Tatort Nordsee. Sandra Dünschede
Читать онлайн книгу.du bist kein Deichbauer, Wiard.«
»Hast ja recht, aber ein bisschen verstehe ich davon schon. Wie gesagt, ich erzähle dir das Ganze erst jetzt, da ich neue Beobachtungen am Deich gemacht habe – bislang habe ich mir bei alldem nichts gedacht und mir selbst auch immer gesagt: Bist nun mal kein Deichbauer, wird wohl alles seine Richtigkeit haben.«
»Nun werde doch endlich mal konkret, Wiard! Und mit deiner Wunde am Kopf und dem Fast-Verbluten bringe ich das schon gar nicht in Übereinstimmung. Ich mein, da hört der Spaß ja auch auf!« August wurde ungeduldig.
»Von wegen Spaß. Also mal ganz einfach und konkret: Die haben gepfuscht, die haben einige Stellen am Deich im Bereich der Ostkrümmung nicht mit den erforderlichen Schichten ausgestattet oder Material gespart, nicht das richtige verwendet und dabei auch noch ziemlich geschludert … eben unter extremem Zeitdruck gearbeitet. Je schneller, desto schlechter. Qualitätsmanagement war in dieser Phase des Deichbaus offenbar in keiner Weise angesagt. Vielleicht sogar untersagt worden, von bestimmten Damen und Herren.«
»Tolle Behauptung, und warum?«, wollte August wissen. Er sah Wiard etwas verächtlich an, merkte das und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu ändern, wusste aber nicht, ob ihm das gelang.
»Als damals drei Tage lang die Arbeit plötzlich brachlag, stand das Betreiberkonsortium vor dem Aus – das, was in der Presse als Schwierigkeit bezeichnet wurde, die bald behoben sein würde, da sich lokale Vertreter, ja sogar die Landesregierung dafür starkmachten, war im Grunde genommen die Pleite des ganzen Konsortiums. Ich habe all die Zeitungsausschnitte noch hier. Du wirst dich auch erinnern, so lange ist das ja noch gar nicht her. Das hing wohl nicht nur mit dem Deichbau zusammen, sondern mit allerhand weiteren Projekten, in die das Konsortium eingebunden war. Aber den Deich in dieser kurzen Zeit in der erforderlichen Qualität zu bauen, damit hatten sich die Damen und Herren im Vorstand reichlich übernommen.«
»Also hör mal, Projekte dieser Größenordnung werden EU-weit ausgeschrieben, da wird vor- und rückwärts geprüft, da wird doch niemand ausgewählt, der …« Diesmal kam August nicht weiter.
»… der in Zeiten knapper oder leerer öffentlicher Kassen nicht ein finanzierbares Angebot macht. Sag ich doch. Und finanzierbar heißt: zu einem gerade noch erträglichen Preis in der von den Auftraggebern vorgeschriebenen Zeit. Das ist das eine. Was ich aber inzwischen auch herausgefunden habe, ist, dass der Vertrag wohl etwas ungenau definiert gewesen sein muss. Gleichzeitig kam eine Leitzinserhöhung der Weltbank ins Spiel, die den einen oder anderen Subkredit, der vielleicht für den Deichbau vorgesehen war, extrem verteuerte. Die Banken fackeln da nicht lange, und bei allerhand Millionen Euro machen 0,2 Prozent Zinserhöhung schon einen ganzen Batzen aus. Plötzlich fehlte Geld in der Kasse. Sieh mal, ein Kilometer Deich erfordert allein bis zu 200.000 Tonnen Klei – das sind mehr als 20.000 Transportfahrten, wenn man einen 15-Tonner einsetzt. Das kostet natürlich ein paar Euro. Und wenn es da zu Engpässen kommt oder die Zeit wegläuft und dem Unternehmen sowieso schon das Wasser bis zum Hals steht, muss man eben nach Möglichkeiten suchen, wie das Projekt doch zu Ende geführt werden kann. Zunächst wollte die Landesregierung, die natürlich den Löwenanteil der Deichbaukosten trägt, das nun plötzlich fehlende Geld den Privatunternehmen im Konsortium aufbürden. Begründung: Immerhin wären die nicht mit der vereinbarten Summe ausgekommen, und dafür trügen sie die Verantwortung. So leicht war das aufgrund der teilweise rechtlich zweideutigen Vertragsabsprachen aber wohl nicht. Jedenfalls haben sich daraufhin einige Firmen erst einmal vornehmst aus den Arbeiten am Deich zurückgezogen, nach dem Motto: Erst die Kohle, dann die Leistung. Na, mithilfe der Landesregierung ist schließlich ein neuer Kredit vereinbart worden, damit das Projekt zu Ende geführt werden konnte. Jetzt galt plötzlich doch: Der Deich muss stehen, koste es, was es wolle. Es musste schnell gehen, das Ganze von der Aufsichtsbehörde auch noch abgenommen werden. Die Firmen, das Baukonsortium insgesamt, und, noch wichtiger, alle Befürworter, insbesondere die Politiker, sollten am Ende gut dastehen. Und das Ende war für die letzten ein bis zwei Wochen vor der Landtagswahl terminiert – um den Deichbau noch etwas ausschlachten zu können für die Wahl. Nach dem Motto: ›Wir tun was für die Leute und die Region‹ und so.«
Wiard trank gleich mehrere Schlucke Bier. August starrte ihn mit großen Augen verwundert an und dachte in diesem Moment nur: »Mann, kann der reden …«
»An der Ostkrümmung habe ich selbst mitgearbeitet, und dabei habe ich Folgendes erlebt: Der ›Rohbau‹ des Deiches war fertig, viel Sand war eingespült, als es zu der Unterbrechung kam. Nur ein paar Tage, aber eben Stillstand für diese Zeit. Dann ging es ebenso plötzlich wieder weiter, und unser Bauleiter teilte uns alle Neuerungen mit und dass wir nun unter extremem Zeitdruck stünden, da der Zeitplan unbedingt einzuhalten sei. Die Arbeiten müssten also so schnell wie nur möglich durchgeführt werden. Außerdem sei beschlossen worden, dass bezüglich der notwendigen Kleischicht und der Besodung sowie bei der Steinsicherung am Deichfuß Änderungen notwendig sind. Das bräuchte uns aber nicht weiter interessieren. Mir war das auch ziemlich egal, ich würde ja eh nur wieder Steine schleppen, Soden legen, Karren schieben, hier graben, da auffüllen. Aber mir fiel auf, dass diejenigen, die die Arbeit beaufsichtigen sollten, ein wenig betreten dreinschauten. Die fühlten sich nicht so richtig wohl in ihrer Haut – das merkt man den meisten Menschen an, ob sie wollen oder nicht. Und aus heutiger Sicht ist mir klar, warum die wegguckten – im wahrsten Sinne des Wortes. An dieser Stelle, und das ist vielleicht nicht die einzige, wurde der Deich nicht so fertiggestellt, wie es bei ordentlicher Berücksichtigung der Richtlinien und Normen und guter ingenieurtechnischer Praxis hätte sein müssen.«
»Wiard, ich weiß nicht«, unterbrach August. »Wenn ich an all die Maschinen denke, die vielen Leute, die Berichte und die Bedeutung des ganzen neuen Deiches, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass gepfuscht wurde, da steht doch viel zu viel auf dem Spiel!«
»Siehst du, genau das habe ich bis gestern auch gedacht, aber nun bin ich anderer Meinung. Ich erinnere mich noch an das Gespräch zwischen zwei Abschnittsleitern, das ich zufällig mitbekommen habe. Der eine sagte – es war mitten im Gespräch, als ich hereinkam –: ›Aber das kann man nicht machen, auch wenn’s hier nicht so wichtig ist wie an exponierteren Stellen, das weicht doch alles auf, wenn da das Wasser drauf steht. Der Sand muss absacken, sich setzen. Und dann der Klei …‹
Und der andere erwiderte so in etwa: ›Sicher, aber die Anordnung kam von oben, das Material ist schlicht im Moment nicht da, und der Zeitplan hat höchste Priorität, also fertig machen, basta!‹ Dann wieder der erste: ›Mir geht das gegen den Strich, aber gehörig!‹, woraufhin sein Gegenüber gestand: ›Mir auch, aber ich kann’s mir im Moment nicht leisten, aufzumucken. Kündigen geht nicht, dann sitze ich finanziell bis zum Hals in der Scheiße, außerdem ist zur Zeit einfach nichts mit Jobs – brauche ich dir ja nicht zu erzählen. Bauingenieure werden zurzeit nicht gerade zu Tausenden gesucht. Wir haben vor zwei Jahren ein Haus gekauft – die Kredite sind zwar zinsmäßig nicht schlecht, aber bezahlt werden müssen sie doch. Ich mach das hier zu Ende, auf jeden Fall. Dann ist meine Firma raus aus dem Konsortium und tritt hoffentlich nie wieder ein. Aber das wird eh nach dem Deichbau aufgelöst. Dann kann wieder jeder machen, was er will. Wenn dieses Scheißprojekt bloß schon zu Ende wäre …‹
Ich stellte den beiden den Tee hin und goss noch für zwei weitere Bauleiter ein. Sie sahen mich kurz erschrocken an, dann wollte der eine wissen: ›Und Sie? Schon lange bei der Firma?‹
›Nee, erst seit gut zwei Monaten.‹
›Aha, wie so viele hier.‹
Damit war das Gespräch beendet. Und nun frage ich dich, August: Ist doch alles etwas komisch, oder?«
»Wenn das wirklich so war, sicher, ist das seltsam, ja, aber vielleicht haben sie über was ganz anderes gesprochen?«
»Nee, denn ich habe die Tage ja selbst gesehen, wie das gemacht wurde. Kennst du den Spruch ›Ein bisschen Blech ein bisschen Lack …‹?«
»›… fertig ist der Hanomag.‹«
»Genau so. Und das war das Prinzip, das an der Ostkrümmung angewandt worden ist. Wobei das Blech die viel zu magere Kleischicht und der Lack die miserable Grasnarbe darüber sind, vom Steindeckwerk am Deichfuß mal ganz abgesehen,