlage, über die Zeit kulturell verfestigen.

      Pareto unterscheidet sechs Klassen von Residuen, die helfen können, den Begriff etwas besser zu verstehen. Eine Klasse etwa bilden die sexuellen Residuen. Dieses Residuum fügt der (instinktiven) sexuellen Aktivität einen erotischen Charakter hinzu. Ein weiteres Residuum ist die »Persistenz der Aggregate«. Es bindet die einzelnen Individuen an seine sozialen Gruppen, also an Familie, Heimatort oder soziale Klasse sowie ihre Werte und Normen. Dies ist das Residuum, das die Rentier-Mentalität leitet. Nicht zu verwechseln ist dieses Residuum mit dem, das die Beziehung zur Sozialität durch Konformismus, Mitleid oder Selbstaufopferung herstellt. Auch der Drang, die eigenen Gefühle durch Handlungen anzuzeigen, bildet ein Residuum, das die Funktion hat, die menschliche Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Der »Instinkt der Kombination« gilt ihm als ein Residuum, das zu Innovationen führt. Und schließlich sorgt ein Residuum für die Wahrung der Würde des Individuums.

      Stimmen bei den logischen Handlungen die Begründungen der Handlungen mit den Beweggründen und Motiven überein, so sucht der Mensch auch für die Beweggründe der nichtlogischen Handlungen häufig logische Begründungen. Obwohl er also aus Gefühlen, Affekten und Emotionen heraus handelt, versucht er eine, wie man sagen könnte, Rationalisierung dieser Handlungen. Solche Scheinbegründungen [61]nennt Pareto Derivate bzw. Derivationen (also Ableitungen). Man hat es nach Pareto mit Derivationen zu tun »immer dann, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, auf welche Weise die Menschen danach streben, die Merkmale, die bestimmten ihrer Handlungsweisen eigen sind, zu verbergen, zu verändern, zu erklären.«92 Zwar hat auch das Tier Instinkte, doch nur der Mensch »empfindet das Bedürfnis zu argumentieren und außerdem einen Schleier über seine Triebe und seine Gefühle zu breiten«.93 Als Derivationen bezeichnet er den »Komplex von Argumenten und Handlungen, mit denen das nicht-logische Handeln als logisches präsentiert wird«.94

      Derivationen sind keineswegs Mystifizierungen oder gar Betrug, da sie von den Menschen in der Regel selbst geglaubt werden. Derivationen sind vielmehr jene pseudo-logischen Argumentationen, mit denen Handlungen, wie Freud sagen würde, »rationalisiert« werden. Sie setzen sich aus Trugschlüssen und Illusionen, Glauben, Vorurteilen und Fehlurteilen zusammen, mit denen menschliches Handeln häufig verknüpft ist. Ihre Überzeugungskraft besteht weniger in der logischen Schlüssigkeit als im Appell an Gefühle. Im Unterschied zu Freud jedoch verdanken sie sich selbst nicht den Gefühlen, sondern dem sozial eingespielten Gemeinsinn, auf den auch die Rhetorik zurückgreift. Ein Beispiel dafür sind »Wortbeweise«, die durch die Wahl einzelner Worte entschieden werden. Im Falle des Verharrens im eigenen Glauben nennt man dies »›Standhaftigkeit‹, wenn [es] häretisch ist, ›Verstocktheit‹. Ein anderes Beispiel dafür: Im Jahre 1908 nannten die Freunde der russischen Regierung, wenn sie einen Revolutionär töteten, ihr Vorgehen ›Exekution‹, das der Revolutionäre, wenn sie ein Regierungsmitglied töteten, ›Mord‹. Die Feinde der Regierung kehrten die Bezeichnungen um: das erste Vorgehen war ›Mord‹, das zweite ›Exekution‹.«95

      Diese Derivationen gliedert Pareto in vier Klassen auf. Zum Ersten nennt er die Behauptungen, die Geschichten mit großer oder geringer Überzeugungskraft beinhalten können. Sie rechtfertigen aufgrund der bloßen Affirmation. Zum Zweiten finden sich Argumente, die auf Autorität beruhen (wenn man etwa die Bibel zitiert). Die Anrufung einer Autorität dient als Rechtfertigung. Übereinstimmungen mit Gefühlen und Prinzipien bilden die dritte Klasse der Derivationen, zu der auch der Common Sense gehört. Man bezieht sich auf ein Prinzip oder ein Gefühl, um eine Handlung zu begründen. Und schließlich führt er noch das schon angeführte Beweisen mit Worten an, also Begründungen, die auf ungenauen Wörtern, auf Sprichwörtern, Metaphern, Allegorien oder Analogien aufbauen.

      Während die Residuen das Handeln leiten und recht konstant bleiben, wirken sich die Derivationen nicht unmittelbar auf das soziale System aus. Zudem verändern [62]sie sich mit dem soziohistorischen Kontext. Die Residuen determinieren die Derivationen, doch haben auch diese Einfluss auf die Residuen.96 Die Derivationen gehorchen also dem, was man heute wohl eine »Rhetorik« nennen würde, wie sie typischerweise innerhalb der Wissenschaft zu finden ist.

      In Paretos Wissenssoziologie bilden die im engeren Sinne ideologischen Systeme einen weiteren Schwerpunkt, da sie direkt auf den Derivationen und Residuen aufbauen. Denn die Verwandlung von nichtlogischen in logische Handlungen gelingt vor allem durch Berufung auf moralische, religiöse und metaphysische Theorien und Lehren. Ideologien sind also keineswegs identisch mit Derivationen; Ideologien sind selbst selten Teil von Handlungen und auch nicht unbedingt emotional, ja verhüllen Emotionalität eher. Weder den Derivationen noch den Ideologien geht es um die Wahrheit, sondern nur um Wirksamkeit und Nutzen. Die Wirksamkeit wird durch die Frage bestimmt, warum Menschen an ein bestimmtes geistiges Gebilde glauben. Sie bemisst sich daran, was sie davon haben. Auch Weltanschauungen, wie etwa das Christentum oder der Sozialismus, sollten deshalb nicht auf ihre Wahrheit hin befragt werden, »der Wert der heiligen Bücher aller Religionen liegt nicht in ihrer historischen Präzision, sondern in den Gefühlen, die sie im Herzen ihrer Leser erwecken können«.97 Gesellschaften sind nicht rational, sondern werden durch Ideologien und Mythen geleitet und verändert. Jeder Versuch der Wissenschaft, diese Mythen zu entzaubern, schafft nur selber wiederum neue Mythen.

      Wie


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