About Shame. Laura Späth
Читать онлайн книгу.beizubringen. Sie weiß, dass ich das brauche, um durch meine Schulzeit zu kommen. Und sie weiß, dass ich mit so etwas konfrontiert sein werde wie Gruppenzwang. Sie versucht mir mitzugeben, dass ich darüberstehen kann. Aber das schaffe ich nicht.
Überangepasstheit bedeutet ein sich stetig erweiterndes Feld möglicher Schamsituationen. Wenn du dich immer angenehm verhalten möchtest, vermehren sich die Situationen, in denen du Scham fühlst, weil du den Blick der anderen immer mitdenkst.
Schon in der Grundschule will ich das, was vermutlich alle Kinder wollen: dazugehören und genau so sein wie die anderen. Sich kollektiven Zwängen zu verweigern, heißt, in den Konflikt mit Normen zu geraten. Du weißt, was jetzt kommt:
Zunächst erlebe ich Überforderung im Angesicht der Orientierungslosigkeit, der ich in der Schule ausgesetzt bin. Die elterliche Autorität mit klaren Regeln trifft auf ein vollkommen neues soziales Gefüge, mit anderen Regeln und Normen. Es geht in erster Linie nicht mehr so sehr um »Gehorsam« und »Aufrichtigkeit«, sondern eben um »Zugehörigkeit«, vor allem innerhalb der Peer-Group. Hier zählt Anpassung, ohne dabei unauthentisch zu wirken. Das Problem bei all diesen Begriffen wie »Zugehörigkeit«, »Norm« und »Identität« ist die Tatsache, dass sie eine sehr enge Beziehung zur Scham pflegen, die sich manchmal für diejenigen, die damit Schwierigkeiten haben, sehr schmerzhaft anfühlt.
Wo der Normverstoß ist, wo die Abweichung, das Fremde und Unbekannte lauern, da ist auch die Beschämung, die Demütigung nicht weit. Meine größte Angst? Unbeliebt zu sein, nicht gemocht zu werden. Beschämt zu werden, wieder und wieder. Das hat natürlich etwas mit einer Selbstsicherheit zu tun, die wir erst gewinnen können, wenn unser Umfeld signalisiert: Du bist in Ordnung, so wie du bist. Passiert das Gegenteil, stürzen besonders Kinder und Jugendliche oft in eine Krise. Weil sie in ihrem bisherigen Leben weniger Möglichkeiten hatten zu erfahren, was sie zu einem wertvollen Menschen macht. Ihre Identität ist unsicher, noch im Werden, und Erfahrungen, nicht gemocht oder gewollt zu sein, stecken sie zwar auf den ersten Blick oft leichter weg, nehmen daraus aber vielleicht trotzdem eine psychische Verletzung mit.15 Ein anderer bedeutender Faktor ist, dass ab dem Punkt, an dem Kinder in den Kindergarten oder zur Schule gehen, ein anderer Druck auf ihnen lastet, die Gesellschaft einen anderen Einfluss auf sie nimmt als zuvor. Und mit der Gesellschaft kommen auch Normen mit einer neuen Intensität ins Bewusstsein von Menschen. Als Bedingung für dieses Bewusstsein sieht der Soziologe Sighard Neckel die Verinnerlichung dieser Normen.16 Beschämend wirken sie erst auf uns, wenn wir diese Normen einhalten und sie so zu einem individuellen Verhaltensmaßstab erklären.17 Verkürzt könnte man also behaupten: Scham braucht den Normbruch und damit verbundene Normen, imaginierte oder real vorhandene Blicke von außen, und das Bedürfnis in uns, diesen Normen zu entsprechen. Wir werden später sehen, dass das nicht uneingeschränkt stimmt, aber fürs Erste nehmen wir’s mit.
Man könnte jetzt denken, dass Anpassung um jeden Preis ein Garant für die Vermeidung von Scham wäre. Aber: Sowohl der Normbruch kann Scham erzeugen als auch die Anpassung, gerade in der Kindheit und Jugend. Nämlich dann, wenn der Wille zur Anpassung als solcher sichtbar und von anderen erkannt wird. Wenn man es »zu sehr versucht«. Genau die Überangepasstheit stellt dann den Normbruch dar:
Vermutlich kennen wir alle Menschen, von denen wir irgendwann einmal gedacht haben, dass sie es »zu sehr wollen«, dazuzugehören. Dass sie zu aufdringlich sind in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung. Wahrscheinlich kennen wir den Gedanken, dass wir Menschen zur Individualität, zum Widerspruch herausfordern wollen. Letztendlich ist das schon in der Clique nicht anders: Von uns wird erwartet, Trends zu folgen. Gleichzeitig aber diese Trends früh genug mitzumachen, bevor sie zum Trend werden. Ab dem Moment, an dem etwas Trend ist, ist es eine Schande sich dem Zwang noch unterzuordnen. Man sei dann nicht mehr »authentisch«, was immer das ist. Du musst dich dem Kollektiv unterordnen, darfst dabei aber auf keinen Fall so wirken, als würdest du dich anbiedern, verstellen oder absichtlich so verhalten, dass du zu den anderen passt. Du sollst unangepasst angepasst sein, quasi.
In der Grundschule setze ich aber keine Trends. Ich habe nie coole Pausenbrote dabei, trage die alten Klamotten von meinen Schwestern, bin nicht überdurchschnittlich begabt in irgendetwas und außerdem eine beschissene Fängerin. Die Kinder auf dem Schulhof haben es lieber, wenn ich nicht mitspiele, und kommt es doch mal dazu, hasse ich es, die komplette Pause über in der exponierten Position der Fängerin bleiben zu müssen. Immer irgendjemandem hinterherzulaufen, den man doch nie erreicht. Die meiste Zeit verbringe ich allein, in einer Ecke des Schulhofs. Und manchmal kommt ein Junge zu mir und teilt seinen Zitronenkuchen mit mir.
Natürlich würde ich gerne mitspielen und leide darunter, dass ich nicht dazugehöre. Aber das ist damals noch keine Scham. Ich schäme mich für dieses Alleinsein kaum, weil ich noch nicht weiß, dass man dafür beschämt werden kann oder dass die anderen Mädchen mich komisch finden könnten. In diesen Momenten bin ich naiv, weil ich nicht verstehe, was die Hälfte meiner Schulzeit eigentlich passiert. Die Scham dafür kommt erst im Nachhinein.
Es gibt nicht nur die kurzfristige Scham, die direkt auf ein Ereignis folgt. Bis die Scham eine*n einholt, können Jahre vergehen. So ist es auch bei mir: Ich schäme mich damals nicht dafür, von den anderen nicht gemocht oder schlecht behandelt zu werden. Ich schäme mich nicht dafür, ausgeschlossen zu sein, meine Pausen allein zu verbringen. Ich erlebe es einfach nur und manchmal fühlt es sich unschön an. Erst Jahre später fühle ich all die Gefühle, bemerke ich all die Ängste, die ich damals nicht realisiert habe. Oder die ich vielleicht auch nur verdrängt hatte, weil ich nicht bereit war, mich damit zu beschäftigen.
Für mich ist es zunächst ein Rätsel, warum dieses Mädchen, das im Kindergarten meine beste Freundin ist, mich in der Grundschule links liegen lässt wie einen zu klein gewordenen Mantel. Ich verstehe nicht, warum manche Mädchen nicht wollen, dass ich in der Pause mitspiele. Ich verstehe nicht, warum manche Mädchen nur dann nett zu mir sind, wenn wir uns zu zweit auf dem Heimweg befinden. Auf diesem Schulhof taucht eine Figur auf, die mich zwei Drittel meiner Jugend begleiten wird: dass Leute aufrichtig gerne mit mir Zeit verbringen – wenn sie mit mir allein sind. Dass sie dabei nicht gesehen werden wollen.
Warum mich meine Familie und bestimmte Freundinnen zwar zu mögen scheinen, andere aber wiederum nicht, ist mir ein Rätsel. In meiner Welt gibt es keine unterschiedlichen Einschätzungen oder Meinungen über Personen. Es gibt nur die Möglichkeit, ein wertvoller Mensch zu sein oder eben nicht. Ich lese das an den Reaktionen auf mich ab. Die Entscheidung liegt also für mein Empfinden nie in meiner Macht, sondern sie wird für mich immer von anderen getroffen. Meine Familie hatte beschlossen, dass ich wertvoll bin. Und in der Schule habe ich gelernt, dass das Gegenteil der Fall ist.
Manche Mädchen bestimmen bereits in der Grundschule, dass ich zwar Hauptrollen im Theater spielen kann, aber eben immer die eine Person zu viel beim Fangen bin. Oder dass ich in der Gruppe der Mädchen, die man zum Geburtstag einlädt, zwar dabei bin, aber innerhalb dieser Gruppe immer eine Außenseiterinnenposition innehabe. Bis heute gehe ich auf Geburtstagsfeiern nie ohne die Angst vor unangenehmen Situationen, in denen ich irgendwie deplatziert wirken könnte. Überhaupt, das Gefühl des »Fehl am Platz«-Seins betritt hier zum ersten Mal die Bühne. Und mit ihm ein Gefühl der Duldung.
Stell es dir vor: Überall, wo du bist, bist du maximal geduldet, aber weit davon entfernt, dazuzugehören. Du kannst es dir nicht erklären, dein »Anderssein« nicht entschlüsseln. Seit Jahrhunderten denken und schreiben Menschen an genau dieser Figur herum: Dem »Anderen«, dem Anderssein. Und sie versuchen sich einen Reim darauf zu machen, weil es immer diese »Anderen« gab. Man liest davon in nahezu jeder Autobiografie. Zahllose Highschool-Filme drehen sich um diese »anderen« Figuren, Hauptrollen dieser Geschichten, die dann irgendwann als »umso wertvoller« entdeckt werden. Eigentlich alle Menschen wollen sich »anders« wissen, aber wenn man in der Position des »Anderen« ist, ist das gar nicht mehr so angenehm. Dann tut es weh. Dann kommt die Scham. Sie markiert die Grenze zwischen Norm und Abweichung. Und du bist eben die Abweichung. Letztendlich endest du auf dem Boden des Schulhofs, mit diesem einen Freund, der seinen Zitronenkuchen mit dir teilt. Der dir zuhört – vielleicht? Und du hoffst, dass die Schulzeit bald wieder vorbei ist, denn bisher ist sie nicht so, wie man es dir versprochen hatte. Bisher erweist sie sich als die anstrengendste Zeit deines Lebens, weil du dich damit