Medientheorien kompakt. Andreas Ströhl
Читать онлайн книгу.einem Medium vor allem ein Mensch verstanden, der dank besonderer Begabung, durch Trance, Hypnose, Drogen, Nahtoderfahrungen, Hysterie oder andere ekstatische Begleitumstände in der Lage ist, mitzuteilen, was anderen Menschen nicht offenbar wird: verborgenes, geheimes Wissen, die Zukunft etc. Als Franz Anton Mesmer Ende des 18. Jahrhunderts diese Formen von Volksglauben, gestützt durch die gleichzeitige Erforschung der Elektrizität und die Entdeckung der »tierischen Elektrizität« durch Luigi Galvani, vorgeblich naturwissenschaftlich fundiert, als er Formen von Hypnose als »animalischen Magnetismus« gesellschaftlich akzeptabel und salonfähig zu machen versucht, werden seine Versuchspersonen ganz selbstverständlich als »Medien« bezeichnet.
Ein Indiz dafür, dass der Begriff des Mediums im Sinne von Durchlässigkeit für etwas verwendet worden ist, findet sich in Georg W. F. Hegels Wissenschaft der Logik von 1812 – fast beiläufig wird da erwähnt, dass so, wie das Wasser im Körperlichen die vermittelnde Funktion eines Mediums hat, im Bereich des Geistigen die Zeichen bzw. die Sprache diese mediale Funktion übernehmen […]. Das Medium ist ein Tor zur Welt des Symbolischen (Hartmann 2010, 273).
Ab 1870 fotografiert der Arzt Jean Martin Charcot in der berühmten Nervenheilanstalt Salpêtrière in Paris Hysterikerinnen. Seine Modelle, wie die durch die Sessions und Fotos berühmt gewordene Augustine, waren Patientinnen und Darstellerinnen zugleich.4 Vor allem aber verkörperten sie etwas Unheimliches, scheinbar ihnen selbst Unzugängliches: Sie sind Medien, die etwas transportieren und vermitteln. Die Fotografie selbst als »Medium« zu bezeichnen, wäre damals aber noch niemandem eingefallen. Und noch als der Parapsychologe Albert von Schrenck-Notzing 1929 [20]Fotos von »Materialisationsphänomenen« (z. T. in Anwesenheit von Thomas Mann) macht und ausstellt, wird keineswegs die Fotografie selbst als »Medium« bezeichnet, sondern vielmehr immer noch die fotografierten Personen, die diese Phänomene des sogenannten »physikalischen Medionismus« hervorbringen.
Doch dann, etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, setzt sich allmählich die Bedeutung von »Medium« durch, die wir heute zuallererst mit dem Begriff verbinden: ein technisches Kommunikationsmittel, stets im Zusammenhang mit seinen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingtheiten und Bedingungen gedacht.
Die Wiederbelebung und Umprägung des alten Begriffs vom »Medium« haben wir dann, es muss gesagt werden, der Werbewirtschaft zu verdanken:
»Medien«, »media« – das ist, streng diskurshistorisch betrachtet, ein Konzept aus der amerikanischen Mikroökonomie der Werbewirkungsforschung und nicht etwa aus soziologischen Diskursen. Die Werbewirtschaft und niemand sonst musste in dem Begriff »Medien« den Epochenübergang markieren, der sich mit den Überlagerungen von Print, Plakat, Leuchtschrifttechniken, Film und Radio in den 1920ern ereignete. […] Kurzum: Nicht eine Wissenschaft, sondern die Medien selbst, nämlich der mikroökonomische Diskurs ihrer Werbeagenturen, haben das Pluraletantum der Medien in die Welt gesetzt. (Hagen 2011, 89–92)
Ein Medium nach unserem heutigen Sprachgebrauch ist zunächst einmal eine Instanz, die Kommunikation ermöglicht. Nie jedoch sollte vergessen werden, dass die religiösen (Zugang zu geheimem Wissen) und naturwissenschaftlichen (Trägersubstanz für chemische oder physikalische Reaktionen) Bedeutungen auch im heutigen Gebrauch des Begriffs immer noch mitschwingen, wenn auch meist unbewusst.
Medien im heutigen Sinne sind unverzichtbar in der Kommunikation mit anderen Menschen. Doch welche Funktion genau nehmen sie in diesem Prozess ein? In den klassischen Kommunikationstheorien werden verschiedene Funktionen voneinander abgegrenzt. Die meisten dieser Theorien sehen folgende Instanzen vor: einen Sender, einen Empfänger, einen Code, einen Kanal, eine Umwelt, Geräusche – und eben ein Medium. Soweit herrscht weitgehende Übereinstimmung. Doch Kommunikationsund Medientheorien sind immer Ausdruck einer hinter ihnen stehenden, umfassenderen Grund- und Geisteshaltung, einer bestimmten Philosophie oder Ideologie. Deshalb ist bei jeder Beschäftigung mit Medientheorien ein Blick auf Philosophie und Ideengeschichte unumgänglich. Auch diese Einführung in die Medientheorien wird deshalb einige wichtige philosophische und vor allem erkenntnistheoretische Positionen und Entwicklungen[21] kurz rekapitulieren, als deren Ausdruck oder Neuformulierung auch die zeitgenössischen Medientheorien verstanden werden müssen.
Je nach übergeordnetem Weltbild verschieben sich die Schwerpunkte in der ihm zuzuordnenden Medientheorie. Dies zeigt sich besonders deutlich anhand des jeweils verwendeten Begriffs vom Medium: Was in der einen Theorie als »Kanal« gilt, wird in der anderen als »Medium« bezeichnet. Zur Erläuterung hier nochmals das Beispiel von Moses und den zehn Geboten: Eine intuitive Zuordnung der Begriffe (noch vor dem Versuch, diese zu definieren) ergäbe etwa folgendes Bild:
Kommunika- tionstheoreti- scher Begriff | Sender | Code | Medium | Kanal | Empfänger | Message |
Beispiel zehn Gebote | Gott | Schrift | Steintafel | Moses | Israeliten | Gebote |
Abbildung 1: Der Kommunikationsakt »Moses bringt den Israeliten die zehn Gebote«
Doch ganz offensichtlich ist schon diese einfache Aufstellung unbefriedigend. In welcher Sprache sind die Gesetze verfasst? Ist sie Teil des Codes, des Mediums, des kulturellen Wissens oder der Umwelt? Welche Rolle kommt den Kulturtechniken des Schreibens und des Lesens zu? Macht es einen Unterschied, ob Gott den Text selbst schreibt oder Moses ihn nach Diktat anfertigt? Welche Rolle spielen die Wege und Steige, die Moses geht, um den Berg herab zu gelangen? Sind sie Teil des Kanals? Welche Position nimmt der Griffel oder der Meißel ein, mit dem Moses den Text eingraviert? Besteht der Text aus den Buchstaben auf den Tafeln oder gehört zu ihm die gesamte Erzählung von der Entstehungsgeschichte der Gebote und ihrer Übermittlung? Gehören dazu auch die Vorgeschichte, das kulturelle Umfeld und die historische Situation (d. h. der Kampf gegen den Götzendienst und der Pakt zwischen Gott und den Israeliten)? Welchen Unterschied würde es machen, wenn der Text seine Empfänger nie erreicht hätte (weil z. B. auch die zweite Tafel zerbrochen oder Moses beim Abstieg verunglückt wäre)? Wäre das Medium dann trotzdem noch ein Medium? Und für wen?
Spätestens hier wird deutlich, wie komplex die Angelegenheit wirklich ist. Verschiedene Interpreten würden den Kommunikationsvorgang »zehn Gebote« ganz unterschiedlich analysieren und kategorisieren. Als Sender ließe sich neben Gott auch Moses verstehen, denn schließlich war er es ja, der den Text geschrieben hat. Der Code kann die Schrift sein, die hebräische Sprache, die Textsorte des Gebots etc. Am umfassendsten jedoch ist[22] der Begriff »Medium«: Im Gegensatz zu unserer vereinfachenden Darstellung gibt es ganz unterschiedliche medientheoretische Positionen, die hier jeweils das Folgende zum Medium zählen würden:
Moses
die Steintafeln
den Meißel
die Schrift
die hebräische Sprache
die Gebote
die Religion
den Weg, den Moses geht
Moses’ Füße
Das heißt, nahezu alle Instanzen des Kommunikationsprozesses lassen sich aus dem einen oder anderen Blickwinkel als Medium verstehen, als dasjenige, was vermittelt.
Es ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall medialer Kommunikation, dass dabei mehrere Medien wie russische Matrjoschka-Puppen ineinander enthalten sind. Der Läufer von Marathon5, dessen Körper selbst die Nachricht gespeichert hatte, ist die seltene Ausnahme von der Regel. Doch sowohl Moses, als auch die Steintafeln, die Schrift, die hebräische Sprache oder die Textsorte »Gesetz« können als ineinander verschachtelte Medien betrachtet werden. Bei der – ursprünglich durchaus nicht zum reinen Vergnügen betriebenen – Übermittlung von Nachrichten durch Brieftauben beispielsweise ist es ähnlich: Ist das Medium nun die Taube selbst oder der Brief, den sie trägt? Ist es der Text, der die Nachricht transportiert, oder kommt nicht vielmehr der medialen Nachrichtentechnik »Brieftaubensport« als Institution