Die wilden Zeiten der Théra P.. Hans-Peter Vogt
Читать онлайн книгу.und viele Gebäude im Villenviertel waren allerdings eingestürzt. Die wirtschaftlichen Schäden in der Stadt waren immens. 350 Menschen waren allein in Théluan umgekommen. Auch die einzige Brücke über den Fluss war zusammengebrochen.
Viel schlimmer hatte es die Weltkulturerbe-Stadt Cusco getroffen, die auf der abgewandten Seite des Epizentrums lag. Dort waren über 15.000 Menschen gestorben. Eine ganze 350.000-Einwohner-Stadt war jetzt ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Wasser und ohne Nahrung. Es war schlimmer, wie die Auswirkungen nach einem Flächenbombardement.
Théra hatte sich unmittelbar nach dem Ausbruch des Vulkans mit ihrer „zweiten Mutter“ Laura in Berlin kurzgeschlossen. Laura hatte als Geschäftsführerin der mächtigen „Stiftung zur Förderung unentdeckter Talente“ die nötigen Verbindungen, um eine weltweite Hilfsaktion zu starten. Während Papa in Peru die nationale Hilfe auf den Weg brachte, waren Théra und Laura in Berlin damit beschäftigt, die internationale Hilfe zu organisieren, soweit sie das konnten. Théras zweite Mutter Laura hatte sofort alle ihre Musikerfreunde um Mithilfe gebeten. Sie setzte sich mit dem Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, dem Fernsehen und mit politischen Organisationen zusammen.
Eine große Hilfe war die Unterstützung durch Théras Tante Fatima und die Hilfe von Théras Halbbruder Jens Faruk gewesen. Er hatte die Idee, dieses Lied zu komponieren, das in den Folgewochen überall auf der Welt zum Symbol für die Zerstörung und den dringenden Wiederaufbau der Region wurde, und alleine in den ersten zwei Wochen der Kampagne über 100 Millionen Euro in die Kassen des Hilfsfonds spülte.
Théra selbst war schon zwei Tage später wieder nach Peru zurückgekehrt. Dort hatte sie sich der Öffentlichkeitsarbeit gewidmet. Sie war zu diesem Zeitpunkt erst dreizehn Jahre alt, aber sie hatte diese besondere Gabe, um Menschen zu überzeugen. Sie trat im Fernsehen auf, sie sprach mit Zeitungen und dem Rundfunk. Sie holte ihre Schwester Clara zu Hilfe, die mit ihren blonden Locken und ihren blauen Augen in die Fernsehkameras weinte, und dann den Menschen Mut zusprach. Théra war in ihrer Familie nicht das einzige Ausnahmetalent.
Die blonde Clara hatte einen unglaublichen Erfolg bei den Menschen. Überall in Peru und in den Nachbaarstaaten wurde jetzt Hilfe organisiert. Viele Indios und viele Weisse schlossen sich zu einer wahren Bewegung für den Wiederaufbau zusammen. Cusco und Théluan waren immerhin nationale Kulturdenkmäler von internationalem Rang, und Cusco war darüberhinaus Provinzhauptstadt mit einer bis dato immensen wirtschaftlichen und religiösen Bedeutung.
Vor Ort waren eigentlich Théras Vater und ihr jüngerer Bruder Pesa die Initiatoren dieser Bewegung gewesen. Théra organisierte zunächst „nur“ die Öffentlichkeitsarbeit.
Die Stiftung erhielt das Privileg zur Verteilung der Hilfsgelder. Papa hatte Gelder für den Wiederaufbau von tatkräftiger Mithilfe abhängig gemacht. Keine Agonie, hatte er gefordert. “Spuckt in die Hande, packt an. Ihr könnt weinen, das Recht zur Trauer steht euch zu, aber ihr könnt auch arbeiten. Tut etwas für eure Zukunft.”
Théra und Clara baten über Fernsehen und Rundfunk überall um Mithilfe. So entstand eine regelrechte Euphorie des Wiederaufbaus.
Théras kleiner Bruder Pesa bewies sich als Praktiker und Organisator. Er und seine Indios aus der Siedlung, die in den letzten zwei Jahren so viel Spaß an Architektur und an Bauprojekten entwickelt hatten, organisierten die Hilfe vor Ort. Sie machten sich ihre Erfahrung zunutze.
Für alles, was das Bauen und Organisieren anbetraf, hatte der erst 10 Jahre alte Pesa ein unglaubliches Talent. Er hatte nicht die Fachkenntnis eines Ingenieurs, aber er war überzeugend und konnte Aufgaben zuteilen. Er hatte das richtige Gespür dafür, wer an welchem Platz gerade gebraucht wurde, denn auch er verfügte bereits über die geheimen Kräfte der Familie, wenn auch auf etwas anderen Gebieten als Théra und Clara.
Pesa wuchs in diese selbstgewählte Aufgabe regelrecht hinein. Er und seine vielen Freunde aus der Indiosiedlung sprachen sich für einen erdbensicheren Wiederaufbau aus. Sie halfen, wo sie konnten, durch eigene tatkräftige Mitarbeit, vor allem aber durch die Organisation der Hilfe durch andere. Die Bevölkerung der Region hatte bald einen eigenen Namen für sie gefunden: „Die Bau-Kids“. Nun ja. Eigentlich nannte man sie auf spanisch voller Hochachtung die „Grupo architectura del kids“.
Es war ein Phänomen. Die indianischen Kids im Alter zwischen sechs und achtzehn waren wie eine eingeschworene Gemeinschaft. Ihre Energie und ihre Fröhlichkeit wirkte ansteckend. Sie organisierten Lastwagen und Baumaterialien. Sie sprachen mit Hausbesitzern und Banken. Sie redeten mit den Obersten der Hubschrauberbrigaden und der Bodentruppen. Sie überzeugten Baufirmen und Handwerker. Wenn sich Widerstand zeigte, blieben sie freundlich, aber sie waren hartnäckig wie die Schmeißfliegen. Sie sprachen immer wieder vor, und sie hatten stets neue überzeugende Ideen.
Sie gingen mit Mauleseln und Werkzeugen hinauf auf die Hochebene und halfen den Indios beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser. Sie sprachen mit wohnungslos gewordenen Menschen. Sie redeten mit Jugendlichen, die nach den ersten Zerstörungen in Cusco angefangen hatten Leichen zu fleddern und in den Trümmern der Häuser zu wühlen, um zu plündern. Sie überzeugten diese Jugendlichen, beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Sie setzten sich dafür ein, dass straffällig gewordene und von der Polizei aufgegriffene Jugendliche verschont wurden, wenn sie soziales Engagement zeigen. Sie initiierten in der zerstörten Stadt Cusco weitere solcher Hilfsgruppen aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Im Südosten Perus entstand eine aktive indianische Bewegung, die sich nicht nur um zivile Projekte und die Infrastruktur kümmerte, sondern eben auch für die notwendigen Reparaturen an den antiken indianischen Kultstätten. Es ging nicht nur um Wohnungen, Decken und Essen, es ging auch um die Bewahrung der historisch gewachsenen Kultur eines ganzen Kontinents. Plötzlich begann man das indianische Erbe der Inkas in Cusco und der Thé Krieger in Théluan ganz neu zu definieren. Dieses historische Erbe war es, was dieses Land so einmalig machte. Man konnte sogar von der Wiege der südamerikanischen Kultur sprechen. Die Zeugnisse dieser Hochkulturen durften nicht untergehen.
Die Schulen in der kleinen Stadt Théluan waren während des Bebens zum großen Teil zerstört worden. Während professionelle Baufirmen die Schulen wiederaufbauten (Gesetze und Verordnungen verboten es den Kids, dort mitzuhelfen), hatten die Lehrer die Schule unter Zeltdächern ins Freie verlegt. Einige von Ihnen hatten beschlossen, die Bau-Kids auf die Hochebenen und nach Cusco zu begleiten. Allen voran die neu eingestellten Polytechnik-Lehrer und die Betreuer aus der Indiosiedlung.
Auch in Cusco entstand ein völlig neues Lernsystem. Die Lehrer halfen den Kids bei ihrer Arbeit. Sie lebten mit ihnen zusammen in Zeltstädten und organisierten Verpflegung oder Transportmittel. Einmal am Tag zogen sich alle zurück und lernten gemeinsam. Bald nahmen auch die Kids aus Cusco daran teil. Sie besprachen Bauprojekte und lernten Pläne lesen. Sie lernten schreiben und rechnen an konkreten Projekten.
Weil die Gebäude der Stadt weitgehend zerstört oder einsturzgefährdet waren, entwickelten sich die mobilen Schulen unter freiem Himmel. Anderswo gibt es so etwas wie Projektunterricht. Dies hier war ein Lernen direkt im Alltag und unter den Bedingungen der durch das Erdbeben zerstörten Region.
In Cusco gab es fast nichts mehr. Kein Wasser, keine Nahrung, kein Haus, keine Matratze und an Kleidung nur das, was man auf dem Leib trug. Alles, was man zum Leben brauchte, musste erst einmal organisiert werden.
Es gab Berge von Schutt. Hunderte Verschüttete mussten mit Spürhunden mühsam aufgefunden werden. Tausende von Leichen mussten begraben, und die drohende Cholera-Gefahr musste gebannt werden. Der Ministerpräsident verhängte kurzerhand den Ausnahmezustand über die Region und erließ in Cusco ein nächtliches Ausgehverbot, das nur für Hilfskräfte mit Passierschein aufgehoben wurde. Wie gut, dass er das Militär in Bewegung gesetzt hatte. Ohne die Hubschrauber, die Lastwagen, das schwere Räumgerät und die disziplierte Hilfe des Militärs hätten die Überlebenden und Verletzten das nie geschafft. Théra hatte das alles hautnah erlebt.
Besser war das in Théras kleiner Stadt Théluan. Dort hatte das Militär unter der Leitung des Kathastrophenschutzes von Anfang an alles im