Tatort Nordsee. Sandra Dünschede

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Tatort Nordsee - Sandra Dünschede


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seltsamerweise durch den Kopf.

      Aber sich den Deich aus dem Kopf schlagen konnte August nicht mehr. So viel hatte Wiard erreicht, das musste er anerkennend zugeben. Vor allem aber war er zutiefst beunruhigt. Er lebte hier mit seiner Familie. Und es trieb sich jemand in der Gegend herum, der offenbar vor Gewalt nicht zurückschreckte. Wenn er daran dachte, dass seine Kinder in die Schusslinie geraten könnten, dass sie eventuell schon jetzt bedroht waren … Es fröstelte ihn. Als Wiard gehen wollte, drehte dieser sich noch einmal um: »Übrigens, seitdem die Bucht und andere Teile hier an der Küste weiter eingedeicht worden sind, läuft die Flut tatsächlich doch höher auf, ich habe dazu zufällig eine wissenschaftliche Studie gefunden, die genau dies bestätigt. Stimmt also nicht, was du eben gesagt hast und was in dem Sondergutachten steht …«

      »Tatsächlich?«, entgegnete August matt. »Wiard, also, wir müssen sehen, dass wir weiterkommen, weißt du, ich guck mir das mal an. Mein Kopf ist jetzt zu, ich muss das erst mal alles sacken lassen. Also, bis dann.« Wiard sah August an, dass es ihm für den Moment reichte.

      »Tschüss«, sagte er und ging. Kurz vor dem Hinausgehen drehte er sich noch einmal um und setzte an, etwas zu sagen, doch er ließ es, wandte sich wieder ab. Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss.

      Wieder war August in der Nacht oft aufgewacht. Die Angelegenheit ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Er wusste nicht, ob er Henrike etwas erzählen sollte. Er wollte seine Familie aus all dem heraushalten. Bloß kein Steinwurf in eines seiner Fenster. Was, wenn nun gerade das geschah und er dann zugeben musste, dass er gewusst habe, dass so etwas passieren konnte? Er hatte Wiards Kopfverband vor Augen. Wenn er sich vorstellte, dass Gero oder Karina gerade hinter der Scheibe spielten …

      August und Freerk waren gut mit den Kälberställen vorangekommen, abends waren viele schon fertig in Persil-Weiß gekalkt.

      »Fehlen nur noch die Tiere. Und die sauen dann alles in ein paar Tagen wieder ein.«

      »Aber nur unten, oben bleibt das erst mal so, und es sieht doch gut aus«, entkräftete August sogleich den Einwurf seines Sohnes. »Und nun habe ich Hunger. Hast du Mama schon gesehen?«

      »Ja, von Weitem, da stand eine Zeit lang ein Auto vor der Tür, und sie hat mit jemandem geredet, kannte ich aber nicht.«

      »Was für ein Auto?«

      »Roter Opel Zafira. Keine Ahnung, wer das war. Jedenfalls war er nach kurzer Zeit wieder weg, obwohl, zunächst schien er nicht anspringen zu wollen. Ich glaube, das war irgend so ein Vertreter, wollte euch wahrscheinlich ’nen neuen Laufstall oder Melkstand andrehen.«

      »Das fehlt mir noch, ich frage mich, ob ich das, was hier jetzt rumsteht, jemals abbezahlen kann.« August machte sich auf den Weg zum Haus. »Kommst du auch?«

      »Gleich. So in ’ner halben Stunde. Ich will noch kurz zum Schlafdeich, das Wetter ist so geil.«

      Ja, ja, alles nur noch voll krass und geil bei der Jugend, ging es August durch den Kopf. Und wenn nicht, dann war es – wie war das noch – lappig, ja, so hieß das heute. Genau wusste er aber nicht, was lappig eigentlich bedeutete.

      Der Schlafdeich lag etwa 300 Meter südwestlich vom Hof. Vor mehr als 120 Jahren hatte er noch als Außendeich gedient, damals hatte er den alten Polder geschützt, vor dem nun der jetzige, neue angelegt worden war, in dem die Saathoffs ihren Hof hatten, und der im Schutz des neuen Deiches lag, an dessen Standhaftigkeit Wiard Lüpkes so sehr zweifelte.

      Hoffentlich hält er, schoss es August durch den Kopf, und er erkannte, dass irgendetwas passieren musste. Es konnte nicht alles einfach so weiterlaufen, er würde das auch nicht lange nervlich durchstehen. Er war ein ruhiger Typ, aber so etwas, Unbekannte, die Straftaten begingen, und das hier in der Einöde, das hatte er noch nicht erlebt – und es machte ihm zu schaffen.

      Freerk ging gerne, gerade abends bei Sonnenuntergang, zum alten Schlafdeich. Der Blick nach Westen war dann besonders schön, vor allem bei Wind Stärke drei bis vier, wenn der Himmel sternenklar, aber dennoch von schnell dahinziehenden Kumuluswolken durchzogen war und der Mond sein Licht in immer neuen Facetten in den Polder warf. Freerk blieb meistens eine gute halbe Stunde dort, manchmal auch länger, und war anschließend oft sehr gut gelaunt. Als August und Henrike sich kennenlernten, waren sie auch oft zum Schlafdeich gegangen. Zum einen, weil es dort schön war. Man hatte Ruhe, konnte sprechen, träumen, knutschen. Zum anderen, weil es in diesem platten Land eine Erhebung war, die die Sicht zum Hof nahm. So war es einer der wenigen Plätze, wo man sich ungestört nach Herzenslust küssen konnte oder auch mehr, wenn eine laue Sommernacht es wettermäßig hergab. Schon als Junge war August dort herumgestromert. Er dachte an den Song von Udo Lindenberg: ›Bin jahrelang tagtäglich am Deich entlanggerannt …‹ Er überlegte einen Augenblick, ob er seinen Sohn begleiten sollte, doch schnell entschied er, dass Freerk sich kaum darüber freuen würde, hatte er doch den ganzen Tags schon mit dem Vater verbracht. Dafür war August ihm sehr dankbar. Und Freerk würde ihm dankbar sein, wenn er ihn jetzt allein ließe. Wer weiß, worüber er zu grübeln hatte. Vielleicht wollte er wirklich nur den Sonnenuntergang genießen. Ein ungeschriebenes, uraltes Familiengesetz besagte außerdem: ›Wer zum Schlafdeich geht, ob allein oder zu zweit, wird in Ruhe gelassen.‹ Selbst seine Eltern hatten sich immer daran gehalten. Aus seinem Zimmer hatten sie August und dessen Freundinnen (viele waren es nicht gewesen, bis er Henrike kennenlernte) das ein oder andere Mal vertrieben (so etwas gehörte sich schließlich nicht) – am Schlafdeich hatte er immer ungestört die Zeit mit dem Mädchen verbringen können. August entschied, in Kürze mal wieder mit Henrike einen Spaziergang dorthin zu machen. Der letzte lag schon längere Zeit zurück. Immer kam etwas dazwischen. Die tagtägliche Hausarbeit, der Hof, die Tiere, die vielen kleinen Probleme der Kinder und die größeren der Erwachsenen. Man vergaß einfach, auch einmal etwas für sich selbst zu tun, den Tag zu genießen, und wenn es nur für ein paar Minuten war. Die Tage, Wochen und Monate vergingen schnell, sodass sie eins ums andere feststellten, dass man doch in diesem Sommer mal wieder dies oder jenes hatte tun wollen, die Umsetzung aber ausgeblieben und nun schon wieder Oktober war, es überwiegend stürmte und regnete, und es schon wieder so früh dunkel wurde, dass man draußen zu nichts mehr kam. So war es nach dem letzten Sommer jedenfalls gewesen, und jetzt, im November, erwies sich das Wetter oft als noch miserabler, sodass es keinen Spaß gemacht hätte, obwohl August sich auch im Winter gerne mal auf den Deich, auch den Außendeich stellte, um sich so lange vom Nordwestwind durchpusten zu lassen, bis es zu kalt und ungemütlich wurde. Das tat einfach gut und führte nicht – obwohl viele das meinten – zu Erkältung, Lungenentzündung und Triefnase, sondern zu klaren Gedanken, neuen Ideen und guten Gefühlen. Ein heißer Tee danach wärmte den ausgekühlten Körper schnell wieder auf. Und wieder dachte August an einen Lindenberg-Song: ›… und jetzt trinken wir erst mal einen Rum mit Tee.‹

      Als er ins Haus trat, hörte er die Kleine schreien. Sie zeterte in dem Zimmer, das sie sich mit der Schwester teilte.

      »Was ist mit Wienke?«, fragte er Henrike, die Küche betretend.

      »Sie meint, ich müsse ihr etwas zu trinken hochbringen, ich habe gesagt, sie soll es sich hier abholen. Das reichte für einen Heidenradau.«

      »Soll ich mal hochgehen?«

      »Wenn du dich beliebt machen willst, klar. Ich jedenfalls bin bis auf Weiteres ›oberdoof‹, dir wird sie das sicher gerne bestätigen.«

      »Ich warte noch ein bisschen.« August küsste Henrike auf die Stirn und sagte, dass er nach dem Abendessen mit ihr gerne kurz über das, was Wiard ihm erzählt hatte, sprechen würde. Er wunderte sich, hatte das ganz spontan gesagt, ohne vorab darüber nachzudenken.

      Wienke beruhigte sich glücklicherweise kurz vor dem Abendessen, sodass die Vierjährige mit ihren drei Geschwistern und den Eltern am Tisch sitzen und den vor Eigenlob strotzenden Geschichten des Vaters und des großen Bruders zuhören konnte. Sie priesen die Schönheit der neu geweißten Kälberställe, nicht ohne zu betonen, wie viel Arbeit das gewesen sei und sie nur wegen der fehlenden Pausen so weit gekommen wären.

      »Ich habe euch aber lange Tee trinken sehen, und Wiard war auch da«,


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