Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch
Читать онлайн книгу.einen exklusiven Bereich des Handelns eingeschränkt und habe vielmehr Zugang zu allen Zweigen der Produktion. Hier werde auch die Teilung der Arbeit aufgehoben: Jeder kann sich in jedem beliebigen Kreis von Tätigkeiten ausbilden und »heute dies, morgen jenes […] tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.«65 Die kommunistische Gesellschaft ist das von Marx und Engels erwartete Ziel der historischen Entwicklung, das sich aus der Dialektik der Klassenkämpfe früherer Epochen ergeben soll.
Wenn wir bei Marx und Engels von der sozialen Lage oder von sozialen Strukturen sprechen, so stehen bei ihnen die sozialen Klassen – als soziale Entsprechungen verschiedener Formen des Bewusstseins – im Vordergrund. Als soziale Klassen bezeichnet Marx große gesellschaftliche Gruppen. Sie unterscheiden sich voneinander dadurch, ob (und in welchem Ausmaß) sie über die Mittel zur Produktion verfügen und folglich auch durch ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Sie unterscheiden sich schließlich durch ihre Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit. Soziale Klassen stehen zueinander im Verhältnis des Konfliktes, wobei vor allem zwei tragende Klassen jeweils in einem stark antagonistischen Verhältnis stehen. Die menschliche Geschichte wird in den Augen von Marx und Engels im Wesentlichen durch Klassenkonflikte zwischen den zwei tragenden Klassen vorangetrieben. In einem dialektischen Prozess führt der Konflikt zweier Klassen zu neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen auf einer jeweils »höheren« Stufe. (Die höchste Stufe bildet der Kommunismus.)
Auf eine sehr vereinfachte Weise, wie sie vor allem für die Propaganda der kommunistischen Partei genutzt wurde, lassen sich folgende Phasen der Entwicklung der Klassenstruktur unterscheiden: Auf eine Phase, in der die Menschen in Stämmen organisiert sind, die als Besitzer von Eigentum auftreten, und in der die Arbeitsteilung auf der Grundlage des Verwandtschaftssystems geregelt wird, folgen die antiken Gemeinde- und Staatsbesitzverhältnisse der frühen Stadtstaaten, die auf einer Arbeitsteilung zwischen den Besitzern und den Sklaven, ihrem wichtigsten Besitz, beruhen. Darauf folgt die feudale Phase einer vorwiegend landwirtschaftlichen Gesellschaftsformation, die aus Landbesitzern und einer Dienstklasse besteht. Die zeitgenössische Phase zu Marx Lebzeiten ist der Kapitalismus. Hier geht es im Wesentlichen um die industrielle Produktion von Waren. Weil dadurch auch die Arbeitskraft zu einer Ware wird, treffen hier zwei Klassen aufeinander, die sich kategorisch voneinander unterscheiden: die Arbeiter, die über nichts weiter verfügen als ihre Arbeitskraft, die sie als eine freie Ware offerieren, und die Kapitalisten, die über die Produktionsmittel verfügen und die Arbeitskraft kaufen. Durch den Mehrwert, den die Arbeiter produzieren und den die Kapitalisten ihnen vorenthalten, häufen sie Kapital [50]an. Diese beiden Klassen prägen in immer deutlicherer Weise die Struktur der industriellen Gesellschaft, und sie sind ihrerseits von der Art ihrer Arbeit geprägt.
Diese vereinfachte marxistische Vorstellung der Klassen ist offenkundig dichotomisch angelegt. Kapitalisten und Proletariat gelten für Marx als die wichtigsten Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft. In seinen eigenen historischen Betrachtungen jedoch zeigt sich, dass die sozialen Verhältnisse weitaus verzwickter sind, als es das simple Schema des Klassenkonflikts vermuten lässt. Das zeigte sich etwa an den zeitgenössischen Entwicklungen in Frankreich. 1848 hatte sich dort – wie ja auch in manchen Gebieten Deutschlands – eine revolutionäre Situation ergeben. Wider Erwarten hatte sich jedoch weder die Arbeiterschaft noch das Bürgertum, sondern das autokratische Regiment Napoleons des Dritten durchgesetzt. Marx versucht diesen seiner Geschichtsphilosophie widersprechenden Sieg einer in seinem Entwicklungskonzept »rückschrittlichen« Entwicklung nun durch eine erweiterte Klassenanalyse zu erklären. Neben dem Proletariat und den Kapitalisten treten also auch andere Klassen auf: das Lumpenproletariat, die Grundbesitzer, die Rentiers, die Kleinbauern usw., die Marx jedoch feinsäuberlich unterscheidet. Definitorisch für die Klassen ist indessen die Art des Einkommens, das sie beziehen. Die tragenden Gruppen des Napoleonischen Staatsstreiches seien kleine Bauern und das städtische Lumpenproletariat, die nun sein Klassenspektrum erweitern. Seit der Einführung des Wahlrechtes stellten die Gruppen der voneinander isolierten Parzellenbauern die Mehrheit des Wahlvolkes. Aus ihrem Klassencharakter erklärt sich auch ihre Begeisterung für einen Politiker, dessen unumschränkte Regierungsgewalt sie vor anderen Klassen schützen konnte. In den Städten sei diese Gruppe durch Vagabunden, entlassene Soldaten, Gauner, Lumpensammler und Bordellhalter unterstützt worden, so dass Bonaparte letztlich »Chef des Lumpenproletariats« wurde.66
Die Klassenverhältnisse lassen sich also keineswegs auf ein dichotomisches Schema reduzieren. Nur wenn man ein dichotomisches Schema anlegt (wie Marx es für agitatorische Zwecke tut), dann nimmt Marx’ wissenssoziologische These die erwähnten deterministischen Züge an: Die Produktionsverhältnisse, also die Verhältnisse der Menschen, unter denen sie mit gegebenen Produktivkräften ihr Leben führen, gelten nun als die primären, grundlegenden Verhältnisse. Sie umfassen die Art der Arbeitsteilung und die Form, wie der Tausch geregelt ist, wie die Produkte verteilt werden, also die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen miteinander. Dagegen sind »die ideologischen Verhältnisse von ihnen abgeleitet, abhängig […]. Die Produktionsmittel bilden die ökonomische Basis einer gegebenen Gesellschaft, und sie determinieren als solche den ganzen politisch-ideologischen Überbau dieser Gesellschaft.«67
[51]Wenn an dieser Stelle von »Determination« gesprochen wird, sollte man vorsichtig sein: Der ideologische Marx, der den Kommunismus fördern will, betont den deterministischen Aspekt des Verhältnisses, während der wissenschaftliche Marx, der vor anderen Wissenschaftlern bestehen will, das Verhältnis zwischen Basis und Überbau weitaus differenzierter sieht. Man bedenke, dass der gerade zitierte Ausschnitt dem alten marxistisch-leninistischen Wörterbuch entstammt und selbst durchaus ideologische Züge trägt. Dagegen sollte man an Marx’ wissenschaftlicher Position hervorheben, dass er die Ökonomie seiner Zeit einer radikalen Kritik unterwirft. In dieser Kritik macht er deutlich, dass die Ökonomie nicht einfach als »Basis« des Sozialen und des Geistigen angesehen werden kann. Denn schon die historische Entwicklung der Klassengegensätze macht sich vor allen Dingen am Privateigentum fest, das Besitzende und Nichtbesitzende trennt – und beim Privateigentum handelt es sich um eine soziale und rechtliche Institution. Wenn noch die zeitgenössische Ökonomie zu Marx’ Lebzeiten vom Privateigentum als einer natürlichen Gegebenheit ausgeht, dann vollzieht sie eine Anerkennung der Rechte der Besitzenden. Damit tritt die Ökonomie selbst als eine Form der Ideologie auf, die die Vermögensverhältnisse und damit die Klassenverhältnisse der gegebenen Gesellschaft grundsätzlich rechtfertigt. Sie ist Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Ideologie, die von einer herrschenden Klasse getragen wird, welche ihre partikularen Interessen auch in der Wissenschaft verfolgt und dort als Wahrheit ausgibt. Dazu gehören selbst so unschuldig anmutende Prinzipien wie die »Freiheit« oder die »Gleichheit«. Denn solche Prinzipien, so Marx, ergeben erst in einer bürgerlichen Gesellschaft Sinn, in der die Arbeit Freier auf einem Markt zur Verfügung steht, der die Arbeitskräfte in ihrem rein ökonomischen Potenzial als gleichwertig behandelt. Weil sie eine Ideologie ist, kann diese bürgerliche Wissenschaft auch nicht den Zusammenhang zwischen der Arbeitsteilung bzw. dem Tausch und der zunehmenden Verarmung der Arbeiter erkennen. Der Wert der Arbeiter wird unterschlagen, sie setzt sie einer Ware gleich.
Wie oben bereits bemerkt, ist schon die Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit, ja Arbeitsteilung insgesamt eine wesentliche Ursache der Entfremdung. Sie führt zur Entfremdung, denn »mit der Teilung der Arbeit ist die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben […], dass die geistige und materielle Tätigkeit – dass der Genuss und die Arbeit, Produktion und Konsumtion in Widerspruch geraten«.68 Die Entfremdung wird jedoch durch die moderne industrielle Produktion noch verstärkt. Um dies zu verstehen, muss man an den materiellen Prozess der Objektivierung erinnern, der in Marx’ Kritik an Feuerbach angeschnitten wurde. Der Mensch nämlich erkennt sein eigenes Wesen in der Praxis, in der er die Wirklichkeit erzeugt. Die Arbeit ist gleichsam eine Art der Selbst-Verwirklichung des Menschen – da sie als sozialer Vorgang vorzustellen ist, sollten wir besser sagen: der Menschen als sozialer Wesen. Die Entfremdung setzt an der Stelle ein, an der die Möglichkeit der [52]Wiederaneignung des sozialen Erzeugungsprozesses unterbrochen wird. Weil also das, was der Arbeiter erzeugt, zu einer von ihm und seiner Praxis abgekoppelten Ware wird, kann man von Entfremdung reden. Entfremdung bedeutet, dass