About Shame. Laura Späth

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About Shame - Laura Späth


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mit anderen unterwegs bin, versuche ich immer noch, dieses Bild nicht abzugeben. Weil ich panische Angst davor habe, diese Scham wieder fühlen zu müssen. Laufe ich heute eine Straße mit Freund*innen entlang, gehe ich ungern außen, aus genau diesem Grund. Es sind diese winzigen Details und ich bin mir unsicher, ob sie in den Köpfen anderer eine genauso große Rolle spielen wie in meinem. Aber ich denke genau solche Kleinigkeiten immer mit.

      Mit einem der Mädchen teile ich mir meinen Heimweg. Es ermutigt mich aus einem mir absolut unerfindlichen Grund, Anfang der Sommerferien mit in ein Trainingslager zu fahren, bei dem ich noch nie dabei war. Ich lasse es geschehen. Fahre mit. Weil mich vielleicht ein Restglaube oder ein kleines Stück Hoffnung dazu bewegt und ich denke: »Vielleicht nach diesem Trainingslager. Danach, bestimmt werden sie dich danach akzeptieren.«

      Wenn ich heute Menschen frage, wann Scham sie gerettet hat, denke ich an diese Situation. Scham war damals sicherlich in mir vorhanden. Vielleicht habe ich sie zu der Zeit verdrängt oder einfach nicht auf sie gehört. Gesetzt den Fall, ich hätte ihr Raum gegeben: Hätte mich das gerettet? Hätte die Scham dafür gesorgt, dass ich den Mädchen nicht glaube, als sie sagen, dass sie mich dabeihaben wollen? Hätte mich meine Scham vor der Ausgrenzung bewahrt, weil sie mich zur Flucht getrieben hätte? Oder hätte sie mich doch nur realisieren lassen, was passieren könnte, ohne dass ich handlungsfähig gewesen wäre? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Scham egal ist, ob ihre Ursachen oder Auslöser »moralisch legitim« oder »rational nachvollziehbar« sind. Scham entsteht mitunter dann, wenn dir jemand das Gefühl gibt, dich schämen zu müssen. Und das konnten die Mädchen gut.

      Ich weiß nicht mehr, wie die Busfahrt ins Trainingslager war. Die Erinnerung setzt aus. In meiner Therapie soll ich Bilder zeichnen von den Situationen, an die ich mich noch erinnere. Es sind wenige. Aber ich spreche in der Therapie über die Todesangst, die ich damals habe. Ich habe Angst, zurückgelassen zu werden. Zu sterben, an dem abgelegenen Ort, an dem die anderen Kinder und ich die Tage verbringen.

      Es ist schwierig, dieses Gefühl zu beschreiben, das so intensiv ist und das viele nicht nachvollziehen können: Wieso fühle ich Todesangst, wenn ich doch umgeben bin von einem Haufen Leute, die mich zwar ignorieren, die doch aber keinesfalls böswillig genug wären, um mich sterben zu lassen?

      Damals weiß ich das nicht. Ich träume von meinem Tod, weil ich denke, die anderen hassen mich genug, um mich allein zurückzulassen. Ich kann damals nicht einschätzen, was die anderen tatsächlich denken. Ich fühle nur ihre Ablehnung und ihr Bedürfnis nach Abgrenzung von mir. Was ich wahrnehme, ist das Alleinsein, die Einsamkeit. Und die Angst, die ich in manchen Trainingseinheiten auch vor den Betreuern habe. Vielleicht wollen auch sie mich loswerden? Mittlerweile bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich einen Lebenswert habe und ob andere der Ansicht sind, dass ich es verdienen würde, am Leben zu sein.

      Wenn ich darüber so schreibe, will ich mich schon wieder für meine damalige kindliche Naivität geißeln. Aber ich versuche, Verständnis aufzubringen für dieses Mädchen von damals, nach wie vor. Und deshalb ist nicht wichtig, ob das Mädchen es hätte besser wissen können, sondern es ist wichtig, dass es Todesangst gefühlt hat. Und dass ihm diese Angst niemand genommen hat. Dass niemand ihm die Hand gegeben und gesagt hat: »Ich pass auf dich auf, keine Sorge.«

      »Achtungsverlust kann sich hier in eine existenzielle Scham steigern, deren Urbild das ungeliebte und nicht gewollte Kind ist. Das Opfer dieser Existenzialscham ist der sich nutz- und wertlos fühlende Mensch. Dessen Empfindung hat die Psychologin Helen Lynd beschrieben: ›Wir sind Fremde in einer Welt geworden, in der wir dachten, zuhause zu sein. Mit jeder wiederholten Verletzung unseres Vertrauens werden wir wieder zu Kindern gemacht, unsicher über uns selbst in einer feindlichen Welt.‹«27 Dieses ungeliebte und ungewollte Kind. Eine spannende Figur, die sich in der Auseinandersetzung mit bestimmten psychischen Erkrankungen öfters zeigt. Die Gefühle der Fremdheit und Wertlosigkeit tauchen immer wieder im Kontext der Scham auf und steigern sich im Laufe der Schamerfahrung. So lange, bis das ganze Selbst Scham ist. Das ist dann »Existenzialscham«: Man schämt sich dafür, zu existieren. Nicht mehr nur dafür, an einem konkreten Ort zu einer konkreten Zeit, sondern überhaupt auf dieser Welt zu sein.

      Das Gefühl der Nutz- und Wertlosigkeit. Ich erinnere mich an unzählige Situationen in dem Trainingslager, in denen alle mit irgendjemandem sprechen, außer mit mir. Ich, wie ich ständig alleine trainiere oder herumsitze. Mit wem sollte ich sprechen? Längst ist mir klar, dass mich hier niemand haben will. Dass mich überhaupt niemand irgendwo haben will. Denn ich komme für die anderen einfach nicht vor und wenn, dann nur als Abgrenzungsfolie. Eine Frage brennt sich in meinen Kopf ein: Warum? Warum bin ich hier das ungewollte Kind?

      Ich habe Angst unbemerkt zu sterben, daher beschließe ich, mir Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es ist das erste Mal, dass ich glaube, durch eine Lüge mein Leben zu retten. Durch eine gut geschauspielerte Lüge. Denn ich erfinde ein Problem, eine Krankheit, ein Leiden. Ich breche einfach zusammen, werde ohnmächtig. Durch mein Verhalten bekomme ich zum einen Sympathien der Betreuungspersonen, die ab diesem Moment auf mich aufpassen, zum anderen stelle ich sicher, dass mich die anderen Mädchen nicht mehr mies behandeln. Diese Mädchen sorgen zwar weiterhin mit Nachdruck dafür, dass ich mich an keinem Punkt so fühle, als wäre ich Teil ihrer Peergroup, aber zumindest greifen sie mich nicht mehr an. Ich darf einfach auf dem Zimmer liegen, in meinem Bett. Ich darf krank sein. So krank, wie ich mich fühle. So anders, wie ich mich fühle. In der Woche esse ich kaum etwas. Es wiederholt sich, was ich aus meiner Kindergartenzeit noch zu gut kenne: Auf emotionalen Stress reagiere ich mit Erbrechen. Ich hungere mal wieder, mit Absicht. Um die Aufmerksamkeit sicherzustellen, die im Zweifel mein Überleben garantiert. Ich will nicht vergessen werden, in diesem Zelt. Am Ende der Woche steige ich aus dem Bus und beschließe, nie, nie, nie wieder über das, was dort passiert ist, zu sprechen. Als ich meinen Eltern von der Woche erzählen soll, weine ich fast. Meine Familie scheint nichts zu bemerken. Ich vergrabe diese Woche tief in meinen Erinnerungen und erst zehn Jahre später soll sie in Teilen an die Oberfläche dringen. Wodurch sie nach oben dringt? Durch Scham und einen Wiederholungszwang.

      Spätestens seit dieser Woche ist gewiss: Ich bin und denke anders. Ich denke in Welten und Formen und Farben, die nicht zu den Gedanken der anderen passen. Und ich meine das nicht als intellektuelle Überhöhung. Sondern ich verbringe mein Leben ab diesem Moment damit, mir zu wünschen, einmal so denken zu können, wie jene Mädchen. Ich habe nur meine Gedanken, die nie sonderlich erbaulich sind, sondern tendenziell entmutigend, pessimistisch, belastend.

      In diesem Bruchteil meiner Geschichte habe ich über viele unterschiedliche Momente und Ausdrucksformen von Scham geschrieben. Sie sind unterschiedlich intensiv, dauern unterschiedlich lange an und erfordern einen unterschiedlichen Umgang. Über manche Situationen kann ich heute lachen. Aber nicht über die Ausgrenzung, die ich damals erlebt habe. Sie ist ein zentraler Baustein in meiner Geschichte der Scham. Die Scham ist dort, wo der Normbruch ist. Wo die Abweichung lauert. Auch über zehn Jahre später kenne ich das Gefühl von grenzenloser Zugehörigkeit eigentlich nicht. Auch wenn ich seitdem nie wieder absichtlich ausgegrenzt wurde, nie mehr in der Intensität von Ablehnung betroffen war, kenne ich nur zu gut das Gefühl des Andersseins, die Position des »Anderen«.

      »Im Kontext der Scham gibt es keine Wiedergutmachung. Scham ist grundsätzlich nicht verhandelbar. Die unbeabsichtigte Beschämung eines Menschen kann zwar tiefes Bedauern bis hin zu Schuldgefühlen im ›Täter‹ auslösen, ohne dass dieser jedoch irgendeine Form der Entlastung anbieten kann. Er kann nichts weiter tun, als die beschämte Person allein ihrer Scham zu überlassen, da sie den Schutz der Isolation und Einsamkeit benötigt, um die Schmach der Entdeckung zu verwinden. Im Gegensatz zu anderen Emotionen, die durch Beistand gelindert werden können, wie beispielsweise Angst oder Panik, gibt es keine Möglichkeit einen Menschen aus seinem Schamgefühl zu befreien. Dieser Bewältigungsakt kann nur durch die betroffene Person selbst vollzogen werden, und zwar in Form von Rückzug in die Einsamkeit.«28

      Als ich diesen Abschnitt bei Caroline Bohn finde, denke ich sofort an jene Situationen, in denen ich mich ausgeschlossen fühlte und daran, dass manche später versucht haben, sich dafür zu entschuldigen. Aber Bohn hat recht: Wenn man jemanden aufrichtig beschämt oder gedemütigt hat, über Monate oder Jahre hinweg, kann man keine Vergebung erwarten. Der Satz »Es war nicht so gemeint«


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