Tatort Nordsee. Sandra Dünschede

Читать онлайн книгу.

Tatort Nordsee - Sandra Dünschede


Скачать книгу
zu Fuß zurücklegen, es würde knapp 20 Minuten dauern, und der Abend war für diese Jahreszeit noch recht lau. Es war zwar Oktober, aber der würde zusammen mit den Herbstgefährten November und, zu fast drei Vierteln, Dezember wahrscheinlich wieder so grau in grau dahinwabern, und richtig kalt würde es erst im Januar werden. Wenn überhaupt. Henrike wollte ihn ein Stück begleiten, sie war an diesem Tag wenig rausgekommen, hatte Berge von Wäsche gewaschen, gebügelt und wegsortiert und benötigte unbedingt noch frische Luft. Sich wenigstens ein bisschen die kühle Brise, die von der See her kam, gemischt mit der gesunden, ostfriesischen Landluft, um die Nase wehen lassen. Gero schlief schon, Wienke und Karina hatten ihre Schlafanzüge an und waren von Henrike und August darauf hingewiesen worden, dass jetzt Schluss sei mit jeglichem Spielen, und erst recht mit Ärgern, und dass sie zwar noch lesen oder ein wenig Kassette hören könnten, spätestens um halb neun aber überall das Licht aus sein müsse, schließlich sei morgen wieder Schule und Kindergarten, und da müssten sie genug schlafen. Meistens konnten sich die beiden darauf verlassen, dass ihre Kinder dies auch so einhielten, immerhin waren sie ja in der Regel nach einem langen Tag, der morgens um halb sieben begann, ziemlich müde. Ansonsten wussten die Kinder, dass sie sich im Fall der Fälle auch an die Großeltern wenden konnten, die im Nebenhaus wohnten, worum August und Henrike von Freunden, die auch Kinder, aber nicht so komfortable Betreuungsmöglichkeiten hatten, oft beneidet wurden. Freerk, der Größte, ging mittlerweile meistens nach eigenem Gutdünken ins Bett, es wurde manchmal schon elf, was Henrike missbilligte. August sah das gelassen, und Freerk ließ sich zwar noch etwas sagen, aber nur, wenn er es einsah, und das war nicht immer der Fall. Wie das bei dem immerwährenden Generationenkonflikt eben so ist.

      Als August und Henrike die etwa 300 Meter lange Hofzufahrt hinter sich gelassen hatten, bogen sie auf die Hauptstraße, die den ganzen Polder durchzog und an der links und rechts entweder Haus- und Hofzufahrten abgingen oder die ein oder andere Straße. Hauptstraße hieß indes nur, dass hier zwei Pkws oder Trecker aneinander vorbeifahren konnten, ohne dass einer gleich die Straße verlassen musste. Das Straßennetz des Polders war weitgehend rechtwinklig angelegt, wie an der Hutschnur lagen die Häuser und Höfe an den Straßen aufgereiht, dazwischen war jeweils ausreichend Platz für Weiden, Getreideäcker oder andere Flächen. Es gab so etwas wie ein Zentrum, wo eine Grundschule, ein Laden, ein Landmaschinenhändler sowie die Kirche waren. Hier standen die Häuser etwas dichter. Die Grundversorgung im Polder war somit gesichert, zumal es bei Martens, so wurde das Einkaufsgeschäft nach seinem Eigentümer, der es in der dritten Generation führte, genannt, einfach alles gab.

      »Ob Schraube, Hammer, Genever, Käse, Bosselkugeln oder ’n neejen Unnerbüx – bei Martens gibt’s nichts, was es nicht gibt«, pflegte August zu sagen, wenn er den Laden des Polders mit einer Mischung aus Hoch- und Plattdeutsch beschrieb. Eigentlich wiederholte er aber damit nur die Selbstdarstellung des alten Martens.

      Henrike begleitete ihren Mann bis vor die Hauseinfahrt von Wiard Lüpkes’ Anwesen. Sie hatten sich über die Kinder, anstehende Probleme am Hof, aber dann vor allem über Wiard und dessen Kopfverletzung unterhalten. Beide hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen sein konnte.

      »Wiard hat in Rätseln gesprochen«, erzählte August seiner Frau, »aber irgendetwas liegt ihm ganz schön auf dem Herzen, irgendwas will er mir dringend sagen«.

      »Dann sieh zu, dass du es erfährst«, meinte Henrike nur und blieb stehen. »Ich geh jetzt zurück.«

      Ein Kuss, ein kurzes »Tschüss« und noch ein »Trinkt nicht zu viel Bier, du musst morgen melken«, dann machte sich Henrike auf den Heimweg, während August zur Haustür ging und klingelte.

      Wiard öffnete erstaunlich schnell, er schien bereits gewartet zu haben.

      »Moin, häng dich auf.« Er verschwand in seiner kleinen Küche. »Schon gegessen?«

      »Ja, ich bin satt, danke. Wie geht’s deinem Kopf?«

      »Genever?«, meldete Wiard sich zurück, ohne auf die Frage einzugehen.

      »Bist du verrückt? Bloß nicht, keinen Alkohol heute und schon gar nicht Genever. Ich hab noch das letzte Feuerwehrfest in unguter Erinnerung. Holl mi up.«

      An besagtem Abend hatte August allzu viel von dem Hochprozentigen getrunken und war mit einem ziemlich dicken Kopf am nächsten Morgen aufgewacht, wobei ihm nicht gleich einfiel, wie er eigentlich dorthin gekommen war, mit oder ohne Fahrrad, mit dem er auf jeden Fall hingefahren war.

      »Pass auf, dass deine Kühe nicht duhn werden«, hatte ihm sein Vater beim morgendlichen Melken in Anspielung auf seine Fahne zugeraunt. Das Aspirin, das er gleich nach dem kurzen Frühstück eingeworfen hatte, half auch nicht viel.

      »Ich glaube, meine Kopfverletzung hat durchaus mit der Feuerwehr zu tun, vielmehr mit dem letzten Feuerwehrfest. Ein Pils?«, fragte Wiard aus seiner kleinen Küche.

      »Na ja, ein Bier kann wohl nicht schaden.«

      »Nee, keinesfalls, ist ja kein Alkohol, sondern flüssiges Brot«, ergänzte Wiard und fügte hinzu: »Deshalb können auch mehrere nicht schaden.«

      »Sag mal, ansonsten ist alles in Ordnung mit dir? Ich versteh nur Bahnhof. Wieso soll das Fest mit deiner Verletzung zu tun haben? Beides liegt drei Wochen auseinander. Also für mich ergibt das keinen Sinn.«

      Wiard kam mit zwei Flaschen Jever Pils wieder herein und setzte sich an den Tisch, an dem August schon Platz genommen hatte. In seinem Wohnzimmer herrschte eine bemerkenswerte Unordnung, er selbst nannte es ›das organisierte Chaos‹. In jedem Chaos gäbe es schließlich eine gewisse Ordnung, zumindest behaupteten das doch die Wissenschaftler. Wiard fand sich jedenfalls darin zurecht, und – was viel wichtiger war – er fühlte sich wohl. August staunte immer wieder, wie man es länger als zwei Tage in diesem Haus aushalten konnte, er liebte eine gewisse, nicht übertriebene, aber doch sichtbare Ordnung und konnte rasch nervös werden, wenn er Dinge, die er suchte, nicht gleich fand. Immer wieder kam es vor, dass er ein bestimmtes Werkzeug suchte und sich dieses nicht am dafür vorgesehenen Platz befand – meistens hatte eines seiner Kinder es dann benutzt und nicht wieder zurückgelegt. Er hatte sich zwar abgewöhnt, sich über so etwas aufzuregen, gleichwohl fragte er sich immer wieder, ob es nicht erlernbar wäre, die Sachen zurück an ihren Platz zu bringen, wenn man sie nicht mehr brauchte. Bislang hatte aber weder Freerk, schon gar nicht den kleinen Gero davon überzeugen können. Bei Gero war das noch egal, bei Freerk hingegen machte er sich langsam Sorgen – schließlich dauerte es nicht mehr lange, und er würde allein im Leben zurechtkommen müssen, da war ein bisschen Ordnung halten doch wohl mehr als angebracht. Manchmal dachte August dann aber auch, er würde nun doch älter, denn er erinnerte sich an ähnliche Diskussionen und manchen Ärger mit seinem Vater wegen solcher Dinge. Aber wer sollte das vermitteln, wenn nicht er oder Henrike?

      »So, was ist nun? Halt mich nicht länger hin!«, leitete August das Gespräch ein. Wiard war erstaunlich lang mit dem Öffnen der Bierflaschen und der Suche nach Bierdeckeln beschäftigt, die er unter die Flaschen schob. Das war angesichts seines ansonsten nicht so ausgeprägten Ordnungssinnes erstaunlich, aber Bierdeckel gab es bei Wiard immer, er sammelte sie, sagte er, allerdings lagen sie alle in einer Schublade, ohne dass er jemals dazu kam, sie anzusehen oder anderen zu zeigen. Mehrfach vorhandene bekamen Gäste unter ihre Flasche oder das Glas geschoben, allerdings wusste er nicht immer, welche er mehrfach besaß. Wiard murmelte »Gläser lass’ ich mal weg.« Dann setzte er deutlicher fort:

      »Ja, weißt du, das ist nicht ganz leicht zu erklären. Ursprünglich war es nur eine Vermutung, die ich da hatte. Nun aber stehen die Dinge anders, jetzt nach dem Anschlag …«

      »Anschlag?«

      »Ja, ich nenne das einen Anschlag. Übrigens – um dir klarzumachen, dass es ein Anschlag war –, wenn Jan Peters wegen seiner Sauflust nicht reingekommen wäre, hätte ich laut den Ärzten im Kreiskrankenhaus gut und gerne hier in meiner Hütte verbluten können. Dann säßen wir hier jetzt nicht mehr so schön zusammen, August. Ich wäre mausetot!«

      »Wiard, du musst schon der Reihe nach erzählen. Mausetot? Gott bewahre … Aber wieso denn nur?«

      »Hast ja recht. Ich versuch’s mal eins nach dem anderen. – Also, du weißt doch, dass ich während


Скачать книгу