Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch
Читать онлайн книгу.zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt, unsere Berechnungen zunichte macht.«69 Der von der Praxis der Arbeiter erzeugte Gegenstand wird ihm entfremdet, weil er zu einer »Ware« objektiviert wird, die nur noch abstrakte (in Kosten angebbare) menschliche Arbeit verkörpert. Die Entfremdung hat ihren Grund darin, dass das, was dem Arbeiter gehört, seine Arbeit und sein Produkt, ihm weggenommen wird. Das Geschaffene erscheint ihm dann als fremd und feindselig.
Durch die Entfremdung vom eigenen Produkt entsteht das, was Marx den Fetischcharakter der Ware nennt: Die Ware ist eigentlich das Produkt des Arbeiters, das aber, durch die Enteignung des Mehrwerts, als eigenes und unabhängiges Gut erscheint. Weil sie von ihrer Herstellung abgekoppelt sind, können Waren dann auch verehrungswürdige fetischistisch-religiöse Züge annehmen.70 »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selber, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge vorspiegelt, daher auch das gesamte gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen […]. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.«71
Die Entfremdung betrifft nicht nur Produkte und Waren, sondern die gesamte sinnliche Außenwelt, die Natur. Die sinnliche Außenwelt hört auf, ein zur Arbeit gehörendes Objekt zu sein, weil sie als Ware betrachtet wird, und sie hört auf, die physische Grundlage der Lebenserhaltung der Arbeiter zu sein. Die Natur wird zu einem reinen Produktionsfaktor. Schließlich schlägt die Entfremdung auf die Arbeiter zurück, die ihre Individualität im Arbeitsprozess verlieren und nurmehr auf ihre animalischen Funktionen reduziert werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft werden somit Waren produziert und zugleich der Arbeiter zu einer Ware gemacht.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Marx’ Materialismus einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der Wissenssoziologie geliefert hat. Auch wenn Marx’ Glaubenssystem gescheitert ist, enthält sein wissenschaftliches Modell eine bedeutsame und grundlegende wissenssoziologische Erkenntnis: Dass alle Vorstellungen von sozialen Gruppen abhängen und in einer engen Beziehung mit den typischen [53]Interessen dieser Gruppierungen stehen. Diese Erkenntnis regte Marx dazu an, die Grundlagen der Bewusstseinsformen zu identifizieren. Für Marx ist Wissen ein Ausdruck der jeweils vorherrschenden sozialen, vor allem aber ökonomischen Verhältnisse. Es gehört zum »Überbau«, der die ökonomische und soziale »Basis« der Gesellschaft widerspiegelt. Zum Überbau zählt die Religion, aber auch die Philosophie oder die Kunst. Seine gesellschaftliche Basis bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft. Kennzeichnend für die Basis ist vor allem die vorherrschende Art der Produktion (z.B. agrarisch oder industriell) und die damit verbundenen Verhältnisse der Produzenten (Bauern, Arbeiter) zu denen, die über die Mittel der Produktion verfügen (feudaler Adel, Unternehmer). Man kann dieses Modell auf folgende Weise illustrieren:
Abb. 2: Basis-Überbau-Modell
Wie schon erwähnt, lässt Marx durchaus einige Fragen offen. So muss gefragt werden, in welcher Weise soziale und wirtschaftliche Aspekte aufeinander einwirken. Können wir wirklich von einer Determination des Denkens durch die Wirtschaft reden? Und wenn nicht, auf welche Weise fassen wir dann die »Dialektik« oder »Wechselwirkung«, die wir hier bildlich mit Pfeilen andeuten. Wie das Schaubild zeigt, rechnet Marx die ideologischen Phänomene – also Recht, Politik, Kunst, Ethik, Philosophie, Wissenschaft etc. – pauschal einer Ebene zu. Man muss fragen, ob dies statthaft ist. Sollte man nicht zwischen den verschiedenen Überbauphänomenen unterscheiden? Bedenkt man etwa die Rolle der rechtlichen Regelung des Eigentums [54](und seiner Bedeutung für die bürgerliche Ökonomie), dann muss man doch einräumen, dass auch die Aspekte des Überbaus (politische Aspekte des Klassenkampfes, Verfassungen der herrschenden Klasse, Rechtsprechung, religiöse Ideen und ihre dogmatische Ausformung) tiefen Einfluss auf die historische Entwicklung der Produktionsverhältnisse und die damit verbundenen Klassenkämpfe ausüben. Offen bleibt also vor allem die wissenssoziologisch zentrale Frage, in welchem Verhältnis Basis und Überbau stehen. In der langen und ereignisreichen Wirkungsgeschichte der marxistischen Theorie gab es zahlreiche Versuche, dieses Verhältnis näher zu bestimmen. Ein prominentes Beispiel für ein deterministisches Verständnis dieses Verhältnisses bietet der russische Physiker, Philosoph und Soziologe Alexander A. Bogdanov. Er betrachtete soziale Anpassung als dasselbe wie biologische Anpassung. Variationen der sozialen Formen sind für ihn durch natürliche Veränderungen determiniert. Die wichtigsten Formen der sozialen Anpassung sind technisch und ideologisch, wobei ideologische Anpassungen von technischen determiniert seien. Eine andere deterministische Fassung stammt von Otto Bauer, der seine empirische Interpretation der Genese von Weltanschauungen auf Marx zurückführte. Weltanschauungen seien vor allem von der Arbeitserfahrung des Menschen bestimmt. Bürger in kapitalistischen Gesellschaften zeichneten sich durch eine gemeinsame Arbeitserfahrung aus, die vor allem im Planen von Arbeit besteht, die andere verrichten. Deswegen entwickeln sie eine Weltanschauung, in der ein umfassender Plan enthalten ist, wie im Idealismus. Die Arbeiter dagegen hätten eine Arbeitserfahrung, die sie in unmittelbaren Kontakt mit der materiellen Natur bringen. Deswegen sei ihre Weltanschauung materialistisch.72
Solch deterministische Konzeptionen werden von Remmling dem »positivistischen« Zweig des Marxismus zugeschrieben. Sie gelten dem anderen, »historizistischen« Zweig als »vulgärmarxistisch« – ein Vorwurf, der sicherlich eine große Zahl der späteren marxistischen Literatur treffen dürfte.73 Zu diesen Historizisten zählt etwa die Theorie Georg Lukács’, an den wiederum eine ganze marxistisch orientierte Linie der Diskussion anschließt, die wir im Zusammenhang mit der kritischen Theorie wieder aufnehmen werden. Der Frage nach dem Verhältnis von Basis und Überbau, also das Thema der Korrelation von Wissen und Gesellschaft, die in beiden Linien aufgeworfen wird, werden wir im Folgenden immer wieder begegnen.
[55]4 | Die Triebe und der Irrationalismus des Wissens |
Im Großen und Ganzen gehen die geschichtsphilosophisch angelegten Konzepte, wie die oben dargestellten, von der Annahme einer steten Fortschreitens der Vernunft und der Ausweitung des menschlichen Wissens aus. Diese Annahme bildet das Fundament des westlichen Fortschrittsglaubens, den die Aufklärung begründete und der zum Allgemeinwissen geworden ist. Gegen diese Vorstellung zunehmender Rationalität regte sich jedoch schon im Zuge der Aufklärung massiver Widerstand von Seiten der konservativen, antiaufklärerischen Denker (in Deutschland etwa Justus Möser, der den hiesigen Konservativismus begründet), die sich für den Erhalt der traditionellen Strukturen einsetzten. Die Kritik wandte sich vor allem gegen die Annahme der Vernünftigkeit des Menschen, die als Motor den Fortschritt der menschlichen Vernunft antreiben sollte. Im Widerspruch dazu behauptete eine Reihe von Intellektuellen die grundlegende Unvernünftigkeit, den Irrationalismus des Menschen. Vernunft und Wissen erscheint für sie bestenfalls aufgesetzt. Für die Wissenssoziologie sind diese Intellektuellen deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie den naiven Glauben an die schlichte Gültigkeit von Wissen und Wahrheit angreifen (der noch unsere »Wissensgesellschaft« beherrscht). Und obwohl sie die Quelle allen Tuns in nichtsozialen Trieben verankern, sehen sie darüber hinaus die vermeintliche Geltung von Wissen nicht in der Erkenntnis selbst begründet, sondern in sozialen Prozessen, in denen der Schein von Wahrheit erzeugt wird.
Einen entscheidenden Beitrag zur Prägung dieses Irrationalismus lieferte Friedrich Nietzsche.74 Er hebt vor allem die Rolle der Triebe hervor: Die Menschen schaffen sich eine künstliche Ideenwelt hinter der Erscheinungswelt, weil sie ihre ureigensten niederen Triebe übertünchen wollen. Diese Triebe bilden die eigentliche Grundlage der Erkenntnis, denn erst ihre Konfrontation mit der Wirklichkeit bringt Erkenntnis hervor, ja erzwingt sie. Wissen ist folglich nicht schon Teil der menschlichen Natur. Es folgt aus dem Trieb und ist Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisses: »Wenn wir Erkenntnis wirklich begreifen wollen, wenn wir wirklich wissen wollen, was sie ist, wenn wir ihre Wurzel und Fabrikation erfassen wollen, müssen wir uns vielmehr