Das Tal der Angst. Sir Arthur Conan Doyle
Читать онлайн книгу.am besten kannten, den Eindruck, dass die beiden einander nicht uneingeschränkt vertrauten, denn die Dame war entweder äußerst zugeknöpft in allem, was das Vorleben ihres Mannes betraf, oder, was wahrscheinlicher schien, sie war darüber nur unvollkommen informiert. Auch entging es nicht der Aufmerksamkeit der Beobachter, dass Mrs Douglas zuweilen Anzeichen nervöser Angst zeigte und dass sie auffällig unruhig wurde, wenn ihr Ehemann abends einmal ungewöhnlich spät heimkehrte. In der Ereignislosigkeit des Landlebens, wo jede Art von Klatsch als Gesprächsstoff willkommen ist, gab diese schwache Seite der Hausherrin von Birlstone Manor House natürlich Anlass zu Gerede und kritischen Bemerkungen, und sie wurde in den Augen der Leute noch bemerkenswerter, als die tragischen Ereignisse eintraten, welche ihr besondere Bedeutung verliehen.
Um jene Zeit lebte unter dem Dach des Herrenhauses noch eine dritte Person, die sich allerdings nur zeitweilig dort aufhielt, deren Anwesenheit zur Zeit der sensationellen Ereignisse, von denen gleich berichtet werden wird, sie aber ins grelle Licht der Öffentlichkeit rückte. Das war Cecil James Barker von Hales Lodge in Hampstead. Seine hohe, schlaksige Gestalt war in der Hauptstraße des Dorfes Birlstone ein gewohnter Anblick, denn er war ein häufiger und gern gesehener Gast im Herrenhaus. Das war umso auffälliger, als er offenbar der einzige Freund aus der dunklen Vergangenheit von Mr Douglas war, der sich je an dessen englischem Wohnort blicken ließ. Barker war zweifellos ein Engländer, doch aus seinen Bemerkungen ging eindeutig hervor, dass er Douglas in Amerika kennengelernt hatte und dass die beiden dort auf vertrautem Fuß miteinander gestanden hatten. Er schien ein sehr wohlhabender Mann zu sein und war, so weit man wusste, Junggeselle. Im Alter stand er Douglas um einige Jahre nach, er war höchstens Mitte vierzig. Er war ein großer, breitschultriger Mann mit aufrechter Haltung und dem glattrasierten Gesicht eines Preisboxers, mit kräftigen schwarzen Augenbrauen und einem Paar gebieterischer schwarzer Augen, die allein ausgereicht hätten, sich den Weg durch eine feindselige Menge zu bahnen, ganz ohne Hilfe seiner kräftigen Fäuste. Er unternahm weder Ausritte noch Jagdausflüge, sondern brachte seine Tage damit zu, mit der Pfeife im Mund durch das alte Dorf zu schlendern oder mit seinem Gastgeber – oder auch mit der Gastgeberin, falls jener abwesend war – in der schönen ländlichen Umgebung spazieren zu fahren. »Ein unkomplizierter, freigebiger Gentleman«, meinte Ames, der Butler. »Aber auf mein Wort, ich möchte nicht der Mann sein, der ihm in die Quere kommt.« Barker pflegte eine herzliche, vertraute Freundschaft mit Douglas, und nicht weniger mit dessen Ehefrau, eine Freundschaft, die mehr als einmal für mächtigen Ärger sorgte, sodass sogar die Dienstboten bemerkten, wie wenig sie dem Ehemann gefiel. Dies war also die dritte Person in dem kleinen Familienkreis, der zum Zeitpunkt der Katastrophe in dem alten Herrenhaus lebte. Was die anderen Bewohner des Hauses angeht, mag es genügen, unter der zahlreichen Dienerschaft, die ein großer Haushalt erfordert, den korrekten, ehrbaren und tüchtigen Butler Ames zu erwähnen sowie die Haushälterin Mrs Allen, eine dralle, muntere Person, die der Dame des Hauses bei ihren häuslichen Pflichten zur Seite stand. Die anderen sechs Bediensteten spielten bei den Ereignissen in der Nacht des 6. Januar keine Rolle.
Eine Viertelstunde vor Mitternacht war der erste Alarm bei der kleinen örtlichen Polizeiwache eingegangen, welcher Sergeant Wilson von der Sussex-Polizei vorstand. Mr Cecil Barker war in höchster Aufregung vor der Wache erschienen und hatte wie wild die Glocke gezogen. Im Herrenhaus habe es eine schreckliche Tragödie gegeben: Mr John Douglas sei ermordet worden. Das war der Kern der atemlos hervorgestoßenen Botschaft. Barker war dann wieder zum Herrenhaus zurückgelaufen, gefolgt von Sergeant Wilson, der kurz nach Mitternacht am Tatort eintraf, nachdem er zuerst seine vorgesetzte Grafschaftsbehörde benachrichtigt hatte, dass es einen ernsten Vorfall gegeben habe.
Beim Herrenhaus fand der Sergeant die Zugbrücke heruntergelassen, die Fenster erleuchtet und den ganzen Haushalt in einem Zustand wilder Aufregung. In der Eingangshalle drängten sich die schreckensbleichen Dienstboten, und der verängstigte Butler stand händeringend im Torweg. Nur Cecil Barker schien Herr seiner selbst und seiner Emotionen zu sein. Er öffnete eine nahe beim Eingangstor gelegene Zimmertür und winkte dem Sergeant, ihm zu folgen. In diesem Moment traf auch Dr Wood ein, der Dorfarzt, ein energischer und zupackender Mann. Die drei Männer betraten gemeinsam das Mordzimmer, und der von Grauen geschüttelte Butler folgte ihnen auf den Fersen und schloss die Tür hinter sich, um den Dienstmädchen den Anblick der schrecklichen Szene zu ersparen.
Der Tote lag in der Mitte des Zimmers auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt. Er war mit einem blassroten Hausmantel bekleidet, darunter trug er ein Nachthemd. Die bloßen Füße steckten in Pantoffeln. Der Arzt kniete neben der Leiche nieder und richtete eine Lampe darauf, die auf dem Tisch gestanden hatte. Ein einziger Blick auf das Opfer zeigte, dass jede ärztliche Mühe vergebens war. Der Mann war entsetzlich entstellt. Quer über seiner Brust lag eine eigenartige Waffe, eine doppelläufige Schrotflinte, deren Läufe etwa 30 cm vor den Abzügen abgesägt worden waren. Die Waffe war eindeutig aus nächster Nähe abgefeuert worden, und das Opfer hatte die volle Ladung ins Gesicht bekommen, wodurch der Schädel förmlich zertrümmert worden war. Die beiden Abzüge waren mit Draht zusammengebunden, um beide Läufe gleichzeitig abfeuern zu können und damit eine noch verheerendere Wirkung zu erzielen.
Der Dorfpolizist war unsicher und verwirrt angesichts der großen Verantwortung, die plötzlich auf seinen Schultern lag.
»Wir dürfen nichts anrühren, bis meine Vorgesetzten hier sind«, sagte er heiser, während er voller Grauen auf den entsetzlich verstümmelten Kopf des Toten starrte.
»Bis jetzt ist nichts angerührt worden«, sagte Cecil Barker. »Dafür stehe ich ein. Alles ist haargenau so, wie ich es vorgefunden habe.«
»Um welche Uhrzeit war das?« Der Sergeant hatte sein Notizbuch gezückt.
»Halb zwölf. Ich war noch angezogen und saß in meinem Schlafzimmer vor dem Kamin, als ich einen Schuss hörte. Er war nicht sehr laut, eher gedämpft. Ich rannte die Treppe hinunter. Ich glaube, es hat keine dreißig Sekunden gedauert, bis ich hier war.«
»Stand die Tür offen?«
»Ja, sie war offen. Der arme Douglas lag so da, wie Sie ihn jetzt sehen. Sein Schlafzimmerleuchter mit einer brennenden Kerze stand auf dem Tisch. Ich war es, der die Tischlampe angezündet hat.«
»Haben Sie niemanden gesehen?«
»Nein. Ich habe gehört, wie Mrs Douglas ebenfalls die Treppe herunterkam, und bin ihr entgegengelaufen, um ihr diesen schrecklichen Anblick zu ersparen. Dann kam Mrs Allen dazu, die Haushälterin, und führte sie weg. Auch Ames war unterdessen gekommen, und wir sind zusammen wieder in das Zimmer gegangen.«
»Ich habe gehört, dass die Zugbrücke die ganze Nacht über hochgezogen bleibt.«
»Ja, sie war hochgezogen. Ich habe sie heruntergelassen.«
»Aber wie hätte der Mörder dann entkommen können? Das ist doch ganz unmöglich. Mr Douglas muss sich selbst erschossen haben.«
»Das war auch unser erster Gedanke. Aber schauen Sie!« Barker zog den Vorhang beiseite. Das große Fenster mit den Bleiglasscheiben stand weit offen. »Sehen Sie sich das hier an!« Er hielt die Lampe tiefer und wies auf einen Blutfleck auf der niedrigen Fensterbank – den Abdruck einer Fußsohle. »Das hat jemand hinterlassen, der hier durch das Fenster gestiegen ist.«
»Sie meinen, jemand ist durch den Wassergraben gewatet?«
»Genau.«
»Aber wenn Sie innerhalb einer halben Minute nach der Tat hier im Zimmer waren, muss der Mörder zu dieser Zeit im Graben gewesen sein.«
»Ganz bestimmt. Himmel und Hölle! Ich wünschte, ich wäre zum Fenster gerannt. Aber es war ja durch den Vorhang verdeckt, wie Sie sehen, da ist mir das nicht in den Sinn gekommen. Dann habe ich Mrs Douglas’ Schritte gehört, und ich musste verhindern, dass sie hier hereinkam. Es wäre zu grauenhaft für sie gewesen.«
»Grauenhaft ist nicht zu viel gesagt«, bemerkte der Doktor mit einem Blick auf den zerschmetterten Kopf und die grässlichen Spuren ringsum. »Seit dem Eisenbahnunglück in Birlstone damals habe ich keine so fürchterlichen Verletzungen gesehen.«
»Aber sagen Sie mir bitte«, bemerkte der Polizeibeamte, dessen ländlich-behäbiger Verstand immer noch mit dem