Tatort Nordsee. Sandra Dünschede

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Tatort Nordsee - Sandra Dünschede


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      »Und woher weißt du das alles, als einfacher Handlanger, entschuldige, aber das warst du doch.«

      »Was heißt entschuldige? Ohne Handlanger läuft gar nichts auf solchen Baustellen! So gesehen kann man recht stolz auf den Handlangerjob sein. Aber, davon ab, ich habe es doch selbst gesehen. Ich war daraufhin in der FH-Bibliothek in Emden. Ich dachte, wo man Seefahrt studieren kann, muss es auch Informationen zum Bau eines Deiches geben. War aber ziemlich mau, muss wohl auch am Sparkurs der Regierung liegen oder daran, dass ich am falschen Standort war. Ich war in der Stadtbücherei, habe im Internet gesurft, habe alles über Deichbau zusammengesucht, was ich finden konnte: Presseberichte, Funk- und Fernseharchive, was weiß ich. Habe mit vielen Leuten gesprochen. Selbst in Norden im Heimatmuseum war ich, übrigens zum ersten Mal, ist wirklich gut gemacht, da kann man allerhand lernen, auch über den Deichbau. Und eines habe ich gelernt: Die Ostkrümmung des neuen Deiches ist nicht ordentlich zu Ende gebracht worden, wenn sie aus Holz wäre, würde ich sagen: Da sitzt schon der Wurm drin, und zwar ganz gewaltig. Ich kann dir einen ganzen Aktenordner geben, anhand dessen sich meine Theorie gut nachvollziehen lässt.«

      »Ich kann’s mir nicht vorstellen, Wiard, ich glaube, ein bisschen siehst du doch Gespenster …«

      »Wär’ mir lieber, wenn’s so wäre. Noch ein Bier?«

      »Ja.«

      »Klare Frage, klare Antwort. So. Und vorgestern, ungefähr bei Hochwasser, bin ich zum neuen Deich. Wie gesagt, der erste Herbststurm, Wasserstand anderthalb Meter über normal, das reicht. Erster, kleiner Test für den neuen Deich, nichts Ernstes. Darum bin ich umso betroffener darüber, was ich gesehen habe. Die haben sich die Stellen, die sie nicht so bauen, wie es sich gehört, geschickt ausgesucht. Die Ostkrümmung ist gesperrt für jeglichen Fußgängerverkehr, Beweidung wegen der Nationalparkauflagen auch untersagt – da kommt also so schnell keiner hin. Nun kennst du mich, August, ich gehe immer gerne dorthin, wo sonst keiner hingeht oder hingehen darf. Ich war also an der Ostkrümmung und habe mir den Nordwestwind ordentlich um die Nase wehen lassen. War unheimlich schön, die herannahenden Wolken, dazwischen der Himmel, die aufgewühlte See, der Wind. Am Horizont funkelten die Lichter von Juist. Früher sah man den Leuchtturm von Memmert, aber den gibt es ja schon lange nicht mehr. Aber Borkum blinkt nach wie vor, auch im Zeitalter von GPS. Laaang, kurz, dann eine Weile nichts, laaang, kurz … Ich stand jedenfalls auf dem Deich und war sogar ein bisschen stolz, dass ich dieses Bollwerk mitgebaut hatte.«

      »Na bitte«, unterbrach August, dem das zweite Bier bald besser schmeckte als das erste.

      »Nix na bitte«, erregte sich Wiard, »es kam erst noch. Als ich mich schließlich entschloss, nach Hause zu gehen, nahm ich keinen der gepflasterten Treppenabgänge, sondern ging einfach an der Deichinnenseite runter. Als ich unten ankam, stapfte ich mitten ins Wasser, was ohne Stiefel ziemlich unangenehm war.«

      »Ja und? Es hatte geregnet, und ein bisschen Wasser kann von der Durchfeuchtung her immer am Deichfuß rauskommen – das läuft hinter dem Deichverteidigungsweg in den Schloot, und damit hat sich das, ist doch ganz normal …«, August kam nicht weiter.

      »Ja, aber geregnet hatte es viele Stunden zuvor und nicht allzu lange, versuch dich zu erinnern, August, du weißt doch immer genau, wie viele Millimeter Niederschlag wir haben, musst du ja auch, wenn du ein guter Landwirt bist, und das bist du. Nee, das war kein Regenwasser, das war Feuchtigkeit, die aus dem Deich kam. Und du hast recht: Ein bisschen darf das sein – hier kam aber wesentlich mehr als ein bisschen raus. Das kann ich dir versichern!«

      »Klar, in der kurzen Zeit, in der einmal Wasser am Deich steht, da leckt das Ganze unten schon durch … Nee, Wiard, hör mir auf, das kann nicht, das ist unmöglich, ich bitte dich!«

      »Weiß ich doch auch, August, aber es ist so. Als es so schnell mit der Ostkrümmung gehen musste, haben die ’ne Menge Material auf- und eingespült. Mir kam das damals schon reichlich nass und wässrig vor – aber da muss ich nun wieder sagen, dass ich ja kein Deichbauer bin. Weißt du, was ich glaube?« Er nahm einen Schluck Bier und fuhr fort, ohne Augusts Antwort abzuwarten: »Ich glaube, dass der ganze Deichkern von vornherein viel zu feucht war, weil die den Sand viel zu schnell und nachlässig eingespült haben und er sich nicht setzen konnte. Aber vor allem ist die Kleidecke viel zu dünn, und sie wurde zu früh aufgetragen. Und darum wurde dann tatsächlich bei dieser ersten Sturmflut schon Wasser in den Deich gedrückt. Es ist dann wieder aus der anderen Seite raus – nicht das vorne reingedrückte, aber das, was vorher schon im Deich drin war. Sozusagen ein Dominoeffekt der Wassermoleküle, eines drückt das andere weg.« Wiard lehnte sich zurück und fand diesen Vergleich sehr passend. Er atmete aus, lange und bedächtig.

      »Puh, das ist ’ne Theorie, ein bisschen viel auf einmal – also … keine Ahnung. Das würde ja heißen, dass die uns alle hier im Polder verarscht haben, und noch viele Leute mehr. Nee, wir leben doch nicht in einer Bananenrepublik, also …«, August leerte die zweite Flasche.

      »Konnte ich auch nicht glauben, obwohl mein Gedankenmodell immer besser passte. Aber jetzt kommt’s. Jetzt werde ich dich überzeugen, denn was dann passierte, kann ich selbst noch kaum glauben. Hier kommt meine Verletzung ins Spiel. Ich saß an meinem kleinen Schreibtisch, abends, Lampe an, Tasse Tee … Da fliegt plötzlich ein Stein durch die Scheibe, gut gezielt, genau getroffen. An meinen Kopf, meine Schläfe – bin umgekippt, weggedämmert. Irgendwann kam Jan Peters, dann der Krankenwagen. Habe ich ja alles gar nicht mitbekommen …«

      »Ein Stein, durch die Scheibe?« August starrte Wiard ungläubig an.

      »Komm her.« Wiard schritt ins Nebenzimmer. »Hier«, er zeigte auf die kaputte Fensterscheibe, die er notdürftig mit einer Plastikplane abgedichtet hatte.

      »Oh, Mann, das gibt’s nicht! Das kann doch kein Zufall sein!« August war sprachlos.

      »Zufall? Mitnichten. Weißt du, ich habe denen im Krankenhaus eine tolle Geschichte erzählt, wie das passiert ist, aber nicht die Wahrheit. Die steht hier drauf«, Wiard drückte August einen kleinen Zettel in die Hand.

      August las. Da stand in ungelenken Druckbuchstaben, mit Bleistift, verwischt, aber noch sichtbar: ›Lass die Finger vom Deich, Schnüffler!!!‹

      »Nee, das glaub’ ich jetzt nicht …« August wischte sich mit fahrigen Bewegungen über’s Gesicht.

      »Ist aber so. Ich verspreche dir hoch und heilig: Ich habe weder mein Fenster zerstört noch den Zettel an den Stein geheftet. Aber natürlich bestätigt mich das voll und ganz. Sollte wohl eine Warnung sein – hätte aber fast zu meinem Exitus geführt. Wenn das nichts Ernstes ist, August, was dann? Und wenn da was mit dem Deich nicht ganz gewaltig faul ist, ich bitte dich, August, was dann?«

      »Ja, ich muss dir wohl doch recht geben. Das mit dem Stein … Da gibt’s jemanden, der weiß, was du tust, und dem ist das gar nicht recht. Das ist ja wie in einem schlechten Film. Du bist gefährdet, Wiard. Mann, Mann, und das hier, irgendwo zwischen Utlandshörn und Greetsiel, an einem Stück ostfriesischer Küste – wo doch sonst nichts Aufregendes los ist. Was können wir jetzt tun?«

      »Es gibt hier einen Skandal – den müssen wir aufdecken!«

      Plötzlich wurde August unwohl. Er hatte überhaupt keine Lust, Steine durch seine Fenster fliegen zu sehen, und dachte an Henrike und seine vier Kinder, die womöglich etwas abbekommen könnten. Ihm fielen schlimmere Dinge ein: Entführung, Mord. Und – war das, was Wiard passiert war, nicht schon versuchter Mord? Hätte schließlich auch schiefgehen können.

      »Sag mal«, fiel ihm plötzlich ein, »wieso hast du nicht die Polizei alarmiert?«

      »Guck mal – schon dich von meiner Theorie zu überzeugen, ist schwer genug. Glaubst du, die Polizei würde mir glauben?«

      »Weiß nicht. Immerhin hättest du schwer verletzt werden können, vielleicht dabei draufgehen. Wer weiß? Da muss dann doch die Polizei ran, meine ich.«

      »Ja, irgendwann schon. Aber vorerst will ich allein der Sache nachgehen. Oder zusammen mit jemandem, der mir glaubt. Bis die ganze Geschichte insgesamt glaubwürdiger ist. Dann kann von mir aus die Polizei auf Steineschmeißerjagd gehen.«

      August


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