Soziale Arbeit. Johannes Schilling

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Soziale Arbeit - Johannes Schilling


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Entwicklung der Wohlfahrtspflege in der Weimarer Zeit ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet:

      1. Zentralisierung der Wohlfahrtspflege, das Reich übernahm zunehmend die Aufgaben.

      2. Statusanhebung der Fürsorgeempfänger, durch den Krieg wurden auch viele aus den gehobenen Schichten zu Empfängern von Unterstützung.

      Jugend-, Wohlfahrts-, Gesundheitsamt

      1918 entstand das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt als erste zentralisierende Ausführungs- und Verwaltungsbehörde der Länder auf dem Gebiet der Fürsorge. 1924 wurde die „Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht“ erlassen, in der die Grundprinzipien der Fürsorge geregelt wurden. Diese Reichsverordnung fasste die Einzelregelungen zusammen und übertrug sie einem einheitlichen Träger. Die Armenhäuser wurden umbenannt in Fürsorge- bzw. Wohlfahrtsämter. Es wurden die klassischen Ämter geschaffen: Jugendamt, Wohlfahrtsamt und Gesundheitsamt.

      fünf Entwicklungslinien

      Die Reihe der Gesetzgebung schloss 1927 mit dem Gesetz der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Nach Sachße und Tennstedt lassen sich fünf Entwicklungslinien der Wohlfahrtspflegeentwicklung erkennen:

1. Öffnung der Wohlfahrtspflege zur Mitte der Gesellschaft hin, eine neue Definition von Armut wurde notwendig; in der Notgemeinschaft des Krieges verloren die bisherigen Kriterien ihre Gültigkeit.2. Konflikte zwischen Reich und Gemeinden. Das Reich wurde zur zentralstaatlichen Steuerungsinstanz in der Wohlfahrtspflege.3. Duale Strukturen der Wohlfahrtspflege. Es entstand das für Deutschland charakteristische duale System der Wohlfahrtspflege, d.h. die Regelung des Verhältnisses öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege nach dem Subsidiaritätsprinzip.4. Politisierung der Wohlfahrtspflege. Über die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates stritten sich die demokratischen Parteien mit je unterschiedlichen Positionen.5. Wohlfahrtspflege und Arbeitsmarkt. Das Problem der Arbeitslosigkeit spielte in der Fürsorge eine große Rolle. Der Erfolg der Maßnahmen und Leistungen hing entschieden vom Funktionieren des Arbeitsmarktes ab (Sachße/Tennstedt 1988, 213–217).images

      Anzumerken ist noch, dass 1923 der Begriff „Armenpflege“ durch den der „Wohlfahrtspflege“ ersetzt wurde.

      Der Prozess der Vergesellschaftung der Fürsorge unterscheidet sich deutlich von den vorausgegangenen Strukturmustern der Armut und Hilfe. Es war nach und nach etwas qualitativ Neues entstanden. Die alte polizeiliche Armenpflege, dann Fürsorge und Wohlfahrtspflege sollte im 20. Jahrhundert schließlich die heutige Soziale Arbeit werden.

      Wohlfahrtspflege statt Armenpflege

      neues Armutsbewusstsein

      Die soziale Gesetzgebung der Bismarckschen Zeit war eine Arbeitergesetzgebung, die Sozialversicherung eine Arbeiterversicherung. In der Wohlfahrtspflege ging es nun darum, sich gegen diese Sozialpolitik des Staates abzugrenzen und nach der eigenen Legitimation zu fragen. In den zahlreichen theoretischen Bemühungen dieser Zeit geht es um eine begriffliche Klärung und Abgrenzung der beiden großen Arbeitsgebiete, der Sozialpolitik und der Wohlfahrtspflege der freien Verbände. Man suchte nach den wesensgemäßen Unterschieden. Das entscheidend Neue entwickelte sich aus der Sicht des Menschenbildes. Die alte Armen- und Wohlfahrtspflege berücksichtigte nur den „halben Menschen“, d.h. die äußere Seite der menschlichen Not: Nahrung, Kleidung, Obdach, Moral und Bildung. Der neue Prozess der Fürsorge richtete sich zunehmend auf die zweite, die innere Seite des Menschen, auf seine innere Natur. Armut wird begleitet von einem Armutsbewusstsein, einem seelischen Erleiden der Armut. Nicht die Armut als solche, sondern das Erleben der Armut wird zum Gegenstand der Fürsorge. Die alte Erziehung ging z. B. von den Schwierigkeiten aus, die das Kind machte, die neue von denen, die das Kind hatte.

      Die Verschiebung auf die Innenseite des Menschen besagt jedoch nicht, dass man der materiellen Not keine Beachtung schenkte, es fand vielmehr eine Umwertung hin zum ganzen Menschen statt.

      1.4.2 Alice Salomon (1872–1948)

      Alice Salomon hat mit ihrem umfangreichen wissenschaftlichen Werk und mit ihrem persönlichen Engagement die Soziale Arbeit als professionellen Berufszweig in Deutschland wie kaum jemand sonst beeinflusst. Zugleich gab sie für Praxis, Theorie und Ausbildung in der Sozialen Arbeit wegweisende Impulse, die im Professionalisierungsprozess der Sozialen Arbeit als Berufszweig bis heute ihre Spuren hinterlassen haben (vgl. Landwehr/Baron 1983; Wieler 1983/1987; Müller, C. W. 1985; Engelke et al. 2014; Feustel 1997/2000/2004; Kuhlmann 2000/2007). Sie ist die Pionierin der Sozialen Arbeit als gesellschaftliche Reformbewegung. Und sie gilt als Gründerin des sozialen Frauenberufes und Repräsentantin der Frauenbewegung. Ziel von Salomon war es, eine Einbindung der bürgerlichen Mädchen und Frauen in die soziale Hilfearbeit zu ermöglichen, um sie qualifiziert auf die verantwortungsvolle Tätigkeit in der Sozialen Arbeit vorzubereiten und sie gleichzeitig an gesellschaftlichen Reformen zu beteiligen.

      Leitgedanke

      Leitmotiv war die Erkenntnis, dass aus Lernenden Lehrende und Erziehende werden würden, um ihren Teil der Verantwortung für die Leistung der Gesamtheit zu übernehmen (Braches et al. 2013, 79). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der Entwicklungsstand einer modernen Gesellschaft. Je entwickelter und vielseitiger die Kultur einer Gesellschaft ist, so Salomon, desto weniger werden alle seine Mitglieder imstande sein, mit den herrschenden Ideen, Vorstellungen und Anforderungen Schritt zu halten; desto größer wird die Zahl derer, die sich nicht anpassen können; desto geringer werden die Möglichkeiten natürlicher, familienhafter, nachbarlicher Hilfe und Förderung.

      In der Industriegesellschaft entsteht andauernd Not durch Ursachen, auf die der Einzelne kaum Einfluss hat, die durch gesellschaftliche Umstände bedingt sind. Die Not kann viele Gesichter haben: wirtschaftliche, geistigsittliche, gesundheitliche und im einzelnen Menschen liegende Ursachen. Um Hilfe zu gewähren, sind Wohlfahrt und Wohlfahrtspflege notwendig. Wohlfahrt und Volkswohlfahrt werden durch politische Maßnahmen angestrebt.

      Unter Wohlfahrtspflege versteht Salomon „die planmäßige Förderung der Wohlfahrt von Bevölkerungsgruppen in Bezug auf solche Bedürfnisse, die sie nicht selbst auf dem Weg der Wirtschaft befriedigen können, und für die auch nicht deren Familien oder der Staat durch allgemeine öffentliche Leistungen sorgt“ (Salomon zitiert nach Engelke et al. 2014, 244).

      Ziele

      Ziel der Wohlfahrtspflege ist die bestmögliche Entwicklung der ganzen Persönlichkeit durch bewusste Anpassung des Menschen an seine Umwelt, aber auch umgekehrt, Anpassung der Umwelt an die besonderen Bedürfnisse und Kräfte des betreffenden Menschen (Engelke et al. 2014, 247).

Salomon geht es darum, dass die Wohlfahrtspflege – etwas moderner ausgedrückt –:1. die vorhandenen Kräfte der Klientinnen nach Möglichkeit fördert und entwickelt,2. die vorhandenen Ressourcen erhält und schützt, der Entstehung sozialer Problemlagen möglichst präventiv begegnet,3. zufrieden stellende Lebenssituationen nach Möglichkeit mit wiederherstellen hilft, die sozialen und individuellen Probleme gemeinsam mit den KlientInnen bearbeitet,4. wo Veränderungen nicht mehr möglich sind, eine Grundversorgung anbietet und sicherstellt.images

      Um diese Ziele zu erreichen, war für die Sozialreformerin Alice Salomon die Grundlage allen Helfens die Erstellung von sozialen Diagnosen, wie wir sie in den neuen Bachelor-Studiengängen auch wieder lehren. „Soziale


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