Tatort Nordsee. Sandra Dünschede
Читать онлайн книгу.hatte da mehr so einen Handlangerjob, hier mal helfen, da mal helfen, Schubkarre hierhin, Steine dorthin, graben, Soden im Heller stechen, ausbessern, was weiß ich nicht alles. Schöne Arbeit, körperlich anstrengend, aber ich hatte viel Zeit, nachzudenken, frische Luft und abends war ich völlig fertig – da konnte ich schlafen wie ein Bär, was sonst nicht immer der Fall ist.«
»Und?«, bohrte August.
»Ich bin kein Deichbauer, ich habe während der Monate immer genau gesagt bekommen, was ich tun soll. Das war ganz schön, wie gesagt, man kann dann während der Arbeit über andere Dinge nachdenken. Aber ich bin nun mal auch nicht ganz blöd, und ich habe allerlei mitbekommen, von dem andere meinten, dass es mich entweder nicht interessierte oder ich es nicht verstand.«
»Das hört sich ja geheimnisvoll an.«
»Ja, um Geheimnisse ging es dabei auch, und wenn ich nicht vor einigen Tagen eine interessante Beobachtung am Deich gemacht hätte – du weißt doch, gleich nach dem Sturm, war ja der erste Herbststurm dieses Jahres und das Wasser stand hoch –, dann hätte ich das Ganze vielleicht längst vergessen. Aber nun sind mir einige Erlebnisse während meiner Arbeit wieder ganz präsent, und ich brauche jemanden, dem ich mal davon erzählen kann. Weißt du, August, du bist einer der wenigen hier im Polder, die mich für richtig voll nehmen.«
»Du, beim Feuerwehrfest neulich, da haben dich aber viele für voll genommen, aber so richtig. Voll wie ein Amtmann eben.«
Wiard machte eine Pause und sah August mit einem Blick an, der deutlich machte, dass er Augusts Witz zwar zur Kenntnis genommen hatte, aber in dieser Situation für unangebracht hielt. »Ach, sei jetzt mal ernst. Erinnerst du dich an den Typen an der Theke, mit dem ich eine ganze Zeit gesprochen habe, der vom Amt?«
»Ja, ganz dunkel, Georg Redenius, ich habe ihn erst dort kennengelernt. Wieso war der eigentlich auf unserem Feuerwehrfest?«
»Wahrscheinlich über Hanne Friesenga, weißt doch, deren Schwester ist verschwägert mit … ach, wie heißt der noch, jedenfalls ist der wieder irgendwie verwandt mit Redenius.«
»Was du so alles weißt.«
»Ja, aber das ist egal jetzt. Ich hätte mich fast mit ihm geschlagen … Oder vielmehr, er mit mir, ich schlage mich nicht. Jedenfalls hat er mir gedroht!«
»Dir? Nee, dir doch nicht!«
»Er wollte mir eins auf die Nuss geben. Doch. Ich war zwar duhn as’n Hex, aber so weit habe ich es noch in Erinnerung. Ist ja zum Glück nicht so weit gekommen. Aber es ist trotzdem wichtig – auch wegen des Anschlages. Aber ich erzähl mal der Reihe nach. Ich hatte bisher die Befürchtung, dass, wenn ich das, was ich dir jetzt erzähle, anderen erzählte, die sagen würden: ›Ach Wiard, lass man gut sein, mach dir keine Gedanken, du siehst Gespenster.‹« Wiard liebte Pausen, er wartete dabei sehr konzentriert die Reaktionen seines Gegenübers ab.
»Also, ich verstehe einfach nicht, worauf du eigentlich hinauswillst, Wiard, ich glaube dir gerne, aber was ist denn nun konkret los?« August nahm zwei kräftige Schlucke Bier, kurz hintereinander.
»Hast ja recht, ich komme zum Kern der Sache. Ich selbst war über die Leiharbeiterfirma beschäftigt, die für das Deichbaukonsortium die Arbeitskräfte rekrutiert hat. Dieses Konsortium, das habe ich nie richtig durchblickt. Da waren Firmen aus Oldenburg, Bremen, Hamburg, eine aus Stralsund, auch aus Holland und Polen dabei. Alles verschiedene Firmen, jede auf irgendetwas spezialisiert, aber eben für das Unternehmen Deichbau unter einem Dach zusammengefasst. Das Konsortium hat sich jedenfalls auf die EU-weite Ausschreibung beworben und den Zuschlag erhalten, das war nicht eine einzelne Firma. Etwa sechs Wochen war ich nun im Ostteil tätig, dort, wo der Deich die starke Krümmung hat. Da kamen oft Leute von der Bau- und Abschnittsleitung hin, von daher habe ich allerhand mitbekommen, auch von einigen Baustellen am Deich, auf denen ich selbst nicht war. Aber du kannst mir glauben, ich kannte den alten Deich wie meine Westentasche, und den neuen kenne ich mittlerweile genauso gut.«
»Allerdings«, warf August ein, »so viele Stunden, wie du schon am Deich, im Heller und auf See zugebracht hast, so oft war dort keiner von uns. Ist dein Boot eigentlich wieder in Ordnung?«
»Ja, aber das tut jetzt nichts zur Sache!«, entgegnete Wiard forsch, denn er wollte nicht das Thema wechseln, merkte aber, dass August begann, sich zu langweilen. »Ich liebe den Deich und das Deichvorland. Und genau darum geht es. Ich habe gesehen, wie an allerhand Stellen ganz schön gepfuscht wurde. Du weißt, dass ein ordentlicher Deich aus unterschiedlichen Schichten aufgebaut wird, die jeweils bestimmten Anforderungen an Stabilität, Mächtigkeit, Zusammensetzung des Untergrundes und so weiter genügen müssen. Diesen Anforderungen, um es mal amtlich auszudrücken, ist nicht immer Rechnung getragen worden, und ich weiß auch, warum das so war.«
»Das hört sich aber nach einer ziemlich argen Beschuldigung an – da bin ich mal gespannt.« August nahm erneut zwei kräftige Schlucke Bier, und ihm wurde eben jetzt bewusst, dass er nicht nur eine Flasche Bier an diesem Abend trinken würde.
»Bleiben wir mal bei der Krümmung. Sie wird ja auch als Ostkrümmung bezeichnet, so haben wir sie bei der Arbeit auch immer genannt, mittlerweile steht das auch in den Plänen. So kommen irgendwelche Landschaftsobjekte zu ihrem Namen. Hier wurde die Arbeit auf einmal, mir nichts, dir nichts, für drei Tage unterbrochen, und das, obwohl wir ohnehin nicht im Zeitplan waren. Du erinnerst dich sicher an die Presseberichte, in denen schon gemutmaßt worden war, dass der Deich bis zum Herbst gar nicht fertig werden würde und dass der Polder gefährdet wäre, weil die viel zu schnell den alten Deich um die Hälfte abgetragen hätten, um das Material im neuen zu verbauen.«
»Ja, daran erinnere ich mich gut, mir kam das ungeheuerlich vor, schließlich bauten die ja keinen Wall um einen Kindergarten oder so. Die waren eine Zeit lang recht lahm, ich habe mich damals gewundert. Der Deich bedeutet den Leuten hier viel, aber das brauche ich dir nicht zu erzählen. Es hat ja zum Glück noch alles geklappt.«
»Von wegen geklappt!« Wiards Kopf wurde langsam rosafarben, das war immer so, wenn er sich erregte. »Vordergründig hat’s geklappt, oder sagen wir mal für die Öffentlichkeit. Zunächst haben die Medien ordentlich kritisiert, von wegen schlechtes Management und so, und dann haben sie sich schnell mal eben um 180 Grad gewendet – plötzlich lief alles bestens. Und mittlerweile habe ich das Ganze verstanden, hab’s kapiert. Ich dachte ja auch, dass es geklappt hat mit unserem Deich. Nach besagten drei Tagen, in denen wir mal hier, mal da gearbeitet hatten, aber ohne Kontinuität und immer unter dem Eindruck, dass die Bauleitung eigentlich gerade nicht wusste, was sie mit uns anfangen sollte … wir waren ein Trupp von so 15, 20 Leuten …, also nach den drei Tagen ging es plötzlich mit Riesendruck weiter. Sie versprachen uns gutes Geld für Überstunden, und – das habe ich damals überhaupt nicht recht begriffen, es war mir aber auch egal, ich brauchte das Geld dringend – sie ordneten an, dass jegliche Äußerungen über den Deichbau gegenüber Dritten, insbesondere der Presse, von nun an nur noch durch die Bauleitung vorgenommen werden dürfen und wir, bitte schön, eventuell auftauchende Presseleute oder wen auch immer ohne weitere Erläuterungen an die Bauleitung verweisen sollten. Die haben das mit unsachgemäßer Berichterstattung während der kurzzeitigen Einstellung der Arbeiten begründet, in der das Unternehmen schlecht weggekommen war. Aber das ist durch persönlichen Einsatz des Ministerpräsidenten noch mal aufgefangen worden, und dann ging’s eben weiter. War durchaus einleuchtend, das Ganze, und wer will schon seinen Job riskieren, indem er sich der Bauleitung widersetzt? Hinter der Arbeitslosigkeit steckt auch System, aber das tut jetzt nichts zur Sache. So, wie ging das nun weiter? Wir bekamen wohl 100 Schilder ›Betreten der Baustelle verboten, Eltern haften für ihre Kinder‹ an den Deichfuß gelegt mit der Anweisung, diese schnellstens in regelmäßigen Abständen aufzustellen.«
»Und?« August konnte sich keinen Reim machen. »Was ist daran seltsam? Dass nicht jeder über Dinge sprechen soll, von denen er keine Ahnung hat, ist doch normal, und Baustellen sind keine Spielplätze. Und die Gefahr ist doch groß, dass sich die Leute da selbst bedienen. Du weißt, dass ich mir auch ein paar Fuhren geholt habe, der Tipp stammte ja von dir, die Kinder haben’s gedankt – schöner heller Sand für den Sandkasten und als Unterbau für meine neu gepflasterte Fläche hinterm Schuppen.«
»Du