Nächte mit Bosch. Axel Hacke
Читать онлайн книгу.die irgendwo in Berlin in einem Pflegeheim lebte, weil sie den Krieg nicht ohne Geistesverwirrung überstanden hatte. Niemand wusste genau, weshalb das so war, am wenigsten ich. Aber ich saß da im Sessel und las die alten Zeitungen und sah diese rote Frau und versank in Geschichten vom Ende des Krieges in Berlin, die mir ein Lastwagenfahrer auf der Transitautobahn erzählt hatte. Die grauenhafteste dieser Geschichten handelte von einer Nazigröße in Karlshorst, weit im Osten der Stadt: Als der Krieg fast vorbei war und die Russen den Stadtteil besetzten, hätten, so erzählte der Fahrer, jener Mann und seine Frau gemeinsam Selbstmord begehen wollen – die sowjetischen Soldaten standen schon im Treppenhaus. Zuerst habe das Ehepaar aber seine fünfzehnjährige Tochter erschossen, und dann sei es plötzlich unfähig gewesen, sich selbst zu richten. So seien die beiden, verrückt vor Angst neben der sterbenden Tochter hockend, den Soldaten in die Hände gefallen.
Irgendwann in solchen Geschichten (oder waren es Träume?) zupfte mich mein Onkel am Ärmel und sagte:
»Ick zeig’ dir mal was.« (Er war kein geborener Berliner, er hatte vom Berlinischen nur dieses »Ick« übernommen, sprach sonst klares Hochdeutsch, nur dieses »Ick« benutzte er. Kein »Wat«, kein »Gar nischt«, aber »Ick«.)
Ich legte den schon in Auflösung befindlichen »Tagesspiegel« vom Januar 1956, der auf mein Gesicht gesunken war, beiseite und folgte meinem Onkel. Er öffnete den rechten Flügel der hohen Doppeltür zum Nebenzimmer, das ich vorher nie betreten hatte. Warum auch? Ich hatte es für sein Schlafzimmer gehalten. Das war es aber nicht.
Die hohen Wände dieses Raumes waren bis unter die Decke bedeckt von dunklen Holzregalen, in denen dicht gepackt und gestapelt längliche, einzeln in Zeitungspapier gewickelte Gegenstände lagen, teilweise so lang, dass sie über die Regalbretter hinaus in den Raum ragten. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer, niedriger Eichentisch, vielleicht zwei mal vier Meter groß. Um diesen Tisch herum standen auf dem Boden Hunderte von roten Säckchen, solche, in denen normalerweise Orangen abgepackt werden, weiche Plastiknetze, die man mit einem Griff zerreißen kann, um an die Orangen heranzukommen.
Diese Säckchen waren nicht zerrissen, aber es waren auch keine Orangen mehr darin. Sie alle enthielten Buchstaben, fingerlange, schwere, gusseiserne Buchstaben, jeder so dick wie ein Leibniz-Keks. Auf dem Tisch sah ich, zwei Meter hoch, ein silbern glänzendes Ungetüm, das die gesamte Tischfläche in Anspruch nahm. Zwischen den massiven, schweren Metallstreben, die es oben und unten sowie an den Seiten begrenzten und die zu einem Kubus verschraubt waren, hingen dicke und weniger dicke, gerade und leicht gebogene Röhren, ein verzweigtes Labyrinth, dessen Eingang offenbar ein großer Plastiktrichter war, der oben auf dem Apparat in einer offenen Röhre steckte, und dessen Ausgang ich in einem armdicken, geriffelten Kunststoffschlauch vermutete. Er endete in einem weiß emaillierten Eimer auf der linken Seite des Tisches.
»Pass auf!«, sagte mein Onkel Oskar. Er griff sich eines der Säckchen auf dem Boden, schnürte es mit geübten Bewegungen sorgfältig auf, kletterte auf eine kleine Trittleiter neben dem Tisch und schüttete alle Buchstaben in den Trichter. Die Maschine begann sofort, ohne dass mein Onkel einen Schalter berührt hätte, im surrenden Ton einer Kaffeemühle zu arbeiten. Das dauerte ungefähr eine Minute. Dann ertönte aus dem Eimer neben dem Tisch ein hohles »Klock«, darauf mehrere Male, leiser und nicht ganz so hohl, ein »Klack«. Mein Onkel bückte sich und griff in den Eimer. Er hatte mehrere Buchstaben in der Hand, die zu einer Folge verschweißt waren.
»Virkkuukoukku«, stand da. Ich sah erst das Wort, dann meinen Onkel fragend an.
»Das heißt ›Häkelnadel‹. Ich hab’ sie noch auf Finnisch eingestellt«, sagte mein Onkel. Er nahm ein zweites Säckchen und schüttete den Inhalt wieder in den Trichter. Ich sah, dass im Eimer lauter einzelne Buchstaben lagen, die der Apparat für »Virkkuukoukku« nicht gebraucht hatte. Er arbeitete schon wieder, schnurrte, surrte, summte – klock, klackklackklack . . .
»Lätäkkö.«
Mein Onkel schüttelten den Kopf. »Pfütze«, sagte er. Noch ein Säckchen.
»Kansallisuustunnus.«
»Nationalitätenkennzeichen«, sagte mein Onkel. »Komische Worte macht sie heute. Was soll das?«
Noch ein Säckchen.
»Denkt sie sich die Worte selbst aus?«, fragte ich.
»Ja«, sagte mein Onkel Oskar, »und immer nur einzelne Worte. Ick sammle sie und lege sie ins Regal.« Er nahm Virkkuukoukku, Lätäkkö und Kansallisuustunnus und wickelte sie einzeln in Zeitungspapier.
»Hast du das gebaut?«, fragte ich.
»Fünfzehn Jahre lang.« Er seufzte. »Meine Buchstabiermaschine. Sie macht aus Buchstaben Worte, und ick will aus den Worten irgendwann mal eine Geschichte machen. Weiß nicht, ob ick das noch schaffe. Ein finnisches Märchen vielleicht. Aber ick habe ja keinen Einfluss darauf, welche Worte sie macht.« Er sah nachdenklich seine Regale an. »Sie passen nicht zueinander. Häkelnadel, Pfütze und Nationalitätenkennzeichen – wie soll man daraus ein Märchen machen? Das reicht ja nicht mal für ein modernes Gedicht.«
Klock – klackklackklack . . .
»Tyytymättömyys.«
»Unzufriedenheit«, sagte mein Onkel. »Merkwürdig, trifft genau das, was ick gesagt habe. Es klingt so schön: Tyytymättömyys. Und sieht schön aus. Finnisch klingt schön und sieht noch besser aus.«
Ich hatte noch nie erlebt, dass er so viel redete. Aus der linken Tasche seines Kittels fingerte er einen kleinen Schraubenzieher. »Ick stell sie jetzt mal auf Ungarisch um.« Er kroch mit dem Oberkörper halb in den Apparat hinein, bog sich unter Röhren hindurch und drehte an Schrauben, die ich nicht sehen konnte. Als er wieder neben mir stand, nahm er ein Säckchen von einer anderen Ecke unter dem Tisch und schüttete den Inhalt wieder in den Trichter. »Für Ungarisch kann man fast dasselbe Buchstabensortiment nehmen«, sagte er.
»Und warum ausgerechnet Ungarisch?«, fragte ich. Dass er Finnisch konnte, hatte ich gewusst. Er hatte dort nach dem Krieg viele Jahre gelebt, wenn auch niemand wusste, wie und wovon. »Hat sich durchgeschlagen, als Holzfäller wahrscheinlich«, mutmaßte mein Vater immer.
Klock – klackklackklack . . .
»Wahnsinn«, flüsterte ich. Mein Onkel zog einen armlangen Begriff aus dem Eimer.
»Pénzbedobós távbeszélökészülék.«
Wir standen stumm da und betrachteten die Worte. »Es heißt ›Münzfernsprecher‹«, flüsterte mein Onkel. »Verstehst du jetzt? Nur das Ungarische hat solche Begriffe. Und das Walisische natürlich. Aber walisische Worte passen nicht mehr durch die Windungen der Röhren, so lang sind sie. Dafür müsste die Maschine doppelt so groß sein oder die Buchstaben kleiner.«
Er schüttete Säckchen auf Säckchen in den Trichter.
»Öblök.«
»Die Buchten«, sagte mein Onkel.
»Öklök.«
»Die Fäuste.«
»Ötvösök.«
»Die Goldschmiede. Sie macht nur noch Pluralformen«, sagte mein Onkel. »bloß noch Plurale. Weiß der Himmel, warum! Ick hätte gern eine Geschichte über die Einsamkeit einer alten Frau mitten in Budapest gemacht. Was soll ick mit dem ganzen Pluralzeugs?«
»Ördögök.«
»Die Teufel.« Irgendwo in der Maschine knirschte es, und ein rotes Lämpchen begann zu blinken. Mein Onkel griff hastig nach einem Säckchen, das unter dem Tisch lag. »Das kommt davon«, schimpfte er, »natürlich sind zu wenig Umlaute in dem Säckchen. Wenn sie aber auch nur noch Plurale macht, immer -ök, -ök hinten dran an die Worte, da reichen natürlich die Umlaute nicht.« Er schüttete einen ganzen Haufen Ös in den Trichter. Das Knirschen hörte auf, das Lämpchen erlosch. Der Geruch von heißem Metall hing in der Luft.
»Örület!«, murmelte ich. Mein Onkel schaute mich verwundert an.
»Kannst du Ungarisch?«, fragte er.
»Nein