Das Tal der Angst. Sir Arthur Conan Doyle
Читать онлайн книгу.Sie übrigens im Westville Arms untergebracht. Ein anderes Gasthaus gibt es hier nicht, aber ich habe gehört, es ist sauber und ordentlich. Dieser Mann kümmert sich um Ihr Gepäck. Hier entlang, Gentlemen, wenn ich bitten darf.«
Ein kompetenter und umgänglicher Mann war er, dieser Inspektor aus Sussex. Zehn Minuten später hatten wir unser Quartier bezogen, und weitere zehn Minuten später saßen wir im Privatsalon des Gasthauses beisammen und bekamen eine knappe Schilderung der Ereignisse serviert, so wie ich sie im vorigen Kapitel in groben Zügen beschrieben habe. MacDonald machte sich gelegentlich eine Notiz, während Holmes ruhig und konzentriert dasaß. Sein Gesicht drückte Faszination und andächtige Bewunderung aus, wie das eines Botanikers angesichts einer seltenen und kostbaren Blüte.
»Interessant!« sagte er, als der Bericht zu Ende war. »Höchst interessant! Ich kann mich kaum an einen eigentümlicheren Fall erinnern.«
»Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden, Mr Holmes«, sagte White Mason erfreut. »Wir sind hier in Sussex ganz auf der Höhe der Zeit. Jetzt habe ich Ihnen erzählt, wie ich die Sache vorgefunden habe, als ich sie zwischen drei und vier Uhr morgens von Sergeant Wilson übernommen habe. Donnerwetter, was hab ich die alte Mähre laufen lassen! Und dann hat sich herausgestellt, dass diese Eile gar nicht nötig war, denn es gab nichts, was ich sofort hätte tun müssen. Sergeant Wilson hatte alle Fakten beisammen. Ich bin sie durchgegangen, habe alles überdacht und vielleicht noch um ein paar Kleinigkeiten ergänzt.«
»Und die wären?« fragte Holmes gespannt.
»Zuerst habe ich mir den Hammer genau angesehen, zusammen mit Dr Wood. Aber wir haben nicht den geringsten Hinweis gefunden, dass er als Waffe benutzt worden ist. Ich hatte gehofft, dass Mr Douglas, falls er sich mit dem Hammer verteidigt hat, dem Mörder vielleicht noch eins damit verpasst hat, bevor er ihn auf den Teppich fallen ließ. Aber da ist keine Blutspur dran.«
»Das beweist natürlich gar nichts«, warf Inspektor MacDonald ein. »Es gibt jede Menge Hammer-Morde ohne Spuren an dem Ding.«
»Allerdings, es beweist nicht, dass der Hammer nicht benutzt worden ist. Aber es hätten ja Spuren dran sein können, und die wären ein wichtiges Indiz gewesen. Doch es gibt keine. Dann habe ich mir die Flinte vorgenommen. Die Patronen enthielten Rehposten und, worauf schon Sergeant Wilson hingewiesen hat, die Abzüge sind mit Draht zusammengebunden, sodass beide Läufe gleichzeitig abgefeuert werden, wenn der hintere Abzug betätigt wird. Wer auch immer das bewerkstelligt hat – er wollte sichergehen und seinem Opfer keine Chance lassen. Die abgesägte Flinte ist nur etwa sechzig Zentimeter lang; man kann sie problemlos unter dem Mantel verstecken. Der Name des Büchsenmachers ist leider nicht zu entziffern. Nur die Buchstaben P E N sind zwischen den beiden Läufen zu erkennen, der Rest ist abgesägt.«
»Ein großes P mit einem Schnörkel darüber, und das E und N etwas kleiner?« fragte Holmes.
»Ja, genau so.«
»Pennsylvania Small Arms Company – eine bekannte amerikanische Firma«, sagte Holmes.
White Mason starrte meinen Freund an wie ein bescheidener Dorfarzt einen Spezialisten aus der Harley Street, der mit einem einzigen Wort Schwierigkeiten löst, die Ersterem unüberwindlich erscheinen.
»Das ist äußerst hilfreich, Mr Holmes. Zweifellos haben Sie Recht. Großartig – ganz großartig! Sagen Sie, haben Sie die Namen aller Waffenfabrikanten der Welt im Kopf?«
Holmes tat das Thema mit einer Handbewegung ab.
»Auf alle Fälle ist das ein amerikanisches Gewehr«, fuhr White Mason fort. »Ich glaube gelesen zu haben, dass abgesägte Schrotflinten in einigen Teilen Amerikas recht beliebt sind. Darauf war ich auch schon gekommen, unabhängig vom Namen auf dem Lauf. Wir können also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der Mann, der ins Haus eingedrungen ist und den Hausherrn ermordet hat, Amerikaner ist.«
MacDonald schüttelte den Kopf. »Mein lieber Mann, jetzt gehen Ihnen aber die Pferde durch«, sagte er. »Wir haben doch noch gar keinen Beweis, dass überhaupt jemand ins Haus eingedrungen ist.«
»Das offene Fenster, die Blutspur auf der Fensterbank, das rätselhafte Kärtchen, die Stiefelabdrücke in der Ecke, die Schrotflinte.«
»Das ist nichts, was nicht auch hätte arrangiert werden können. Mr Douglas war Amerikaner, oder jedenfalls hat er lange in Amerika gelebt. Ebenso Mr Barker. Man braucht sich keinen Fremden aus Amerika auszudenken, um Amerikanisches im Haus zu erklären.«
»Ames, der Butler –«
»Was ist eigentlich mit ihm? Ist er vertrauenswürdig?«
»Er war zehn Jahre Butler bei Sir Charles Chandos – die Rechtschaffenheit in Person. Bei Douglas war er bedienstet, seit dieser Birlstone Manor House übernommen hat, also seit fünf Jahren. Er sagt, er hätte im Haus niemals so eine Flinte gesehen.«
»Sie sollte ja auch nicht gesehen werden. Eben deshalb wurden die Läufe abgesägt. Sie passt in jede größere Schachtel. Wie kann er da beschwören, dass keine solche Waffe im Haus war?«
»Na gut, jedenfalls hat er keine gesehen.«
MacDonald schüttelte seinen obstinaten schottischen Schädel. »Ich bin keineswegs sicher, dass überhaupt jemand von außen ins Haus eingedrungen ist«, sagte er. »Denken Sie doch mal nach!« Sein Aberdeen-Akzent trat stärker hervor, während er seine Argumente darlegte. »Überlegen Sie doch mal, wohin das führt, wenn man davon ausgeht, dass jemand von außerhalb diese Flinte ins Haus geschmuggelt und all diese merkwürdigen Sachen angestellt hat. O, Mann – das ist geradezu unmöglich! Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Ich möchte Sie fragen, Mr Holmes, was ist Ihre Meinung, nach allem, was wir bisher wissen?«
»Bitte legen Sie uns erst Ihre Sicht des Falles dar, Mr Mac«, sagte Holmes so amtlich wie möglich.
»Dieser Mann – vorausgesetzt, es gibt ihn überhaupt – ist kein simpler Einbrecher. Die Sache mit dem Ring und das komische Kärtchen deuten auf persönliche Motive hin. So weit, so gut. Denken wir uns einen Mann, der sich ins Haus schleicht mit dem Vorsatz, jemanden umzubringen. Ihm ist klar, wenn ihm überhaupt etwas klar ist, dass es schwierig sein wird, ungesehen zu entkommen, denn das Haus ist ringsum von Wasser umgeben. Was für eine Waffe würde er wählen? Ich würde sagen, die leiseste, die es gibt. Nur dann konnte er hoffen, nach getaner Tat aus dem Fenster zu schlüpfen, durch den Graben zu waten und sich in aller Ruhe davonzumachen. Das wäre einleuchtend. Aber ist es einleuchtend, dass er so verrückt ist, die lauteste Waffe mitzubringen, die er finden kann, obwohl er genau weiß, dass er damit die Hausbewohner alarmiert und alle zusammenlaufen würden, um zu sehen, was los ist, und dass es hundert zu eins steht, dass jemand ihn sieht, bevor er durch den Wassergraben durch ist? Halten Sie das für glaubhaft, Mr Holmes?«
»Sie haben Ihre Sichtweise überzeugend dargelegt«, antwortete mein Freund nachdenklich. »Ganz bestimmt besteht da großer Erklärungsbedarf. Ich möchte Sie fragen, Mr White Mason: Haben Sie die Außenseite des Grabens unverzüglich auf Spuren untersucht, die zeigen, dass dort jemand aus dem Wasser gestiegen ist?«
»Es gibt keine Spuren, Mr Holmes. Die Einfassung ist aus Stein, da kann man keine Spuren erwarten.«
»Keine Fußabdrücke oder sonstigen Hinweise?«
»Gar keine.«
»Aha! Spricht irgendetwas dagegen, Mr White Mason, wenn wir jetzt zum Herrenhaus gehen? Es könnte trotz allem noch die eine oder andere winzige Spur vorhanden sein, die von Bedeutung ist.«
»Das wollte ich gerade vorschlagen, Mr Holmes, aber ich hielt es für wichtig, Sie erst mit den Fakten vertraut zu machen. Ich darf doch davon ausgehen, wenn Sie irgendetwas finden sollten …« White Mason blickte seinen Amateurkollegen skeptisch fragend an.
»Ich habe mit Mr Holmes schon früher zusammengearbeitet«, beantwortete Inspektor MacDonald die unausgesprochene Frage. »Er hält sich an die Spielregeln.«
»Zumindest an meine Vorstellung der Spielregeln«, sagte Holmes lächelnd. »Wenn ich einen Fall untersuche, geschieht es mit dem Ziel, der Gerechtigkeit zum Sieg zu