Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch
Читать онлайн книгу.ökonomischen Reproduktionsprozess. In diesem Fall bezeichnet es die Produktivkräfte, also handfeste empirische Größen, wie die Produktionsmittel Werkzeuge, Maschinen, Boden oder Kapital. Die andere Bedeutung setzt das Materielle mit der Befriedigung elementarer natürlicher Bedürfnisse gleich, die mit den äußeren körperlichen Existenzbedingungen verknüpft sind. Eine dritte Bedeutung des Materiellen verweist auf die Zwangsverhältnisse zwischen den Menschen oder soziale Prozesse im Allgemeinen.56
[46]Wie immer das Materielle und dann auch das Verhältnis des Materiellen zum Geistigen näher bestimmt wird, so besteht doch in jedem Fall ein enger Zusammenhang zwischen beidem. Für Marx gibt es keine Zweifel, dass die materiellen Grundlagen die Erzeugungen des Geistes beeinflussen. Marx zeigt das in seinen historischen Rekonstruktionen dieses Verhältnisses auf, die er in einer Analyse der Gegenwart seiner Zeit, dem modernen Kapitalismus, münden lässt: In den frühen Phasen der menschlichen Geschichte, der Urgeschichte, war die Produktion von Ideen direkt mit der materiellen Aktivität und dem Zusammenleben der Menschen im wirklichen Leben verknüpft. Die Menschen sind deswegen die ausschließlichen Erzeuger ihres Bewusstseins. Das Bewusstsein kann sich ändern, wenn sich die Verhältnisse, also Produktionsverhältnisse und die daran geknüpften Sozialbeziehungen, ändern. Daran erkennen wir, dass die Lebensform des Individuums abhängig ist von der Produktionsweise, und diese determiniert auch die sozialen Beziehungen. Auch wenn er immer wieder die materiellen und ökonomischen Aspekte betont, so ist doch soziologisch vor allem relevant, dass die menschliche Lebensform für ihn wesentlich gesellschaftlich ist »in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zwecke« verstanden wird.57
Die Verbindung zwischen dem Sozialen und dem Ökonomischen (als zentralen Aspekten des Materiellen) ist keineswegs beliebig. Denn das »Zusammenwirken der Menschen« ist selbst eine Produktivkraft und sie steht mit den ökonomischen Produktivkräften in einem engen Zusammenhang.58 Dies liegt darin begründet, dass die wirtschaftliche Arbeitsteilung eine Form der sozialen Kooperation darstellt, die ihrerseits von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den Produktionsverhältnissen abhängt. (Dabei spielen die Eigentumsverhältnisse eine entscheidende Rolle.) Die Kooperation verschiedener Individuen führt nicht nur zur Sprache, sie ist auch der Grund für das Bewusstsein. Und dies wiederum bildet das Denken: »Das Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.«59
Folgen wir der historischen Rekonstruktion des Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft weiter, dann verändert die Fortentwicklung der Produktion die Arbeitsteilung auf eine grundlegende Weise. Schon in der urgesellschaftlichen Produktionsweise entwickelt sich eine erste Form von Eigentum, die sich auf einfache Erfindungen [47]bezieht. Auf der nächsten geschichtlichen Stufe, der Sklavenhalterordnung, bezieht sich das Eigentum auf die Produzierenden selbst: Es stellt sich eine Teilung zwischen Sklaven und Sklavenhalter ein. Die Sklavenhalter bilden einen Überbau aus: Es entsteht ein staatlicher Apparat, ein Rechtssystem. Im Feudalismus werden die Sklavenhalter zu Feudalherren, die vor allem über Grund und Boden verfügen. Die Ungleichheit und Unterdrückung wird durch Religion und Recht legitimiert. Damit wird auch die Trennung von Stadt und Land, von Handel und Industriearbeit und von materieller und geistiger Arbeit ausgebaut. Diese ist wissenssoziologisch natürlich sehr folgenreich, denn nur dadurch »kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas andres als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen«60 – erst jetzt ist also reine Theorie und damit auch ›falsches Bewusstsein‹ (auf das wir noch zu sprechen kommen werden) möglich. Nun können die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewusstsein in Widerspruch geraten. Die Intellektuellen, die aus der Teilung von geistiger und materieller Arbeit hervorgehen, neigen generell dazu, die Interessen ihrer Klasse in einer allgemeinen Form in Begriffe zu kleiden. Im Kapitalismus schließlich wird dies zu einem Klassensystem, weil erst hier das Verhältnis der einzelnen zu den Produktionsmitteln zum entscheidenden Ordnungskriterium der Gesellschaft wird. Mit der Klassenherrschaft der Bürger ändert sich auch die Ideologie. So kommt es, dass »während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit etc. herrschten«.61
Vor diesem Hintergrund ist denn auch der Marxsche Begriff der Ideologie zu verstehen: Jede Ideologie (wie etwa die ›deutsche Ideologie‹) ist der Versuch einer Klasse, ihre Vorstellungen als die allgemeingültige auszugeben, obwohl sie ausschließlich von den Interessen ihrer eigenen Klasse geleitet ist. Am besten gelingt dies natürlich derjenigen Klasse, die über die gesellschaftliche Macht verfügt. Deswegen entscheidet die Machtstruktur einer Gesellschaft (Macht im Sinne von Kontrolle, Besitz der materialen Produktionsmittel) auch darüber, welche geistigen Vorstellungen vorherrschen. Dies gilt nicht nur für die mittelalterliche und neuzeitliche Kultur, an der sich dieser Zusammenhang aber sehr schön illustrieren lässt: »Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten, deren allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin besteht, sich zu ihren Produkten als Waren, also als Werte zu verhalten, und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehen als gleiche menschliche Arbeit, ist das Christentum, mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, die entsprechendste Religionsform.«62 Hier geht es Marx keineswegs nur um Religionskritik. Die Religion des Christentums ist vielmehr lediglich ein Beispiel – denn [48]religiöse Vorstellungen als treibende Kräfte der Geschichte anzusehen, ist für Marx eine typisch deutsche Krankheit. Diese Krankheit, die auch die idealistischen Junghegelianer befallen habe, verhindere die Einsicht darin, dass gerade religiöse Ideen Ausdruck der materiellen Verhältnisse sind.
Die Ideologie ist also mit der materiellen Lage der Menschen verknüpft, denn »die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht«. Es geht hier jedoch keineswegs um ausdrückliche oder absichtlich verhüllte Interessen, »denn die Klasse, die die Mittel der materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zu geistigen Produktion. […] Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.«63 Ideologie ist nicht mit Absichten verknüpft, sie ist vielmehr strukturell bedingt: Sie ist abhängig von der ökonomischen Situation der sozialen Struktur. Diese Struktur verteilt nicht nur die Menschen auf unterschiedliche Klassen, sie prägt auch die Inhalte ihres Denkens. So erklärt sich zum Beispiel die »Abgehobenheit« von Ideologien, wie etwa dem Idealismus, aus der fortgeschrittenen Arbeitsteilung zwischen der geistigen und der materiellen Arbeit innerhalb der modernen Gesellschaft, »so dass innerhalb dieser Klasse der eine Teil als die Denker dieser Klasse auftritt […], während die andern sich zu diesen Gedanken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind…«64
Marx’ Begriff der Ideologie radikalisiert also damit die frühere Interessentheorie der Aufklärer. Diese vertraten die Auffassung, dass kirchliche und aristokratische Eliten mehr oder weniger strategisch und absichtlich den Aberglauben über Gott verbreiteten, um die wirkliche Situation der Beherrschten zu verdecken. Für Marx dagegen sind sowohl die Beherrschten wie die Herrscher einer Ideologie unterworfen. Ideologie dient also nicht zur Verschleierung nach Art einer Verschwörungstheorie, sondern wird systematisch durch die Struktur der sozialen Beziehungen erzeugt. Jede herrschende Klasse vertritt ihre Interessen nicht deswegen als Interessen aller, weil sie die anderen übergehen möchte. Sie glaubt tatsächlich an ihre Richtigkeit. Sofern sie die Vorstellungen, die ihren partikularen Interessen entspringen, für allgemeingültig hält, vertritt sie eine Ideologie. Wenn es ihr dann noch gelingt, diese Vorstellungen auch Menschen zu vermitteln, die eine andere soziale Lage einnehmen, dann reden wir von »falschem Bewusstsein«, also einem Bewusstsein, das nicht die soziale Lage der betroffenen Handelnden und Produzenten und ihr Wissen von der Welt reflektiert.
Erst in einer kommunistischen Gesellschaft, die den Zielpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt,